Vom Außenseiter zum Machtfaktor

Oft für ihre Großmacht-Ambitionen belächelt, hat sich die Türkei zu einem wichtigen regionalen geopolitischen Faktor gemausert. Von Afghanistan über Syrien bis Libyen versucht Präsident Erdogan Stärke zu zeigen.

Illustration des türkischen Präsidenten Erdogan
Präsident Erdogan will der Türkei einen dauerhaften Platz auf der Weltbühne verschaffen. © Oliver Barrett/Atrbute
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Auf den Punkt gebracht

  • Regierungsmacht. Präsident Erdogan nützt die Stellung der Türkei als erstarkte Regionalmacht für die persönliche Profilierung.
  • Bedeutungsverlust der EU. Europa verliert zunehmend an Gestaltungsspielraum – ein Vakuum, das die Türkei vor allem in Zentralasien füllt.
  • Ambivalente Stärke. Migrationsbewegungen ist die Türkei einerseits ausgeliefert, andererseits nützt das Land die Dynamik als politisches Druckmittel.
  • Expansion im Osten. Die Bewegung des Pan-Turkismus spielt auch im Poker um Macht und Einfluss in Afghanistan eine wichtige Rolle.

Einst ein schwacher EU-Beitrittskandidat, präsentiert sich die Türkei heute als geopolitischer Akteur im Schatten der Weltmächte. Denn mit dem Abzug aus Afghanistan überlassen die USA mit ihren westlichen Verbündeten anderen Großmächten der Region das Feld. 

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Die westliche Allianz beendet damit ein unrühmliches Kapitel, wohingegen die Türkei ihre militärische Präsenz vor Ort als Gelegenheit begreift, sich in Zentralasien zu positionieren. Dabei könnte das türkische Engagement in Libyen (mit einigen Abweichungen) Modell stehen: die politische und militärische Unterstützung einer von der UNO anerkannten, aber politisch schwachen Regierung im Kampf gegen ihre Widersacher mit hocheffizienter türkischer Militärtechnologie, Drohnen und Söldnern. Ankara strebt zumindest die diplomatische Einflussnahme in Afghanistan an. 

Gratwanderung Migration 

Die türkischen Erfahrungen hinsichtlich Wiederaufbau und Realisierung infrastruktureller Projekte in Konfliktregionen dürften hier außerdem eine maßgebliche Rolle spielen, um Fluchtursachen zu mindern. Grund: Die Migrationsströme stellen für die Türkei eine Schlüsselfrage dar. Denn die Türkei verfügt über keinen ausgereiften Steuerungsmechanismus, um Flüchtlingsströme kontrollieren zu können, obwohl sie auf deren Hauptrouten in Libyen und an der syrischen Grenze militärische Brückenköpfe eingerichtet hat.

Der unter Präsident Recep Tayyip Erdogan geschaffene türkische Sozialstaat sieht sich einer gigantischen Herausforderung gegenüber, denn neben den vier Millionen Flüchtlingen im eigenen Land müssen noch weitere sechs Millionen Syrer in den türkisch okkupierten Gebieten versorgt werden.

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Zahlen & Fakten

Flüchtlinge sorgen für Spannungen 

Es herrschen Spannungen in der türkischen Gesellschaft. Ressentiments gegen die Flüchtlinge verstärkten sich während der Pandemie. Die Entwicklungen in Afghanistan wecken daher in Ankara Sorge, dass weitere Menschen über den Iran in die Türkei fliehen, um sich dann nach Europa durchzuschlagen. Umso schwieriger ist es für die EU, ihre Interessen und Werte gegenüber der Türkei geltend zu machen, da Brüssel das Flüchtlingsabkommen nicht belasten will, um seine Außengrenzen bewahrt zu wissen.

Ankara aber fordert die EU auf, ihren finanziellen Verpflichtungen nachzukommen – mit verschärfter Rhetorik. Ein Umstand, der von Viktor Orbán und anderen osteuropäischen Staatschefs mit einer gewissen Bewunderung für die türkische Haltung gegenüber Brüssel aufgenommen wird. 

Die Legitimation türkischer Militäroperationen in Libyen, Syrien oder Aserbaidschan leitet sich mehr aus der Historie denn aus dem Völkerrecht ab. Man beruft sich auf die Einflusswahrung in früheren Territorien des Osmanischen Reiches. So sind die turkmenischen Minderheiten in Afghanistan, die ein Sechstel der Gesamtbevölkerung stellen, ein nicht zu unterschätzender Faktor. Bereits in türkische Militäroperationen in Syrien wurden turkmenische Verbände eingebunden, die sich später in der libyschen Wüste wiederfanden. Ankara richtet schon seit geraumer Zeit den Blick nach Osten. Die Regierung hat verstärkt die Rhetorik ihres ultranationalistischen Koalitionspartners MHP übernommen und viele Wähler dieses Lagers an die Person des Staatspräsidenten binden können.

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Zahlen & Fakten

Renaissance des Panturkismus

Das gemeinsame historische, kulturelle und sprachliche Erbe mehrer Völker und Stämme Zentralasiens lässt sich auf das Osmanische Reich zurückführen. Diese einstige Größe will sich die heutige Türkei wieder zu Nutze machen und ihren Einfluss in der Region ausweiten. Dabei spielt auch die Religion, konkret der Islam, eine wichtige Rolle. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat gerade in Zentralasien ein Vakuum und eine Art Orientierungslosigkeit hinterlassen, die nun von Ankara gefüllt werden. Neben der kulturellen Patronanz spielen Wirtschaftsbeziehungen und militärische Allianzen eine zentrale Rolle.

