Der Wert universeller Werte
Der Westen sollte sich vom Vorwurf doppelter Standards nicht ins Bockshorn jagen lassen, sondern mit den Ländern des globalen Südens in einen offenen Diskurs treten. Unsere zentralen Prinzipien liegen im Interesse aller.
Das Papier hat es in sich: Entgegen seiner Absicht, „gemeinsam in die Zukunft“ zu schauen, verließ der britische Premierminister den jüngsten Commonwealth-Gipfel mit einer Forderung im Gepäck. Der Verbund der rund fünfzig ehemaligen britischen Kolonien in Afrika, Asien und der Karibik verabschiedete einstimmig eine Erklärung, wonach die Zeit reif sei für eine „bedeutsame, wahrhaftige und respektvolle Konversation“ über den Umgang mit dem historischen Erbe des Sklavenhandels.
Mehr von Katja Gentinetta
Die Botschaft ist klar: Nachdem sich Entwicklungs- und Schwellenländer während Jahrzehnten von westlichen Ländern zu „Dialogen“ über Menschenrechte verpflichten lassen mussten, drehen sie den Spieß nun um. Sie wollen mit ihren Ex-Kolonialherren die Vergangenheit aufarbeiten. Wie zielführend die geforderten Reparationszahlungen wären, ist mehr als fraglich – man stelle sich eine Welt vor, in der die Staaten vergangene Feldzüge, Kriegsbeute und andere Vergehen gegeneinander aufrechnen: für die vergangenen Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte.
Die Begebenheit ist nur ein Beispiel für den in jüngerer Zeit vermehrt kursierenden Vorwurf der „Doppelstandards“ an westliche Staaten. Die Länder des „globalen Südens“ tun mit steigendem Selbstbewusstsein kund, wie sie die internationale Politik des „Westens“ wahrnehmen: Während man Flüchtlinge aus der Ukraine rasch und unkompliziert aufgenommen habe, wolle man Migranten aus Afrika in großem Stil zurücksenden; während man Russland massiv sanktioniert, beschränke man sich bei Israel auf Aufrufe und Empörung über die Missachtung des Kriegsvölkerrechts; zwar kritisiere man Menschenrechtsverletzungen in China und Iran, ignoriere jedoch die Repressalien in den Golfstaaten, auf deren Rohstoffe man angewiesen sei – um nur einige Vorwürfe zu nennen.
Scheinheiligkeit des Westens?
Nicht, dass die Vorwürfe der Doppelmoral gänzlich unberechtigt wären. Man erinnere sich an den US-Krieg „gegen den Terror“ im Irak und die damit einhergehenden illegalen Verhaftungen oder jüngst an die ungleiche Verteilung der Impfstoffe zu Beginn der Covid-Pandemie – eine Politik, die als „Impfstoff-Apartheid“ in die Geschichte einging.
Der Westen sollte sich vom Vorwurf der Scheinheiligkeit nicht in die Enge treiben lassen.
Dass die Außenpolitik der Staaten des Westens respektive Nordens auch die Pflege der eigenen Interessen widerspiegelt, kann nicht in Abrede gestellt werden, gleichwohl dies auch für die Außenpolitik der Länder des globalen Südens gilt. Jedenfalls sollte sich der Westen vom Vorwurf der Scheinheiligkeit nicht in die Enge treiben lassen. Vielmehr muss er den Diskurs führen – aus eigenem Interesse und mit Blick auf die Zukunft der Weltordnung. Zahlreiche Vorwürfe können widerlegt werden – unter Verweis auf den Kontext, das internationale Recht oder auch andere Bemühungen der westlichen Staaten.
So ist die Unterscheidung zwischen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine und Arbeitsmigranten aus Afrika rechtens; und selbst wenn in zahlreichen afrikanischen Staaten Krieg herrscht, begründet das kein Recht, in Europa um Asyl zu ersuchen. Während Israel des Kolonialismus bezichtigt wird, ist der Neoimperialismus Russlands kein Thema. Außerdem kann sich Russland, von dessen Kriegsverbrechen wir täglich Zeuge sind, schon institutionell der Kritik entziehen, indem es von seinem Vetorecht im Sicherheitsrat Gebrauch macht.
Ein weiterer Grund dafür, dass der Westen die Auseinandersetzung nicht scheuen muss, liegt darin, dass es in diesem Diskurs nicht nur um die Doppelstandards westlicher Staaten geht. Denn hinter dem Vorwurf steckt auch eine grundsätzliche Ablehnung universeller Rechte und Prinzipien, die aus ureigenstem Interesse als „westliche Werte“ zurückgewiesen werden.
Wir müssen unsere Werte hochhalten
Einer der Wortführer ist China, das unter dem Titel „Schicksalsgemeinschaft der Menschheit“ Frieden, Sicherheit und Prosperität propagiert. Es betont dabei jedoch vor allem das Prinzip der „absoluten Souveränität“ – also die Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten – und den Respekt vor „kultureller Diversität“ als Hebel zur Relativierung der Menschenrechte. Deren offensichtliche Verletzung im eigenen Land, wie beispielsweise die Behandlung der Uiguren, bleibt außen vor.
Putin seinerseits wirbt für eine multipolare Ordnung, die auf Einflusssphären beruht und somit seine revisionistische Politik rechtfertigt. Mit anderen Worten: Der Vorwurf der Doppelstandards zielt nicht darauf ab, einheitliche Standards zu stärken, sondern darauf, auf gemeinsame Standards nach Möglichkeit zu verzichten. An die Stelle einer prinzipien- und regelbasierten Ordnung sollen Verhandlungen und Gegengeschäfte treten – seit der ersten Amtszeit Donald Trumps auch als „Deals“ bekannt; ein wesentliches Element des „Trumpism“, der voraussichtlich auch die zweite Amtszeit des gewählten Präsidenten prägen wird.
Putin wirbt für eine multipolare Ordnung, die seine revisionistische Politik rechtfertigt.
Die Frage ist, inwiefern dieser Diskurs nicht nur eine westliche, sondern eine globale Öffentlichkeit erreicht. Die Münchner Sicherheitskonferenz präsentierte dazu eine Studie, für die sie Umfragedaten aus Brasilien, Indien, Indonesien, Mexiko, Nigeria, Pakistan, Saudi-Arabien, Südafrika und der Türkei auswerten ließ – Länder, die ein Drittel der Weltbevölkerung ausmachen.
Wenig überraschend werden nicht nur China und Russland als Regelbrecher angesehen, sondern auch die USA und zahlreiche andere Länder. In einem aber ist sich die Mehrheit der Menschen in diesen Ländern einig: dass die etablierten internationalen Regeln und Prinzipien keine „westlichen“ sind, sondern den Werten und Bedürfnissen der meisten Menschen der Welt entsprechen.
Chancen auf heilsamen Austausch
Dieses Ergebnis liefert einen mehr als wertvollen Hinweis darauf, dass unsere zentralen Werte und Prinzipien eine universelle Basis haben, wenn wir sie ehrlich und glaubwürdig hochhalten. Mit diesem Wissen wird sich auch Großbritannien auf die „Konversation“ über den Sklavenhandel im Commonwealth einlassen können. Wird dieser Austausch – und weitere, die folgen dürften – wirklich respektvoll geführt, darf es darin etwa auch um die Einführung von Bildung, rechtsstaatlichen Institutionen und die späteren Leistungen der Entwicklungshilfe gehen. Für einen gemeinsamen Blick in die Zukunft könnte sich ein solcher Austausch als heilsam erweisen – für alle Seiten.
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