Befreien wir die Schulen!
Milliarden fließen derzeit in Nachhilfe-Anbieter – ein Zeichen dafür, dass das Bildungssystem massiv an Vertrauen verliert. Höchste Zeit, unsere Schulen aus ihrem bürokratischen Korsett zu befreien.
Wir wollen das größte Bildungsunternehmen der Welt aufbauen“, sagte der damals 26-jährige Felix Ohswald, Co-Gründer des Nachhilfe-Start-ups Go-Student, vor gut einem Jahr in einem Interview mit dem deutschen „Handelsblatt“. Gerade hatte sein Team 205 Millionen Euro von internationalen Investoren bekommen, womit GoStudent Österreichs zweites Unicorn wurde, wie Unternehmen mit einer Marktbewertung von mehr als einer Milliarde Euro genannt werden.
Im Jänner 2022 sammelte GoStudent weitere 300 Millionen ein – das bis dahin höchste Start-up-Investment in Österreich. Der Wert des Unternehmens hatte sich damit binnen eines halben Jahres auf drei Milliarden Euro mehr als verdoppelt.
Ich habe eine Vermutung: Mittelfristig werden wir erkennen, dass diese Geschehnisse eine der größten Interventionen für Schule im deutschsprachigen Raum in den beginnenden 20er Jahren unseres Jahrhunderts bedeuten. GoStudent wird nun global aktiv, aber der DACH-Raum bleibt als „Heimatmarkt“ im Fokus.
Auch in zahlreiche weitere sogenannte EdTech-Startups – junge Unternehmen im Bildungsbereich mit plattformökonomisch basierten Geschäftsmodellen – fließen hunderte Millionen an Kapital. Angesichts der Summen können wir davon ausgehen, dass etwas im Rutschen ist. Investiert wird nicht in das öffentliche Gut „Bildung“, sondern in die Annahme, dass mit privater Bildung in den nächsten Jahren Milliarden zu verdienen sein werden.
Geschäftsmodell Bildungslücke
Allein bei GoStudent flossen seit 2016 mehr als 590 Millionen Euro. Nach gängiger Bewertungslogik gehen die Investoren davon aus, dass das Potenzial besteht, innerhalb der nächsten zehn Jahre mit dem Leistungsversprechen „Bessere Noten mit privater Nachhilfe“ rund sechs Milliarden Euro verdienen zu können. Die Dynamik, die solche unternehmerischen und privatwirtschaftlichen Fokussierungen entfesseln werden, ist riesig. Alle Eltern im deutschsprachigen Raum werden davon hören – sie sind schließlich jene, die gemäß Geschäftsmodell an diesen sechs Milliarden Euro mitzahlen werden.
Der Staat hat die Aufgabe, allen Kindern und Jugendlichen qualitativ hochwertige Bildung zur Verfügung zu stellen.
Warum diese Einleitung für ein Essay über Zukunftsvisionen für unsere Schule? Weil wir Visionen immer in den Kontext der aktuellen Realität stellen müssen. Wir können Schule nicht komplett neu auf der grünen Wiese erfinden. In Deutschland, Österreich und der Schweiz zählen wir – Elementar-, Primar- und Sekundarstufe 1 und 2 zusammengenommen – 13,9 Millionen Kinder und Jugendliche sowie 1,8 Millionen Pädagoginnen und Pädagogen. Das ist zahlenmäßig, noch ohne Eltern, ein mittelgroßer europäischer Staat.
Offensichtlich ist, dass sich unsere Gesellschaft rasant weiterentwickelt, während sich das Schulsystem strukturell verhärtet hat und die Schulpolitik sich über Jahrzehnte teils in ideologischen Stellungskämpfen lähmt – unter anderem im hundertjährigen Kampf rund um die Gesamtschule.
Steigender Innovationsdruck
Es gibt Grund zur Annahme, dass das öffentliche Schulsystem – in der Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger – nicht gut genug ist. Daher steht nun der private Markt auf und wittert seine Chance mit hilfreichen Angeboten im großen Stil. Fazit: Der Innovationsdruck auf das Schulsystem ist riesig und wird weiter steigen.
Als Anhänger einer liberalen Demokratie europäischen Zuschnitts bin ich zutiefst davon überzeugt, dass Bildung ein öffentliches Gut ist und bleiben muss. Der Staat hat die Aufgabe, allen Kindern und Jugendlichen qualitativ hochwertige Bildung zur Verfügung zu stellen.
Fünf Schulen, fünf Innovationen
Die Zivilgesellschaft und auch privatwirtschaftliche Player können und sollen eine wichtige Rolle als Impulsgeber und Innovationstreiber spielen, die ihre Entwicklungen dann auch ins öffentliche Regelschulwesen einbringen. Doch in der Breite muss der Staat liefern. Und zwar in hoher Qualität.
