Österreich fehlt die Willkommenskultur

Österreichischen Unternehmen gehen die Fachkräfte aus. Bis 2030 könnten rund 100.000 Beschäftigte fehlen. Ohne Migration wird sich dieses Problem nicht lösen lassen. Um für Talente attraktiv zu sein, braucht Österreich eine neue Willkommenskultur.

Dresden, April 2023: Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) und Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) unterzeichnen auf dem Sächsischen Fachkräftegipfel im Hygienemuseum einen Pakt zur Gewinnung internationaler Fachkräfte und Arbeitnehmer für Sachsen
Dresden, April 2023: Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) und Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) unterzeichnen einen Pakt zur Gewinnung internationaler Fachkräfte für Sachsen. Die darin festgelegten Schritte zielen unter anderem auf eine gelebte Willkommenskultur ab und wurden gemeinsam mit Arbeitgebern, Gewerkschaften, Landkreisen, Kommunen, Hochschulen und Wirtschaftskammern erarbeitet – ein Schulterschluss, wie ihn auch Österreich braucht. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Wandel. Ausgehend von der aktuellen Altersstruktur in Österreich sinkt bis zum Jahr 2030 die Zahl der Erwerbspersonen um 100.000.
  • Alte Muster. Die Anwerbung von Gastarbeitern aus der Türkei und Jugoslawien prägt die Zuwanderung aus diesen Regionen bis heute.
  • Fachkräftemangel. Der Wirtschaft fehlen zunehmend höher qualifizierte Mitarbeiter, der Bedarf an Hilfskräften ist lokal zu füllen.
  • Talentewettbewerb. Mangelnde Willkommenskultur und hohe Abgaben machen den Standort Österreich weniger attraktiv für Arbeitsmigranten.

Wie alle anderen Industrienationen ist auch Österreich mit sinkenden Geburtenraten konfrontiert. Ohne Zuwanderung würde die Bevölkerung seit Jahrzehnten schrumpfen.

Im 20. Jahrhundert gab es drei Phasen mit besonders starken Geburtsjahrgängen, die allesamt schon lange her sind: nach dem Ersten Weltkrieg (1920 bis 1922), nach dem Anschluss von Österreich an Deutschland (1939 bis 1941), und mit etwas Verzögerung nach dem Zweiten Weltkrieg (von ca. 1960 bis 1965). Diese letzte Baby-Boomer Generation verlässt derzeit schrittweise den Arbeitsmarkt. Für Frauen begann dieser Prozess aufgrund des niedrigeren Pensionsantrittsalters bereits im Jahr 2020. Für Männer startete er im Jahr 2022.

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Auf dem Arbeitsmarkt abgelöst werden die Baby-Boomer von einer Generation, die zahlenmäßig deutlich kleiner ausfällt. Wer jetzt ins Berufsleben einsteigt, kam – je nach Ausbildungsdauer – in den Jahren 1998 bis 2007 zur Welt. Weil in diesen Jahren sehr viel weniger Babys geboren wurden, geht die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter stark zurück.  Ausgehend von der aktuellen Alters- und Geschlechtsstruktur ergibt sich für das Jahr 2030 ein Minus von fast 100.000 Erwerbspersonen.

Stille Reserven werden knapp

Die Politik muss also gegensteuern, sonst wird es zu gravierenden Verwerfungen am Arbeitsmarkt kommen. Wenn Unternehmer derzeit über den massiven Personalmangel klagen, ist das in Teilen bereits auf die beginnende Pensionierungswelle der Baby Boomer zurückzuführen.

In weiterer Folge wird dadurch auch der Druck auf unsere Altersvorsorge steigen; schließlich zahlen die Aktiven mit ihren Beiträgen die Pensionen der Älteren. Grundsätzlich gibt es nur zwei Wege, um die Anzahl der Erwerbstätigen möglichst schnell zu erhöhen: Wir können im Land vorhandene „stille Reserven“ aktivieren oder Arbeitskräfte durch weitere Zuwanderung gewinnen.

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Zahlen & Fakten

Derzeit gibt es zwei Gruppen in Österreich, die man noch für den Arbeitsmarkt gewinnen könnte: Bei beiden Geschlechtern fällt die Erwerbsquote nach dem 55. Lebensjahr drastisch ab. In dieser Altersgruppe wäre also noch Potenzial vorhanden. Die zweite Gruppe sind (junge) Mütter, die zum überwiegenden Teil nur Teilzeit arbeiten. Wie es aussieht, sind beide Bevölkerungsgruppen schwer zu mobilisieren. Dennoch sollte es hier (weitere) politische Bemühungen geben.

