Mitleid als Vorwand
Der mörderische Überfall auf israelische Bürger löste besonders unter jungen Menschen einer Welle der Solidarität aus – und zwar mit den Tätern. Warum?

Seit dem 7. Oktober letzten Jahres lässt mich ein ganzer Fragenkomplex nicht los: Wie kommt es, dass sich plötzlich die halbe Welt auf die Seite der Palästinenser stellt, Israel anklagt und Juden attackiert? Warum findet ein Gutteil dieses Aktivismus in, an oder vor Universitäten statt – den „heiligen“ Stätten des Wissens? Und wie kommt die Aktivistin Greta Thunberg dazu, nicht mehr fürs Klima, sondern für die Palästinenser auf die Straße zu gehen? Vergleichbar sind die Anliegen ja nicht. Woran liegt das alles? Beziehungsweise: Worum geht es wirklich? Und: Wie verhalten sich in diesem Themenkomplex Forschung, Wissenschaft und Ideologie zueinander?
Mehr von Katja Gentinetta
Nicht, dass der Antisemitismus etwas Neues wäre, im Gegenteil. Seit Jahrhunderten macht er einen wesentlichen Teil der europäischen und auch der arabischen Geschichte aus. Er feiert derart Urständ, dass es mich und viele andere mehr als nur irritiert. Dass die israelische Kriegsführung kritisiert werden kann – und auch wird, selbst von langjährigen Partnern wie den USA oder Europa –, ist das eine. Dass der jüngste Krieg aber mit einem brutalen Massaker der Hamas an der israelischen Bevölkerung begonnen hat, geht zuweilen fast schon vergessen.
Wie kommt Greta Thunberg dazu, für die Palästinenser auf die Straße zu gehen?
Dass sich die junge Generation großmehrheitlich auf die Seite der Palästinenser schlägt, ist zumindest von der Ferne betrachtet noch verständlich. Bemitleidet wird das Opfer, angegriffen der Täter. Dass die unterschiedlichen Lebensumstände – arme, kinderreiche Familien hier, reiche und erfolgreiche Menschen dort – ins Schema passen, macht die Rollenzuweisung noch einfacher.
Wenn diese jungen Menschen jedoch von einem derartigen Mitleid getrieben sind: weshalb dann nur hier? Weshalb nicht auch mit den Ukrainern, die ihr Land verteidigen, und jenen, die sterben, auch ohne dass sie an den Waffen wären, weil Russland systematisch zivile Infrastruktur angreift? Und weshalb nicht auch mit den mehr als hunderttausend Armeniern, die im Oktober 2023 aus Bergkarabach vertrieben wurden? So viel selektive Solidarität verlangt eine plausible Begründung.
Kein Interesse an Wissen
Außerdem protestieren Studentinnen und Studenten von Elite-Universitäten, von denen man – Protest-Romantik hin oder her – ein paar grundlegende Kenntnisse und ein gewisses Maß an Reflexion erwarten darf. Offenbar aber wissen nur wenige, von welchem „River“ und welcher „Sea“ die Rede ist, geschweige denn, was das für den Staat Israel bedeutet. Genauer: Sie bemühen sich schon gar nicht um dieses Wissen. Dabei lehrte bereits Aristoteles in seiner Ethik, dass Unwissenheit vor Torheit nicht schützt.
Liegt es also doch an den neuen Theorien, die die Universitäten derzeit beherrschen? Einer Mischung aus der bereits in die Jahre gekommenen Critical Race Theory, akzentuiert durch Postkolonialismus und aufgehend in einem militanten Wokismus? Alle diese Denkrichtungen leben von einer Kritik an herrschenden Machtverhältnissen – was durchaus wünschenswert ist und die Welt verbessern kann. Allerdings folgt ihre Analyse einem klaren Opfer-Täter-Schema, wobei im Voraus schon feststeht, wer der Täter und wer das Opfer ist.
Beispielsweise untersucht der Postkolonialismus die Zusammenhänge zwischen kolonialen Herrschafts- und Gewaltverhältnissen und die Entstehung einer globalen, nationalstaatlichen Weltordnung. Dass dabei Europa am Pranger steht, ist richtig und verdient eine vertiefte Auseinandersetzung. Dass auch arabische Staaten Sklavenhandel betrieben, ja selbst Schwarze darin verwickelt waren und davon profitierten, muss (zumindest vorerst) ausgeblendet werden. Zuerst einmal geht es ja um das große Ganze.
Dass auch arabische Staaten Sklavenhandel betrieben, wird ausgeblendet.
Deshalb darf auch vereinfacht von einer „Kolonialmacht“ Israel die Rede sein, selbst wenn, wie der jüdische Historiker Jeffrey Herf (dessen Vater 1937 aus Deutschland in die USA emigrierte) in Erinnerung ruft, die palästinensische Führung in den Jahren 1947/48 die Möglichkeit hatte, einen eigenen Staat zu gründen, dies aber ablehnte, weil sie keinen jüdischen Staat wollte. (Sollten die propalästinensischen Studierenden entgegnen, dass Herf Partei sei und deshalb kein objektives Urteil über die historischen Hintergründe abgeben könne, würde ich entgegenhalten, dass nach ihrer woken Logik nur Juden über die jüdische Geschichte urteilen können – oder habe ich da etwas falsch verstanden?)
Wer am Pranger steht – und wer nicht
Aber vielleicht geht es ja gar nicht darum. Kürzlich schrieb ein Autorinnenkollektiv in einer Schweizer Zeitung, worum es beim Postkolonialismus geht: Dieser untersuche etwa „kapitalistische Besitz- und Ausbeutungslogiken“, und er beinhalte auch „eine selbstkritische Auseinandersetzung mit bestehendem Wissen“. – Nun, würde Letzteres ernst genommen, käme vielleicht noch ein weiterer Forschungsaspekt hinzu: die Untersuchung der sozialistischen Besitz- und Ausbeutungslogiken. Damit würde die eigentliche Auseinandersetzung mit fixen Denkschemata erst beginnen.
Der Kapitalismus ist schuld
Wenn ich den ganzen Themenkomplex ins Auge fasse, scheint mir nur eine Erklärung wirklich plausibel: Es geht um den Kapitalismus. Was alle diese Bewegungen und Argumente im Kern verbindet, ist vor allem eines: ihr Antikapitalismus. Er erklärt, weshalb das erfolgreiche Israel am Pranger steht, nicht aber das sozialistische Russland, heute nur noch ein diktatorischer Schatten seiner selbst. Er erklärt, weshalb der latente Antisemitismus wieder an die Oberfläche tritt. Und er erklärt, weshalb sich Greta jetzt auf Israel einschießt, denn auch am Klimawandel ist ja in erster Linie der Kapitalismus schuld – wer denn sonst?
Deshalb braucht es ja – und auch darin sind sich die meisten, die sich jetzt auf die Seite Palästinas schlagen, einig – einen System Change, einen Systemwechsel. Weg von der mühsamen Demokratie zur effizienten Technokratie – als Variante für die Klimaschützer; weg von der an den westlichen Werten orientierten Gesellschaftsordnung hin zur kulturellen Beliebigkeit – was vermutlich zum blutigen Kampf der verschiedenen Fundamentalisten führen würde; oder weg von zu viel Freiheit hin zur strammen Ordnung – womit Putin-Anhänger jubeln dürften.
Eine Chance aber sehe ich noch. Denn was die Verantwortlichen der amerikanischen Universitäten zum Einlenken brachte, war ausgerechnet das Kapital: Es sind die Spender, die allesamt im Kapitalismus vermögend wurden, die eines Tages ihren Geldhahn abdrehen könnten.