Lückenbüßer Arbeitsmigranten

Die Debatte um Zuwanderung in den Arbeitsmarkt ist konfus und wird von den Bedürfnissen der großen Unternehmen dominiert, sagt der Migrationsforscher Thomas Liebig. Das führt zu schlechten Maßnahmen für alle.

Eine Menschengruppe mit Koffern und Taschen in einem großen Gebäude, eine Frau in der Mitte trägt den für die Heilsarmee typischen Hut.
Victoria Station in London 1956: Angehörige der Heilsarmee und Ankommende der Generation Windrush. © Getty Images

Thomas Liebig ist Migrationsforscher an der OECD und hat viel Kritik an den Debatten über Zuwanderung und Migration: Meist werden Arbeitsmigration, Familienmigration und Flucht in einen Topf geworfen, sagt er. Und das geht zu Lasten von Unternehmen, die neue Mitarbeiter suchen, aber auch zu Lasten anerkannter Flüchtlinge, die Aufnahme und Integration brauchen. Liebig: „Wir dürfen nicht vergessen: Geflüchtete sind nicht freiwillig gekommen.“

Der Podcast

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Zuwanderung in den Arbeitsmarkt wird dringend gebraucht: Der Zentralverband des Deutschen Handwerks ist mehr als besorgt, denn bereits jetzt können 200.000 Stellen in den Betrieben nicht besetzt werden; ab 2025, wenn die Babyboomer in Rente gehen, werden drei Millionen Arbeitskräfte weniger zur Verfügung stehen.

Die bisherige Zuwanderungspolitik in Deutschland, in Österreich und der Schweiz sei nicht geeignet, den Unternehmen und insbesondere den kleinen und mittleren Betrieben in ihrer Personalnot beizustehen, erklärt Liebig. Dabei wäre den Handwerksbetrieben besonders leicht zu helfen. Etwa, indem Fertigkeiten unbürokratisch in den Betrieben selbst geprüft werden können.

Neben den bürokratischen Hürden sieht Thomas Liebig vor allem Fremdenfeindlichkeit als Hürde für gelingende Zuwanderung. Der Diskurs über Migration trägt dazu einiges bei: „Meistens werden Integrationsfragen als Problem thematisiert. Damit sollten wir aufhören. Zuwanderung ist eine Chance!“

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Zahlen & Fakten

Ein blauer Mercedes mit Gepäck auf dem Dach steht auf einer Straße in einem städtischen Wohngebiet umringt von einer Gruppe Menschen, die sich zum Fahrer im Auto herunterbeugen. Das Bild illustriert einen Beitrag über Zuwanderung und Handwerk
Mühlheim an der Ruhr 1982: Eine türkische Familie verabschiedet sich von den Nachbarn für den Jahresurlaub in der Türkei. Türkische Arbeitsmigranten wurden von Deutschland ab den 1960er Jahren gezielt angeworben. © Getty Images

