Putins Gehilfen
In der Debatte über die Schweizer Neutralität übernehmen links wie rechts Argumente des Kremls. Die Position der NATO-Trittbrettfahrer birgt erhebliche Risiken.

Ein Bericht sorgt im September in der Schweiz für Unruhe: Es geht darin um die Sicherheitspolitik des Landes, konkret um die Frage, wie sich das Land angesichts der verschärften Sicherheitslage in Europa aufstellen soll. Absender des Berichts ist eine vom Verteidigungsdepartement einberufene Studienkommission, in der Vertreterinnen und Vertreter der Regierungsparteien, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Zivilgesellschaft und der Kantone vertreten waren. Die Autorin dieser Zeilen war Mitglied der Kommission und Verfasserin des Berichts.
Mehr von Katja Gentinetta
Was sorgt für Unruhe? Gewiss nicht die methodischen Mängel, die von Kritikern der Empfehlungen ins Feld geführt wurden. Im Vordergrund dürften – auch wenn dies selten so gesagt wird – die Inhalte stehen. Denn konkret schlägt die Kommission eine Stärkung der Verteidigungsfähigkeit vor, einhergehend mit einer verstärkten internationalen Kooperation, namentlich mit der NATO und der EU, sowie eine an diese Ausrichtung angepasste Neutralitätspolitik.
Konflikt um Waffenausfuhr
Bei Letzterer steht die Aufhebung des Wiederausfuhrverbots von Kriegsmaterial im Fokus, die besonders bei Partnern in Europa auf Unverständnis stößt, weil sie deren Solidarität mit der Ukraine behindert. Betrachtet man die politische Gemengelage, fällt auf, dass sich besonders die politischen Pole links und rechts, also die Parteien an den Rändern des politischen Spektrums, mit dieser Stoßrichtung schwertun. Sie tun dies zwar mit ähnlichen Argumenten, aber aus unterschiedlichen Gründen.
Zunächst fällt es beiden Lagern schwer, die Bedrohungslage als solche anzuerkennen. Kann es wirklich sein, dass die Schweiz in die gegenwärtigen Konflikte hineingezogen wird? Warum sollte sich Russland für die Schweiz interessieren? Und Panzer an der Schweizer Grenze sind doch ein sehr unwahrscheinliches Szenario. Wozu also die Armee richtig ausrüsten? Derartige Zweifel haben durchaus ihre Berechtigung, blenden aber die wichtigsten Aspekte aus.
Große Entfernung bedeutet keinen Schutz
Zwar liegt die Schweiz weiter von der russischen Grenze entfernt als etwa Polen, das Baltikum oder auch der Balkan. In der hybriden Kriegsführung, zu der Desinformation und Beeinflussung, Cyber-Attacken, Spionage und Sabotage gehören, spielt die Geografie hingegen eine untergeordnete Rolle. Als Knotenpunkt von Verkehrsachsen, Drehkreuz für die Energieversorgung und andere Infrastrukturen könnte die Schweiz ein attraktives Ziel sein, um Europa als Ganzes zu treffen. Panzer braucht es dazu nicht. Eine verwundbare Infrastruktur, gepaart mit militärischer Schwäche und politischer Gutgläubigkeit, reichen völlig aus.
Die Neutralität ist der willkommene Vorwand, um die Augen vor der Realität zu verschließen.
Weder linke Russland-Sympathie noch rechtes Putin-Verständnis würden den Herrscher im Kreml davon abhalten, seine politischen Ziele – nämlich die Schwächung, ja Zerstörung Europas als politisches Gebilde – zu verfolgen. Aus der Verniedlichung der Bedrohung resultiert als zweites Argument der logisch anmutende, aber sachlich falsche Schluss: Eine Stärkung der eigenen Verteidigungsfähigkeit sei tunlichst zu vermeiden. Sie könnte – so klingt es von rechts – Putin provozieren, wie dies bereits die NATO getan hatte.
Links hingegen sieht man den Frieden in Gefahr, sollte es mehr Waffen und eine stärkere Armee geben – als ob sich ein Kriegstreiber von der Schwäche des Gegners abhalten ließe. Beide Lager übernehmen damit das Narrativ des Kremls – freilich ohne dies zuzugeben. Das müssen sie auch nicht, man weiß es auch so. Dasselbe Muster präsentiert sich derzeit in gleich mehreren europäischen Ländern.
An dritter Stelle kommt auch noch die Neutralität ins Treffen, um diese scheinheilige Argumentation mit moralischer Integrität zu garnieren: Vornehme Zurückhaltung lautet die Devise. Edler geht es kaum. Die Neutralität ist der willkommene Vorwand, um die Augen vor der Realität zu verschließen. Kein Wunder, dass NATO-Länder ihren neutralen Nachbarn Trittbrettfahrertum vorwerfen. Sie profitieren schließlich vom Schutz, ohne sich aber an dessen Kosten zu beteiligen.
Neutrale Staaten mit mäßiger Ukraine-Hilfe
Wie üblich antworten die neutralen Länder mit ihrem Einsatz im humanitären Bereich, in der Friedensförderung und in der Mediation. Ob dieser den militärischen Schutz durch die NATO jedoch zu kompensieren vermag, ist mehr als fraglich. Gemäß „Ukraine Support Tracker“, in dem das Kieler Institut für Weltwirtschaft systematisch den Wert der militärischen, finanziellen und humanitären Unterstützung an die Ukraine erfasst, können sich die neutralen Länder nicht rühmen.
Die Schweiz liegt bezüglich der Gesamtkosten auf Platz 20 (Österreich auf Platz 19), gemessen am BIP auf Platz 35 (Österreich auf Platz 18) und unter Einrechnung der Flüchtlingshilfe auf Platz 16 (Österreich auf Platz 20). Angeführt werden die drei genannten Listen von den USA, Dänemark und, bei Einrechnung der Flüchtlingsunterstützung, ebenfalls von den USA, obwohl diese sich an der Flüchtlingshilfe nicht beteiligen; auf dem zweiten Platz folgt Deutschland. Aber auch hier bilden die Zahlen nur einen Teil des Sachverhalts ab. So unzweifelhaft notwendig und geboten humanitäre Hilfe ist: Zur Abschreckung trägt sie nicht bei.
Bequeme Zurückhaltung
Insgesamt ist eine solche Zurückhaltung vorteilhaft, weil bequem und günstig, zumal in einer Demokratie. Wer keinen Handlungsbedarf erkennt, muss auch nicht handeln. Und wer nicht handeln muss, braucht sich auch über die Finanzierung keine Gedanken zu machen. In Zeiten, in denen aufgeschobene Rechnungen – etwa Energiekosten – zu Buche schlagen und die allgemeine Erwartung dahin geht, Einbußen beim Lebensstandard durch staatliche Leistungen zu kompensieren, ist eine Politik, die sich nicht auch noch mit Fragen der Sicherheit befassen muss, durchaus erstrebenswert – von Seiten der Gewählten wie der Wählenden.
Wer keinen Handlungsbedarf erkennt, muss auch nicht handeln.
Sollte sich eine solche Haltung eines Tages als mangelnde Vorausschau entpuppen, könnte das Erwachen umso böser sein. Spätestens dann müssten die Blockierer links und rechts eingestehen, dass sie sich getäuscht hatten. Oder sie sind dann an ihrem Ziel. Wenn alles drüber und drunter geht, ist Führung gefragt. Und die übernehmen sie gerne – wenn es denn sein muss, auch zusammen.