Gezielte Tötungen im Völkerrecht
Israel hat innerhalb kürzester Zeit Fuad Shukr und Hamas-Anführer Ismail Haniyya getötet. Derartige gezielte Tötungen sind völkerrechtlich umstritten. Eine kleine Einführung.
Der Nahe und Mittlere Osten kommt nicht zur Ruhe. Israel führt seit Monaten einen Krieg im Gazastreifen, die parallele Konfrontation mit der Hisbollah entlang der Grenze zu Syrien und dem Libanon hat ungleich weniger mediale Aufmerksamkeit bekommen.
Erst jetzt, nach dem Raketenangriff auf ein drusisches Dorf in den Golanhöhen und der israelischen Reaktion darauf, gehen Befürchtungen um, die von einer Neuauflage des Libanonkriegs 2006 bis hin zu einem „Flächenbrand“ mitsamt einer direkten Konfrontation zwischen Israel und dem Iran reichen. Dabei spielt auch das Völkerrecht eine Rolle.
Recht als Orientierung
Das Recht verbietet Kriege, aber kann sie eben nicht immer verhindern. Daher nachfolgend eine kurze Erläuterung der teilweise einfachen und teilweise komplexen Regeln, die bei gezielten Tötungen („targeted killings“) zur Anwendung kommen. Auch auf die Gefahr hin, als naiv gescholten zu werden – wenn das Recht unter Waffen schweigt (inter arma enim silent leges), wieso reden wir überhaupt darüber? – kann es zumindest Orientierung geben. Wer hat Recht, wer nicht, was darf oder dürfte man, was nicht?
Menschenrechte, Krieg und Souveränität
Eines gleich vorweg: Die nachfolgenden Aussagen hängen letztlich auch von politischen Beurteilungen ab. Recht ist immer politisch, vor allem das Völkerrecht im Allgemeinen und während Kriegen im Besonderen.
Bei gezielten Tötungen kommen mindestens zwei und fallweise – wie hier – drei Teilbereiche des Völkerrechts zur Anwendung: Die Menschenrechte, das Recht bewaffneter Konflikte und das ius ad bellum, also die Regeln, wann Staaten überhaupt gegen andere Krieg führen dürfen.
Bedingte Lizenz zum Töten
Erstere beinhalten das Recht auf Leben, das immer gilt und jeden schützt. Also wirklich jeden, auch Terroristen, und wirklich immer, also auch während Kriegen.
Das bedeutet jedoch nicht, dass jede Tötung unerlaubt ist. Das Recht auf Leben verbietet lediglich willkürliche Tötungen: Dabei muss man einerseits unterscheiden, ob jemand gezielt getötet wurde und andererseits, wann die Tötung stattgefunden hat.
Das Menschenrecht auf Leben
Zu Friedenszeiten erlaubt das Recht auf Leben nur dann eine gezielte Tötung, wenn es kein anderes Mittel gibt, um eine bestehende Gefahr für das eigene Leben oder das Leben anderer abzuwenden. Klassische Szenarien sind Geiselnahmen, Terroranschläge, Amokläufer oder sonstige Mordversuche.
Daneben kann eine Tötung dann rechtmäßig sein, wenn sie das unbeabsichtigte oder zumindest in Kauf genommene Ergebnis legitimer Gewaltanwendung war: Beispielsweise dann, wenn im Zuge von Unruhen Gummigeschosse auf marodierende Demonstranten abgefeuert werden und jemand dadurch so unglücklich stürzt, dass er ums Leben kommt.
Tötungen in Kriegen
Anders verhält es sich, sobald ein bewaffneter Konflikt vorliegt. Dann gilt das Menschenrecht auf Leben zwar immer noch, aber seine Anwendung wird massiv eingeschränkt, weil jeder Kombattant und – in Bürgerkriegen – jedes kämpfende Mitglied bewaffneter Gruppen (das ist der rechtliche Oberbegriff für Aufständische, Milizen oder Terrorgruppen) ein legitimes Angriffsziel ist – im Übrigen jederzeit – selbst im Schlaf oder beim WC-Gang – und (fast) überall – nicht nur an der Front, sondern auch während eines Heimaturlaubs.
Fuad Shukr und Ismail Haniyya waren beide ranghohe Mitglieder von Terrorgruppen während eines Konflikts mit Israel. Bei ersterem besteht an seiner Eigenschaft als legitimes Angriffsziel kein Zweifel, er gehörte „dem höchsten militärischen Gremium der Hisbollah, dem Dschihad-Rat, an und hat Hisbollah-Kämpfer und pro-syrische Regimetruppen bei der Militärkampagne der Hisbollah gegen syrische Oppositionskräfte in Syrien unterstützt“, wie es auf der Website von „Rewards for Justice“ heißt.
