Der Wählerwille darf nicht ignoriert werden
Extreme Parteien links und rechts der Mitte feiern in ganz Europa Erfolge. Sie von der Regierungsverantwortung auszuschließen und den Wählerwillen zu ignorieren, kann nicht die Lösung sein.

In vielen Ländern Europas dasselbe Bild: Populisten links und rechts der politischen Mitte legen in den Wahlen markant zu, eine Regierungsbildung mit ihnen aber scheint unmöglich.
In Österreich sind die Verhandlungen zwischen Sozialdemokraten, Konservativen und Neos gescheitert; in Frankreich musste Präsident Macron bereits zum zweiten Mal einen Premierminister bestimmen, und für das soeben angebrochene Jahr prophezeien die Franzosen, dass dies noch nicht der letzte gewesen sein dürfte innerhalb der Macron verbleibenden Amtszeit.
Mehr von Katja Gentinetta
In Deutschland stehen im Februar Neuwahlen an, und bereits jetzt kann davon ausgegangen werden, dass die Extremen links wie rechts zulegen werden und die Koalitionsbildung größte Schwierigkeiten machen wird.
Für die ohnehin bereits angeschlagenen europäischen Demokratien bedeutet dies nichts Gutes. Regierungen, die die stärksten Parteien ausschließen, sind nicht nur instabil, sie spiegeln auch den Wählerwillen nur schlecht wider.
Dies gibt dem Grundtenor der außen vor gelassenen Parteien nur noch mehr Gehör: dass die etablierten Parteien jene Probleme, die die Leute am meisten beschäftigen, allen voran die Migration und ihre Auswirkungen auf das Zusammenleben und die Sicherheit, nicht zu lösen vermögen.
Klar ist: Brachiale Rhetorik und Radikalismus sind kein Rezept für eine wirkungsvolle Politik, zumal die Wahlerfolge der Extremen nicht das Resultat solider Programme sind, sondern allein auf der provokativen Bewirtschaftung der Probleme beruhen. So viel Skepsis, auch Ablehnung, sei gegenüber den extremen Parteien erlaubt. Dennoch tun die etablierten Parteien gut daran, die Wahlsieger nicht einfach auszuschließen und es dabei zu belassen.
Erste Warnzeichen
Freilich: Risiken der Einbindung bestehen. Dazu gehört allen voran die weitere Radikalisierung der Politik. Extreme Parteien werden in jeder Koalition darauf drängen, ihre radikalen Lösungen zum Programm zu machen. Damit belasten sie auch die internationalen Beziehungen – gerade weil es um Themen geht, die staatenübergreifender Ansätze bedürfen. Dass die meisten populistischen Parteien in Europa EU-skeptisch auftreten, ist das beste Beispiel dafür.
Außerdem besteht die Gefahr, dass sie etablierte Prozesse und Institutionen insgesamt infrage stellen und damit die Demokratie destabilisieren. Das erste Warnzeichen hierfür ist meist die Einschränkung der Unabhängigkeit von Justiz und Medien – Maßnahmen, die in einigen osteuropäischen Ländern bereits vollzogen wurden und sich in westeuropäischen Staaten in der Dauerkritik an den öffentlichrechtlichen Medien manifestieren.
Selbst wenn es gelingen sollte, die extremen Vorschläge in abgeschwächter Form in ein Regierungsprogramm aufzunehmen, ist die Enttäuschung der Wähler absehbar – und für extreme Parteien die Gelegenheit gegeben, die politische Landschaft weiter zu radikalisieren.
Allerdings können extreme Parteien eine Regierung auch von außen vor sich her treiben, wie das Beispiel der Niederlande zeigt. Sie von der Regierungsmacht kategorisch fernzuhalten, ist also auch nicht die Lösung.
Vorbild Schweiz?
Nicht von ungefähr blicken daher viele europäische Länder, vor allem deren gemäßigte Parteien, auf die Schweiz. Tatsächlich verfügt diese mit ihrer Konkordanzregierung über ein einzigartiges System. Sämtliche großen Parteien sind in die Regierung eingebunden – derzeit stellen sie vier von sieben Mitgliedern.
Die Zusammensetzung ist Resultat eines langen historischen Prozesses, der mit der Bildung des jungen Bundesstaats begann und bei jeder Neuwahl zum Bundesrat zu hitzigen Debatten führt, weil es keine simple numerische Automatik gibt, die den Zutritt in die Regierung bestimmt.
Die jüngste Anpassung fand 2003 statt, nachdem die SVP, die sich als einzige Partei 1992 gegen den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) gestellt hatte, 1999 aus den Parlamentswahlen als wählerstärkste Partei hervorgegangen war. Vier Jahre später wurde ihrem Anspruch auf einen zweiten Sitz im Bundesrat entsprochen.
Die Wahl des Parteivorsitzenden und Chefideologen Christoph Blocher in die Regierung war indes von lauten innenpolitischen Auseinandersetzungen darüber begleitet, ob sein Oppositionskurs und vor allem sein politischer Stil in einer Kollegialregierung überhaupt Platz haben dürfen.
Heute ist die SVP ein „normales“ Mitglied der Regierung. Mit einem Wähleranteil von 28 Prozent stellt sie im Parlament die stärkste Fraktion und bestimmt die Politik maßgeblich mit. Eine Einbindung kann also funktionieren. Das ist auch richtig, denn in Demokratien sind Wahlergebnisse auch als Aufforderung zur Politikanpassung zu lesen, vor allem dann, wenn sie deutlich ausfallen.
Den Wählerwillen zu ignorieren, wäre die falscheste aller Optionen. Deshalb sollten jene Parteien, die eine solide Regierung bilden wollen, vor allem eines tun: die Themen ernst nehmen, die die Wahlerfolge begründen. Und jene Parteien sollten weit mehr für die Lösung von Problemen tun, als nach den mittlerweile ritualisierten Beteuerungen, die Sorgen der Leute ernst zu nehmen, sogleich in ihre alten Muster zurückzufallen. Das kann auch bedeuten, mit eigenen Tabus glaubwürdig zu brechen – wenn es etwa um den Ausbau des Sozialstaats oder die Subventionierung bestimmter Wählergruppen geht.
Russischer Einfluss als Gefahr
Allerdings besteht heute ein zusätzliches Problem, auch in der Schweiz. Die Populisten links und rechts eint nicht nur ihre Sorge um die Migration, sondern vor allem auch ihr Verständnis für Russland. Angesichts dessen, was man heute über Beeinflussungs- und Desinformationsaktionen weiß, ist die Regierungsbeteiligung dieser extremen Parteien durchaus mit Gefahren für das jeweilige Land und damit für ein geeintes Europa verbunden.
Die einzige „Brandmauer“, die es unter allen Umständen hochzuhalten gilt, ist die Sicherung liberaldemokratischer Prinzipien der Gewaltenteilung, des Rechtsstaats und der Medienfreiheit. Sämtliche Angriffe müssen konsequent abgewehrt werden. Der Verbreitung „illiberaler Demokratien“ ist entschieden Einhalt zu gebieten. Das dürfte die wichtigste Aufgabe der europäischen Demokratien in diesem Jahr sein.
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