Wenn wir das nicht schaffen, verlieren wir unsere internationale Wohlstandsposition, und der soziale Zusammenhalt in der Gesellschaft nimmt weiter ab. Jene, die es sich leisten können, würden Bildung für ihre Kinder kaufen. Die anderen blieben auf der Strecke. Die „Abgehängten“ würden sich aber nicht in ihr Schicksal fügen. Grobe gesellschaftliche Spannungen wären die Folge. Die Auseinandersetzung würde sich von den Schulklassen auf die Straße verlagern.
Zukunftsvision für unsere Schule
Welche Chancen junge Menschen bekommen, hängt bei uns in sehr hohem Ausmaß immer noch davon ab, was Vater und Mutter sind und tun. Das ist aus menschlich-humanistischer Sicht ungerecht, vom gesellschaftlichen Standpunkt aus fahrlässig und volkswirtschaftlich dumm. Talente und positive Potenziale, die in unseren jungen Menschen angelegt sind, kommen nicht ausreichend zur Entfaltung. Damit sollten wir uns nicht abfinden. Wir müssen mit kühnen Visionen und entschlossenem Handeln dagegenhalten.
Wir Menschen sind frei und gleich an Würde geboren, also sollte sich der Einzelne auch umfassend entfalten können. Dieses Aufblühen der persönlichen Potenziale und Talente bringt der Mensch als soziales Wesen in der Folge in die Gemeinschaft ein – in Familie, Beruf und sämtliche gesellschaftlichen Sphären.
Was Schüler wirklich lernen sollten
Das Schulsystem spielt beim Prozess der Entfaltung eine entscheidende Rolle. Die Schule der Zukunft konzentriert sich daher auf die Potenziale und Talente der Schülerinnen und Schüler – und nicht wie bisher darauf, was sie alles nicht können. Die Schüler werden im Lern- und Lebensraum Schule in ihrer Entwicklung zu mündigen, leistungsfähigen und lebensbejahenden Menschen begleitet.
Die Politik hingegen sollte sich auf die Definition eines eindeutigen Handlungsrahmens beschränken und den Schulleitungen sowie den Pädagogen die Freiheit und Verantwortung zur Umsetzung und Gestaltung geben. Schulentwicklung geschieht somit permanent. Das System Schule wird zur lernenden Organisation und ist im ständigen Austausch mit dem Wandel der Zeit.
Unterricht umkrempeln
Das Abfüllen von abstraktem Fachwissen in Fünfzig-Minuten-Einheiten als Organisationsmodell ist passé. Die 21st Century Skills, wie sie hier beschrieben wurden, werden zur Priorität: Kommunikation, Kooperation, kritisches Denken und Kreativität sind Mittelpunkt des Lernalltags. Ebenso Selbstführung und Resilienz. Wir schauen auf jedes Kind individuell, respektieren dessen eigenes Lerntempo und geben optimale Unterstützung bei der individuellen Entfaltung.
Die Schulen als lernende Organisationen eignen sich neue Strategien im Umgang mit volatilen, unsicheren, komplexen und ambivalenten Umwelten an. Darunter:
- Interesse und Beteiligung bei allen Schulpartnern und Bezugsgruppen schaffen,
- intrinsische Motivation als Hebel nutzen,
- Selbstreflexionsfähigkeit stärken,
- Eigenverantwortung und Teamarbeit forcieren,
- systemisches Denken und vernetztes Arbeiten unterstützen,
- flache und multiple Hierarchien ausbilden,
- Vertrauen als wichtigen Koordinationsmechanismus in der Organisationskultur verankern,
- Wissensmanagement vorantreiben,
- Flexibilität leben,
- neue Formen der Integration von Organisationsmitgliedern forcieren,
- Synergien heben,
- Kooperationen eingehen.
Chancenfairness und soziale Durchmischung werden als staatliche Ziele für Bildungsinstitutionen etabliert. Schule wird als Ort verstanden, an dem wir Gemeinschaft erleben und gestalten. Private Schulen werden eingeladen, sich breit an diesen Zielen zu beteiligen. Sie erhalten gleiche staatliche Finanzierung wie öffentliche Schulen, sofern sie sich der Erbringung des öffentlichen Guts „Bildung“ gemäß den staatlichen Qualitätsvorgaben widmen.
