Ein Hoch auf die Störenfriede!
Wer heute aus dem Mainstream ausschert, hat einen schweren Stand. Dabei waren es immer schon Störenfriede und Exzentriker, die mit dominanten Weltbildern brachen und später verehrt wurden.
Störungen mag niemand. Ob Funklöcher, Streckenunterbrechungen oder Staatsverweigerer – sie sollen verschwinden, und zwar rasch. Doch gehören Störmomente nicht zum Leben dazu, ja haben nicht gerade Störenfriede die Gesellschaft immer wieder produktiv vorangebracht? Denken wir an Galileo Galilei, Rosa Parks, Elvis Presley oder Mahatma Gandhi – sie alle streuten Sand ins Getriebe, brachen mit bisherigen Idealen und hinterfragten vorherrschende Weltbilder radikal. Heute werden sie für ihren Mut und Einfallsreichtum gefeiert.
Mehr Standpunkte
Dass Fortschritt selten reibungslos vonstattengeht, hat seinen Grund nicht zuletzt darin, dass wir so ungern in unseren Meinungen gestört werden. Viel lieber trotten wir wie die Schafe einer Herde gedankenlos mit und unterjochen uns der „Tyrannei des vorherrschenden Meinens und Empfindens“. So zumindest die Analyse des britischen Philosophen und Ökonomen John Stuart Mill, eines der zentralen Ideengeber des politischen Liberalismus.
Auch wenn wir damals wie heute nicht wie in China einem „social credit score“ unterworfen werden, sind viele besessen davon, zu vergleichen, zu bewerten und einander im schlimmsten Fall den Mund zu verbieten. Wer ausschert aus der Herde, hat deshalb einen schweren Stand. „Dass so wenige wagen, exzentrisch zu sein, enthüllt die hauptsächliche Gefahr unserer Zeit“, diagnostizierte Mill.
Denn damit werde der Geist „selbst ins Joch gebeugt“. Und dies zum gravierenden Nachteil von uns allen. In seiner Schrift Über die Freiheit von 1859 zeigt Mill mit scharfer Feder, warum wir als Gesellschaft auf Pluralismus und damit auch auf Störenfriede und Exzentriker angewiesen sind.
Es irrt der Mensch, solang er lebt
Der erste Grund liegt darin, dass wir Menschen in unserem Urteil immer fehlbar bleiben. Wir können deshalb nie abschließend sicher sein, dass jene, die wir im Unrecht wähnen, auch wirklich irren. Durch epistemische Tugenden wie Scharfsinn, Vorurteilsfreiheit und Sorgfalt verringern wir zwar unser Risiko, falschzuliegen. Eine endgültige Wahrheitsgarantie kann jedoch niemand vorlegen. Das heißt nicht, dass jede Meinung gleichermaßen zählt. Es heißt nur, dass wir für unsere Ansichten überzeugende Gründe angeben müssen.
Erst einmal gilt es also, jede Meinung anzuhören. Zumal der diskursive Streit uns auch dann weiterbringt, wenn wir im Recht sind. Dies ist Mills zweiter Beweggrund, ein Loblied auf die Exzentriker anzustimmen: Nur wer beständig die eigenen argumentativen Waffen wetzt, vermag im Denken geschmeidig zu bleiben.
Das gilt nicht nur für uns als Einzelne, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes. Informationen und Meinungen konkurrieren in Mills Ideal auf einem freien Markt der Ideen, auf dem sich die Wahrheit immer wieder neu bewähren muss, um schließlich gestärkt als Siegerin hervorzugehen.
Die Tyrannei der Mehrheit ist zur Tyrannei einer finanzstarken Minderheit mutiert.
Zugegeben: Ganz so einfach war es wohl nie und ist es insbesondere heute nicht mehr. Angesichts von blanken Lügen und Deepfakes, die sich rasend schnell im Netz verbreiten, ist mehr als fraglich, ob der Markt der Ideen wirklich der Wahrheitsfindung dienen kann. Personalisierte Algorithmen und gezielte Fehlinformation verzerren diesen Markt bis zur Unkenntlichkeit. Mills Postulat der Meinungsäußerungsfreiheit wird damit nicht obsolet. Aber seine Tyrannei der Mehrheit ist in der heutigen Medienlandschaft mehr und mehr zu einer Tyrannei einer finanzstarken Minderheit mutiert, die nicht nur unsere Daten abschöpft, sondern den freien Austausch von Ideen sabotiert. Das muss uns gerade im Sinne der freien Rede mehr als beunruhigen.
Populisten sorgen für Turbulenzen
Eine zweite Frage drängt sich auf, wenn wir in heutiger Zeit das Hohelied auf die Exzentriker anstimmen: Kranken unsere Gesellschaften wirklich an einem Mangel an Störenfrieden? Oder leiden sie nicht eher an zu vielen Turbulenzen, in die Welt getragen von radikalisierten Fundamentalisten und egozentrischen Populisten, die nichts lieber wollen, als ohne Rücksicht auf Verluste das sogenannte „Establishment“ zu stürzen?
Um eine befriedigende Antwort zu finden, gilt es zu differenzieren zwischen produktivem und destruktivem Stören. Als Thomas Hobbes in seinem „Leviathan“ von 1647 den Störenfried einführte, hatte er dessen Destruktivität im Visier. Hobbes’ politische Theorie beruht darauf, eine Ordnung zu errichten, die aus einer freien und vernünftigen Entscheidung der betroffenen Personen hervorgeht. Die einzelnen Subjekte treten gewisse Rechte an den Staat ab und unterwerfen sich freiwillig seinen Regeln, weil sie eingesehen haben, dass das zu aller Gunsten ist. Hobbes’ „puer robustus“, wie er den Störenfried nennt, spielt dieses Spiel nicht mit, sondern torpediert die etablierte Ordnung, wo er nur kann. Für Hobbes ein Albtraum – denn hält die Ordnung nicht allen Regeln der Vernunft stand und gehört infolgedessen geschützt?
Demokratie muss sich stets erneuern
Freilich. Und dennoch müssen die Regeln einer jeden Ordnung immer wieder neu ausgehandelt werden. Das gilt erst recht für eine Demokratie. Eine Ordnung, die sich unter keinen Umständen stören lassen will, ist sicher keine demokratische.
Für die Frage, ob der Störenfried ein destruktiver Querulant oder ein produktiver Exzentriker ist, ist entscheidend, ob er Mills Tugenden auch von sich selbst einfordert. Mit der Produktivität des Störenfrieds ist es nämlich schnell zu Ende, wenn er beginnt, sich in seiner hermetischen Welt der Vorurteile einzurichten, Heilslehren zu verbreiten und Verschwörungen als Wahrheiten zu verkaufen. Was für die gute Ordnung gilt, gilt genauso für die Vorschläge des Exzentrikers: Sie müssen sich bewähren auf dem freien Markt der Ideen. Letztlich muss also auch der Störenfried, will er für die Freiheit antreten, bereit sein, sich stören zu lassen.
Denn wo die Störung weder Kritik aushält noch Kompromisse zulässt, ist sie nicht länger Störung, sondern gerinnt zur Ideologie, die nichts mehr hasst, als in Frage gestellt zu werden. Sie ist nicht länger produktiv, sondern nur noch destruktiv.
Das Philosophicum Lech, dessen Co-Intendantin die Autorin ist, steht heuer (17. bis 22. September) unter dem Motto „Sand im Getriebe“. Anmeldung unter: philosophicum.com