Bildungssystem: Containerklassen-Politik
Österreichs Bildungssystem ist überfordert. Es kann die Folgen der Zuwanderung von Geflüchteten kaum bewältigen, weil es dafür sowohl an Geld als auch an Flexibilität fehlt.
Die Zahlen sind bekannt: 2022 und 2023 kamen fast 100.000 Kriegsvertriebene aus der Ukraine nach Österreich. Von ihnen blieben 83.000 im Land – darunter 40 Prozent Kinder und Jugendliche. Zugleich erhielten seit 2015 rund 152.000 Personen Asyl oder subsidiären Schutz. Unter ihnen waren vor allem jüngere Männer aus Syrien, Afghanistan und dem Irak, in jüngerer Zeit auch aus der Türkei.
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Nach einem positiven Abschluss des Asylverfahrens dürfen anerkannte Flüchtlinge ihre Ehefrauen und Kinder sofort nachholen. Wer nur subsidiären Schutz erhält, muss drei Jahre darauf warten. Seit einiger Zeit wandern daher Monat für Monat rund 500 minderjährige Syrer mit ihren Müttern in Österreich ein. Die meisten lassen sich in Wien nieder, weil ihre asylberechtigten Väter inzwischen in großer Zahl in der Bundeshauptstadt leben.
All diese Kinder und Jugendlichen müssen in Kindergärten und Schulen integriert werden, obwohl diese schon seit geraumer Zeit Probleme haben, Kinder mit Migrationshintergrund auf dem Bildungsweg mitzunehmen. Schon vor der jüngsten Fluchtzuwanderung hatten viele Jugendliche mit Migrationshintergrund erhebliche Bildungsdefizite und damit einen klaren Startnachteil beim Eintritt in das Erwerbsleben. Das zeigen Kompetenztests bei 14-Jährigen aus den Jahren vor Ausbruch der Covid-19-Epidemie.
Die Ursachen dafür liegen auf der Hand, haben aber mit Zuwanderung nur indirekt zu tun. Das österreichische Bildungssystem ist nicht darauf ausgerichtet, Begabungen gezielt zu fördern. Und es verfolgt auch nicht explizit das Ziel, Nachteile der Herkunft – wie beispielsweise geringes Einkommen, bildungsferne Eltern oder das Aufwachsen mit einer alleinerziehenden Mutter – gezielt zu kompensieren.
Auf die Hilfe der Eltern angewiesen
In der Mehrzahl der Schulen wird vorwiegend am Vormittag unterrichtet. Kinder haben außerhalb ihrer Schulstunden kaum Kontakt zum Lehrpersonal. Wenn sie etwas nicht verstehen, können sie oft nicht nachfragen. Sprechstunden für Schüler sind in unserem Schulsystem nicht vorgesehen. Auch deshalb sind Heranwachsende in hohem Maß auf die Unterstützung ihrer Eltern und anderer Verwandter oder sonstiger hilfreicher Personen angewiesen. Dazu gehört auch kostenlose oder bezahlte Nachhilfe. Viele zugewanderte Eltern können sich Letztere in der Regel jedoch nicht leisten.
In den Familien der zugewanderten Kinder wird daheim überwiegend nicht Deutsch gesprochen.
Bei Kindern von Zugewanderten kommen weitere Risikofaktoren hinzu: In ihren Familien wird daheim und im Alltag überwiegend nicht Deutsch gesprochen. Sehr viele dieser Kinder haben somit Eltern, die den Lernstoff weder mit ihnen mit lernen noch abprüfen können. Zugleich fehlt den Eltern in der Regel das Wissen und mangels Sprachkenntnis oft auch die Möglichkeit, mit Schule und Lehrkräften zu kommunizieren. Das erhöht das Risiko falscher strategischer Entscheidungen bei Schulwahl und Ausbildungsart.
Quereinstieg vergrößert das Problem
Aktuell verschlimmert sich die Situation: Viele der Kinder, die nun im Rahmen der Familienzusammenführung nach Österreich kommen, haben in den letzten Jahren gar keine Schule besucht. Das heißt, sie können oft auch in ihrer Muttersprache weder lesen noch schreiben. Und die Kinder und Jugendlichen steigen überdies mitten im Schuljahr ein, was sowohl den Unterricht als auch bestehende Klassenverbände zusätzlich belastet. Deutschförderklassen und -modelle funktionieren unter diesen Umständen noch weniger gut, als dies ohnehin schon der Fall ist.
Das bedeutet: Ein Teil der heute zuwandernden Kinder und Jugendlichen findet in das Bildungssystem nicht schnell genug hinein und bleibt ohne Abschluss. Aber auch bei uns geborene Kinder mit zugewanderten Eltern und einer anderen Muttersprache als Deutsch erwerben seltener ein höheres Bildungsniveau als die eigenen Eltern. Sie haben ein höheres Risiko, ihre Ausbildung vor dem 18. Lebensjahr abzubrechen.
Unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die selbst oder deren Eltern aus Drittstaaten eingewandert sind, liegt der Anteil derer, die früh ausscheiden, bei einem Viertel. Bei jenen, deren Familie aus einem anderen EU-Staat stammt, bleibt ein Sechstel ohne Abschluss. Entsprechend hoch ist der Anteil junger Erwachsener mit Migrationshintergrund, die keine Arbeit haben.
Was Österreichs Bildungssystem braucht
Kurzfristig gibt es darauf nur eine Antwort: mehr Ressourcen und einen effizienteren Einsatz dieser Ressourcen.
- Wir brauchen zusätzlichen Schulraum und zusätzliche Lehrkräfte. Container dürfen nur eine Übergangslösung sein.
- Wir brauchen einen klaren Fokus auf die Vermittlung von Deutsch in Wort und Schrift. Die Sprache sollte nicht in Förderklassen mit zwölf bis dreißig Kindern, sondern in Kleingruppen vermittelt werden. In jeder Kleingruppe sollten die Kinder bzw. Jugendlichen altersmäßig nicht zu sehr differieren und ein möglichst ähnliches Niveau haben, um gezielt gefördert werden zu können.
- Diese Förderung sollte anfangs ganztägig und anschließend schwerpunktmäßig am Nachmittag stattfinden. Dann könnten jene, die Deutsch schon etwas besser verstehen, am Vormittag regulär die Schule besuchen und in einen Klassenverband integriert werden.
- Lernangebote während der Sommerferien gehören massiv ausgeweitet.
- Für Jugendliche, die aufgrund ihres Alphabetisierungsbedarfs und ihrer fehlenden Bildung keine Aussicht auf einen baldigen regulären Schulbesuch haben, brauchen wir neue Sonderschulen, in denen ein Bildungsabschluss nachgeholt werden kann.
Mittelfristig benötigen wir also ein Bildungssystem, das eine größere Zahl von Quereinsteigern nicht als vorübergehende „Ausnahmesituation“ sieht. Denn Österreich wird in den kommenden Jahren mehr Arbeitskräfte von außerhalb der EU anwerben. Viele von ihnen werden Kinder mitbringen oder später nachholen.
All das kostet Geld. Es nicht oder nur zögerlich auszugeben ist angesichts der Stimmung im Land populärer als die Aufrüstung des Bildungssystems. Aber wenn wir es nicht tun, verpassen wir die Chance, die zugewanderten Kinder von heute für den Arbeitsmarkt von morgen fit zu machen.