Autonome Schulen
Die Schulautonomie wird umfassend ausgebaut. Die Politik definiert fixe Freiräume. Innerhalb dieses Rahmens haben Schulen die Möglichkeit, mit einem hohen Maß an Eigenverantwortung gestaltend zu wirken. Sie agieren dabei in dreifacher Autonomie: in pädagogischer, personeller und finanzieller Freiheit und Verantwortung. Dies fördert Innovation. Pädagogische Autonomie bedeutet, dass Schulen pädagogische Modelle und didaktische Konzepte autonom festlegen, ebenso die Profilbildung durch Lehrpläne, die Jahrgangsstruktur, die Klassen- beziehungsweise Gruppengrößen je Fach und Schulstufe, die Struktur der Unterrichtszeit sowie die Lehrmethoden und -mittel.
Was wir in unseren Schulen versäumen, können wir später nur bruchstückhaft und sehr teuer nachholen.
Die personelle Autonomie folgt der Überzeugung, dass gute Schule dort ist, wo gute Lehrer sind – gut in ihren pädagogischen und fachlichen Qualifikationen, in ihrer Interaktion mit den Schülern und in ihrem Zusammenwirken mit anderen Lehrkräften und sonstigen Mitarbeitern. Für Auswahl und Führung des Personals am Schulstandort ist die Schulleitung zuständig, sie hat auch Einstellungs- und Kündigungsrecht. Die Schulleitungen werden gemeinsam von der Schulgemeinschaft vor Ort und dem Schulträger bestellt. Die Ausbildung der Direktorinnen und Direktoren folgt dem Professionsverständnis als Führungs- und Managementkraft – mit Fokus auf Leadership, Kommunikation und Personalentwicklung.
Freie Schulwahl ohne Schulgeld
Die finanzielle Autonomie bringt den Schulen ein Globalbudget, mit dem sie alle Aufwendungen bestreiten und innerhalb dessen sie frei entscheiden und Schwerpunkte setzen können. Die Finanzierung folgt den Schülern und besteht aus einer kopf- und einer kriterienbezogenen Komponente (z. B. sonderpädagogische Förderbedarfe).
Die Pro-Kopf-Finanzierung bedeutet für die Schüler und Eltern die freie Schulwahl ohne Schulgeld. Dies ermöglicht auch Kindern aus weniger wohlhabenden Familien den Zugang zu alternativen Schulkonzepten. Nicht nur staatliche, sondern auch Schulen in privater Trägerschaft können öffentliche – im Sinne von öffentlich finanzierte und frei zugängliche – Schulen werden. Die Zugangsvoraussetzungen zur Finanzierung aus Steuergeld sind die Integration des staatlichen Qualitätsmonitorings, Gemeinnützigkeit und der Verzicht auf das Einheben von Schulgeld. Die Wahl der Schule liegt in der Freiheit der Familien.
Die Aufnahme der Schüler wiederum liegt allein in der Verantwortung der Schulen. Sie können Schüler auch ablehnen. Allerdings garantiert eine Aufnahmepflicht der wohnortnächsten Schule während des schulpflichtigen Alters einen Schulplatz für alle.
Bildung als Schlüssel für fast alles
Zusammenfassend bringe ich meine Vision auf folgenden Nenner: mündige Schulen für mündige Menschen. Bildung ist der Schlüssel zur Selbstermächtigung, auch der Schlüssel für unsere Kultivierung als soziale Wesen. In einer Zeit, in der bei uns private Milliarden für Nachhilfe aufgestellt werden können, müssen wir uns als Gesellschaft ernsthaften Debatten und entschlossenen Entscheidungen widmen. Wenn wir die ursprünglichste Einladung des Menschseins, nämlich die zur Entfaltung, ernst nehmen und wenn wir uns als Gemeinwesen begreifen, dann ist und bleibt Bildungspolitik die wichtigste Sozial-, Kultur-, Standort-, Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Umwelt-, Familien- und Gesundheitspolitik.
Schule heute: Keine Chance ohne Deutsch
Alles, was wir in unseren Kindergärten und Schulen versäumen, können wir später nur bruchstückhaft und sehr teuer nachholen oder als Gemeinwesen ausgleichen. Wenn wir das so sehen, dann offenbart sich großer Handlungsbedarf. Oder aber wir akzeptieren den Umstand, dass es sich jene richten, die das nötige Geld dafür haben, und alle anderen bleiben zurück. Das jedoch ist eine finstere Vision: jene einer Gesellschaft, in der der soziale Zusammenhalt verloren geht.
In den Schulsystemen im deutschsprachigen Raum zeigt sich in den letzten Jahren eine bürokratische Überregulierung ebenso wie ein eklatanter Mangel an strategischer Ausrichtung. Wir brauchen eine neue Qualität an Vision und Zielen sowie einen klaren strategischen Rahmen auf der Höhe der Zeit. Kluge Investitionen in die Bildung müssen zur obersten Priorität unserer Regierungen werden. Es ist möglich: Wir müssen nur wollen!