Es ist eine Rückbesinnung auf die „türkisch-islamische Synthese“ Ende der 1980er-Jahre des damaligen Präsidenten Turgut Özal, der nach dem Untergang der UdSSR den Blick nach Zentralasien richtete und die turksprachige Welt zusammenführen wollte. Der Sieg Aserbaidschans über Armenien durch türkische Waffenhilfe hat nun die Ideen des Panturkismus im Kaukasus neu befeuert. Die Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und Ilham Alijew präsentieren eine Allianz, die von Moskau und Teheran mit Argusaugen beobachtet wird. Denn auch türkische Pläne für Afghanistan, mit Verbindungen zu den Turkstaaten Zentralasiens, sieht der Iran als Angriff.

Dabei reichen die Beziehung Türkei–Afghanistan weit zurück. In Kunduz liegt jener Ort, an dem 1922 der osmanische Kriegsminister Enver Pascha im Kampf gegen die Rote Armee starb. Tadschiken, Turkmenen, Usbeken und Uiguren pilgern bis heute dorthin, um den Mythos dieser gescheiterten Lichtgestalt des Panturkismus zu bewahren. 

Ohnmächtiges Europa

Und Europa? Da die EU bis heute nur eine fragile Außen- und Sicherheitspolitik vorzuweisen hat und angesichts humanitärer Katastrophen an ihrer Peripherie mit keiner einheitlichen Stimme spricht, braucht sie die Türkei, um ihre Stellung behaupten zu können. Trotz Dissonanzen der Vergangenheit hat sich das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei bewährt. 

Auch die Bereitschaft Ankaras, sich als Nato-Verbündeter aktiv an der EU-Verteidigungspolitik zu beteiligen, ist ein Signal an Großmächte wie Russland oder China. So übernahm die Türkei die Führung der Nato-Speerspitze, die als Reaktion auf die russische Annexion der Krim gegründet wurde. 

Die Türkei sieht sich als geopolitischer Akteur, der sich mit dem Eintritt in regionale Konflikte einen Platz am Konferenztisch sichert.

Das Wachstum der türkischen Rüstungsindustrie ist beträchtlich. Abnehmer sind Polen, Lettland und die Ukraine. Großbritannien plant Kooperationen. Auch wenn die expansive türkische Außenpolitik von der geschwächten Wirtschaft und innenpolitischem Ärger ablenken soll, ist sie doch – ganz im Gegensatz zur EU – darauf ausgerichtet, jene von den USA geräumten Plätze in Krisenregionen einzunehmen und sich anderen Akteuren entgegenzusetzen.

So ist in Afghanistan eine Annäherung zwischen den Taliban und China zu beobachten, die für die westliche Welt nicht ohne Folgen bleiben wird. Im Gegensatz zu den „westlichen Besatzern“, zu denen die Taliban auch die Türkei zählen, werden die Avancen aus Peking, beim Wiederaufbau zu helfen, begrüßt. In den Augen der chinesischen Führung sind die Taliban nicht mehr Terroristen, sondern ein Machtfaktor an der Grenze zur Provinz Xinjiang, der Heimat der turk-muslimischen Uiguren. Die Taliban rekrutierten dort über Jahrzehnte. Nun sicherte man Peking zu, davon abzulassen. 

Ob es der Türkei gelingt, sich eine gewisse Stabilität zu verleihen, hängt auch vom Willen und der Unterstützung Europas ab. Wenn die Türkei im Kampf gegen die Taliban eine Neutralisierung der Fluchtursachen erzielen würde, so wäre eine Abwendung Europas nicht im Sinne der eigenen Flüchtlingspolitik. Zusätzlich könnte Ankara versuchen, usbekische wie uigurische Taliban zum Wechsel ins eigene Lager zu bewegen, wie schon mit islamistischen Milizen in Syrien geschehen. Fazit: Die Türkei sieht sich als ein geopolitischer Akteur zwischen den Großmächten, der sich mit dem Eintritt in regionale Konflikte einen Platz am Konferenztisch sichert – zur Stärkung der eigenen Interessen.

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Conclusio

Die Türkei versucht, das nach dem Abzug der USA aus Afghanistan entstandene Machtvakuum zu füllen. Ziel ist die Kooperation von Turkvölkern in der Region – unter Führung Ankaras. Die EU verliert dabei mangels klarer Linie an Einfluss. Hinzu kommt: Die robuste Außen- und Sicherheitspolitik soll über interne Versäumnisse der Ära Erdogan hinwegtäuschen und radikale Kräfte zügeln. International will die Türkei mit dem Engagement in Syrien und Libyen punkten. Die EU wird weiter auf die Türkei als „Pufferstaat“ angewiesen sein – nicht zuletzt, um den Migrationsdruck zu mindern. Europa bräuchte aber eine einheitliche Stimme, um seine Interessen besser durchsetzen zu können. Bis das der Fall ist, werden die EU-Staaten Zuschauer bleiben, wie die Türkei, Russland und China ihr geopolitisches Spiel ausreizen.