Das Recht auf Leben gilt immer und schützt jeden. Also wirklich jeden, auch Terroristen.
Bei Haniyya ist die Sachlage etwas weniger eindeutig, weil er für die „politischen Aktivitäten“ der Hamas verantwortlich war. Allerdings ist es fraglich, inwieweit man bei der Hamas zwischen Politik auf der einen und Terror/Krieg auf der anderen unterscheiden kann. Man darf nicht vergessen, dass der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs aufgrund seiner Verantwortung für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen einen Haftbefehl beantragt hatte. Rein-politisch bzw. -friedlich waren Haniyyas Tätigkeiten also definitiv nicht.
Gezielte Tötungen außerhalb von Schlachtfeldern
Das eigentliche Problem bei Israels beiden gezielten Tötungen liegt weniger an der Tathandlung als am Tatort: Shukr wurde in einem Vorort in Beirut angegriffen, Haniyya im Iran. Was die Frage aufwirft, ob hier das Recht bewaffneter Konflikte – demzufolge beide, wie gesagt, legitime Angriffsziele sind – überhaupt anwendbar war.
Beim Shukr ist die Sache rechtlich komplex: Israel führt formell keinen Krieg gegen den Libanon, sondern im Libanon (außerdem okkupiert es die Schebaa-Farmen, die vom Libanon beansprucht werden). Umgekehrt führt die Hisbollah seit dem 7. Oktober (und auch davor) regelmäßig Angriffe auf israelisches Staatsgebiet aus.
Dementsprechend lag hier zwar ein grenzüberschreitender, aber immer noch „nicht-internationaler“ bewaffneter Konflikt vor. Die dahinstehende Unterscheidung stellt primär auf die handelnden Akteure ab. Und die Hisbollah ist kein Staat, sondern „staatsähnlich“, beziehungsweise ist mit dem Libanon verwoben, aber nicht deckungsgleich mit ihm.
In zwischenstaatlichen Konflikten gilt stets das gesamte Staatsgebiet als Kriegsgebiet.
Für die Rechtslage zu gezielten Tötungen macht das zwar keinen Unterschied. Wohl aber beim räumlichen Anwendungsbereich des Rechts bewaffneter Konflikte: In zwischenstaatlichen Konflikten gilt stets das gesamte Staatsgebiet – unabhängig davon, wo es zu Kampfhandlungen kommt – als Kriegsgebiet.
In nicht-internationalen Konflikten ist der geographische Anwendungsbereich des Kriegsrechts oft unklar. Der von der Hisbollah kontrollierte Süden des Libanons fällt jedenfalls darunter. Im Rest des Landes sieht es anders aus. Wenn sie dort präsent ist, aber das Gebiet nicht kontrolliert, also keine „de facto (Staats-)Gewalt“ innehat und es auch nicht zu fortgesetzten Kampfhandlungen kommt, gilt das Recht bewaffneter Konflikte dort nicht. Die Tötung von Shukr wäre dementsprechend im Süden möglich gewesen, nicht aber vor Beirut.
Bei Haniyya ist es wiederum eindeutiger: Hier wäre die Tötung von Haniyya nur dann erlaubt gewesen, wenn der Iran und Israel sich formal gesehen im Kriegszustand befinden – was etwa der Fall wäre, wenn der Iran die Hisbollah kontrolliert, also in die Planung und Durchführung ihrer Angriffe involviert ist. Ansonsten gilt zwischen ihnen formal gesehen der Friedenszustand, was – wenig überraschend – sich nicht mit gezielten Tötungen auf dem Staatsgebiet des jeweils anderen vereinbaren lässt.
Theorie und Praxis
Manche argumentieren, dass derart komplizierte bis abstruse Regeln in der Praxis – gerade im Kampf gegen Terroristen – nicht umsetzbar seien. Gerade die USA und eben auch Israel gehen vielmehr davon aus, dass Terroristen überall legitime Angriffsziele sind.
Hier spricht man vom Problem des „globalen Schlachtfelds“: Schließlich verletzen gezielte Tötungen in fremden Staaten ohne der Zustimmung der jeweiligen Regierung deren Souveränität. In diesem Fall also die des Libanons und des Irans. Letzterer hat umgehend Vergeltung angekündigt. Man darf sich Sorgen machen.