Eine sehr kurze Geschichte der Arbeitsmigration

  • Industrialisierung, Agrarmodernisierung und Urbanisierung sind nach dem Migrationshistoriker Jochen Oltmer die drei wesentlichen Voraussetzungen für internationale Migration im 19. Jahrhundert. In den zunächst feudalen Gesellschaften ist Freizügigkeit keine Selbstverständlichkeit. Wer auswandern will, braucht eine Genehmigung. Mit dem Verschwinden feudaler Strukturen entstehen zum ersten Mal spezialisierte Arbeitsmärkte. Traditionelle Gesellenwanderungen bleiben nach wie vor bedeutsam, aber Migration wird international.
  • Arbeitsmigration diente immer auch dem Transfer und der Verbreitung von Spezialkenntnissen, diese Funktion nimmt auch mit der industriellen Arbeitsteilung nicht ab: „... der Transfer von Wissen durch wandernde Spezialisten war für die Einführung neuer Techniken in Maschinenbau, Textil-, Montan- oder Schwerindustrie konstitutiv“, so Oltmer in seinem Buch Globale Migration.
  • Industrialisierung und Urbanisierung führten zu ersten gezielten Anwerbemaßnahmen für Großprojekte: Von den 3.000 Arbeitern, die den Lötschbergtunnel der Schweiz bauten, stammten nur drei Prozent aus der Schweiz, die meisten kamen aus Süditalien. Für den Kohlebergbau im Ende des 19. Jahrhunderts noch ländlichen nördlichen Ruhrgebiet wurden Arbeitskräfte aus dem heutigen Polen angeworben, vor allem unqualifizierte Landarbeiter aus Ost- und Westpreußen, wo die Mechanisierung der Landwirtschaft viele Arbeitskräfte freigesetzt hatte.
Schüler sitzen in einem Klassenzimmer und lernen. Das Bild illustriert einen Beitrag über Arbeitsmigration und Zuwanderung.
Eine Nachtschule in Boston um 1900. Die Schüler sind trotz ihres jungen Alters Arbeitsmigranten, sie können nur in der Nacht lernen, weil sie tagsüber arbeiten müssen. © Getty Images
  • Die Umstellung auf Monokulturen ließ in der europäischen Landwirtschaft ab der Jahrhundertwende Saisonarbeit entstehen und brachte für die Ernte auch den Akkord aufs Feld.
  • Der Bauboom der Urbanisierung band Arbeitskräfte, löste aber, ausgehend von Boden- und Bauspekulation, rasant steigende Mieten für untere Einkommensschichten aus. In Wien brach 1873 die Börse zusammen und eine Wirtschaftskrise breitet sich aus, die den Migrationsdruck aus Österreich und Europa erhöhte.
  • Europäischer Exodus: Vor allem die Industrialisierung des Agrarsektors brachte zwischen 1815 und 1930 55 bis 60 Millionen Europäer dazu, den Kontinent Richtung Nordamerika zu verlassen, weil es auf dem Land zunehmend weniger Arbeit gab. Die meisten gingen in die USA.
  • Trotzdem gingen den USA für Mammutprojekte wie dem Eisenbahnbau Mitte des 19. Jahrhunderts die Arbeitskräfte aus. Für den Ausbau der Eisenbahn und des Telegraphennetzes wurden 40.000 chinesische Arbeiter angeheuert – sie waren bereit, die schlechten Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Auch nach dem amerikanischen Bürgerkrieg arbeiteten vor allem chinesische Arbeitsmigranten im Wiederaufbau. Die meisten gingen später wieder zurück nach China.
Eine Gruppe von Menschen posiert für ein Foto vor einem Felsen.
Tibetische Arbeiter, abwertend Coolies genannt, auf einer indischen Tee-Plantage, circa 1909. © Getty Images
  • Kolonialismus und im Zuge dessen die Expansion des Welthandels zur Jahrhundertwende lösten neue globale Formen der (erzwungenen) Arbeitsmigration aus. Nach dem Verbot der Sklaverei entwickelten Kolonialmächte wie Großbritannien das System der „Indentured Labourers“ – auch abwertend „Coolies“ genannt. Arbeitskräften wird die Passage bezahlt und die Arbeiter verpflichten sich, für einige Jahre bei geringsten Löhnen zu arbeiten. Tibetische Arbeiter arbeiten so für britische Unternehmen und Handelsgesellschaften auf indischen Teeplantagen; Portugal schickt Arbeiter aus der Kolonie Mosambique in die Goldminen Südafrikas.
  • Die Weltwirtschaftskrise in den Jahren zwischen den beiden Kriegen dämpfte die globale Arbeitsmigration. Die USA erließen immer strengere Einwanderungsbestimmungen. Die Sowjetunion jedoch forcierte aufgrund es eines Fachkräftemangels die Anwerbung ausländischer Arbeiter und Fachkräfte ab 1928: Amerikaner, Deutsche, Australier, Tschechen wurden für die großen Fabriken in der Ukraine, in Zentralrussland und Westsibirien gewonnen.
Foto von Albert Einstein in einer Gruppe von Menschen, die die linke Hand zum Schwur erhoben haben und ernst blicken. Das Bild ist Teil eines Beitrags über Zuwanderung und Qualifikation.
Der Physiker Albert Einstein, seine Tochter Margaret Einstein und Sekretärin Helen Dukas legen am 1. Oktober 1940 bei der Einbürgerungs-Zeremonie in den USA den Staatsbürgerschaftseid ab. © Getty Images
  • Zwangsarbeit war charakteristisch für die Kriegswirtschaft in Deutschland: 1944 arbeiteten acht Millionen Menschen in Zwangsarbeit bei VW, Thyssen, den IG Farben (BASF) und den anderen Industriebetrieben, die das nationalsozialistische Deutsche Reich groß gemacht hatte.
  • Der Wiederaufbau und der Anschluss an die Weltwirtschaft – Wirtschaftswunder – gelang Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg mit millionenfacher Zuwanderung. 1955 wurde der erste Anwerbevertrag mit Italien geschlossen, der Anwerbestopp kam dann mit der Ölkrise 1973. In Österreich lief schon seit 1951 der erste Anwerbevertrag mit Italien. Die USA hatten aufgrund der expandierenden Rüstungsindustrie und der boomenden Landwirtschaft in Kalifornien bereits 1942 ein Anwerbeabkommen mit Mexiko geschlossen. Bis 1964 kamen auf diese Weise rund 400.000 Mexikaner jährlich als Arbeitsmigranten in die USA.
Eine Frau sitzt in einer kleinen Halle mit vielen Nähmaschinen hinter einer Nähmaschine. In dem Bild geht es um Arbeitsmigration.
Eine italienische Arbeitsmigrantin in Australien 1967. Die 1960er Jahre waren in den Industrienationen geprägt von großen Anwerbekampagnen für ausländische Arbeitskräfte. © Getty Images
  • Die mit der Dekolonisierung ab den 1960er Jahren verbundenen Migrationsströme waren in den ehemaligen Kolonialmächten teilweise willkommen, weil Arbeitskräfte gebraucht wurden – Frankreich etwa gewährte den europäischen Algeriern die vollen Staatsbürgerschaftsrechte, den Algeriern selbst nicht.
  • Auch der British Nationality Act gewährte den Einwohnern des Common Wealth und der Kolonien einen freien Zuzug nach Großbritannien und die Aufnahme von Arbeit. Diese Generation Windrush – vor allem Einwanderer aus Togo, Trinidad, Tobago und Jamaica – kam zwischen 1948 und 1971 nach Großbritannien und linderte den Arbeitskräftemangel. Der Immigration Act 1971 beendete den freien Zuzug und band ihn unter anderem an eine Arbeitserlaubnis. 2018 wurden mindestens 83 Angehörige der Windrush Generation deportiert – mit der Begründung, ihr Aufenthaltsstatus sei nicht legal. Tatsächlich hatte die Einwanderungsbehörde die Papiere vernichtet. Zahlreiche andere Immigranten unter dem British National Act wurden 2018 staatsbürgerliche Rechte entzogen. Seit 2019 wird der Windrush Scandal aufgearbeitet.
  • Automatisierung und Digitalisierung bewirkten schon ab den 1970er Jahren, dass immer weniger Arbeitskräfte in den Industrien gebraucht wurden. Deutschland beendete die Anwerbeprogramme 1973. Die Römischen Verträge von 1957 hatten schon die entstehende Europäische Union vorweggenommen, es entstand parallel langsam ein Binnenmarkt auch für die Arbeitsmigration, die heute rund 75 Prozent aller Einwanderung in der Europäischen Union ausmacht.

Über Thomas Liebig

Thomas Liebig ist Wirtschaftswissenschaft und Senior Migration Specialist in der Abteilung Internationale Migration der OECD in Paris, wo er für Integrationsfrage zuständig ist. Er forscht zur Integration in verschiedenen OECD-Staaten und ist Mitglied der Expertengruppe für demographische Prognosen des Statistischen Bundesamtes in Deutschland und seit 2019 Mitglied der Expertenkommission Integrationsfähigkeit.

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Illustration von Rainer Münz
ist Experte für Migration und Bevölkerungsentwicklung

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