Frühere Willkommenskultur

Die Zahl der Erwerbspersonen durch gezielte Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte zu erhöhen, ist in Österreich eine bewährte Praxis. Der wirtschaftliche Aufschwung nach dem Krieg hatte zu einer steigenden Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt geführt. Schon damals setzte die Politik auf gezielte Migration. In den 1960er Jahren wurden bilaterale Abkommen mit süd- und südosteuropäischen Staaten ausverhandelt, um Arbeitskräfte anzuwerben.

Türkische Gastarbeiter in Deutschland bealden einen Lkw für die Heimkehr 1984
Deutschland, 1984: Gastarbeiter aus der Türkei packen ihr Hab und Gut für die Heimreise. Viele haben sich jedoch auch dauerhaft in ihrem jeweiligen „Gastgeber“land niedergelassen. © Getty Images

Mit der Türkei und mit Jugoslawien kam es in den Jahren 1964 bzw. 1966 zu erfolgreichen Abschlüssen. Österreich richtete in beiden Ländern eigene Anwerbebüros ein und es folgte ein beträchtlicher Zustrom türkischer und jugoslawischer Arbeitskräfte. Im Jahr 1961 gab es nur 271 Einwohner mit türkischer und 4.565 mit jugoslawischer Staatsbürgerschaft. Bis 1971 stiegen diese Zahlen um das 60- beziehungsweise 20-fache auf 16.423 und 93.337 Menschen an. Diese damals als „Gastarbeiter“ bezeichneten Arbeitnehmer sollten im Wege der Rotation nur für einen kurzen Zeitraum bleiben, um einen bestimmten Bedarf an Arbeitskräften zu decken.

In der Regel wollten sie jedoch länger bleiben, und die österreichischen Arbeitgeber wollten die Kosten der permanenten Fluktuation vermeiden. Also wurden die meisten Gastarbeiter dauerhaft in Österreich sesshaft. Diese Abkommen mit der Türkei und Jugoslawien hatten auch einen nachhaltigen Effekt auf spätere Einwanderungswellen.

Netzwerke wirken

Die Migrationsforschung zeigt, dass bestehende Enklaven wie ein Magnet für weitere Migranten gleicher Herkunft beziehungsweise ethnischer oder linguistischer Zugehörigkeit wirken. Dieses Phänomen lässt sich einerseits durch den Nachzug von Familienmitgliedern erklären, ist aber auch auf die Vorteile breiterer sozialer Netzwerke zurückzuführen. Ein bereits emigrierter Onkel oder ehemaliger Nachbar bieten einen guten Startpunkt für das neue Leben in der Fremde.

Solche Netzwerke sind typischerweise bei der Wohnungs- und Jobsuche behilflich, bieten aber auch psychologische und soziale Unterstützung. Es ist somit nicht verwunderlich, dass auch lange nach der Anwerbung von Gastarbeitern die meisten Zuwanderer in Österreich aus (dem ehemaligen) Jugoslawien und der Türkei kamen.

Die späteren Zuwanderer sind der ersten Kohorte der „Gastarbeiter“ nicht nur in ihrer regionalen Herkunft, sondern auch in ihrem sozioökonomischen Hintergrund sehr ähnlich. Migranten aus beiden Regionen haben einen vergleichsweise niedrigen Bildungsgrad. Während in der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund der Anteil von Menschen nur mit Pflichtschulabschluss bei neun Prozent liegt, beträgt der Wert bei Zuwanderern aus dem ehemaligen Jugoslawien (außerhalb der EU) 28 Prozent und bei jenen aus der Türkei 55 Prozent. Der durchschnittliche Bildungsgrad hat sich zwar in späteren Jahrgängen im Vergleich zur ersten Generation merklich erhöht, ist aber noch immer signifikant unter jenem der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund und auch unter jenem der Zuwanderer aus EU Mitgliedsstaaten.

Wir brauchen die Qualifizierten

Für eine erfolgreiche Erwerbskarriere wird der Bildungsgrad immer entscheidender. Die Statistik zeigt, dass unter Menschen, die nur einen Pflichtschulabschluss haben, fast jeder vierte arbeitslos ist. Das liegt weit über der allgemeinen Arbeitslosenquote von 7,5 Prozent. Je höher der Bildungsgrad desto geringer also das Risiko, arbeitslos zu werden. Es ist davon auszugehen, dass der österreichische Arbeitsmarkt in den kommenden Jahren einen hohen zusätzlichen Bedarf an qualifizierten und hochqualifizierten Arbeitnehmern haben wird.

Die Nachfrage nach Mitarbeitern ohne höhere Bildungsabschlüsse wird vermutlich aus der derzeitigen Wohnbevölkerung gedeckt werden können.

Die Nachfrage nach Mitarbeitern ohne höhere Bildungsabschlüsse wird vermutlich aus der derzeitigen Wohnbevölkerung gedeckt werden können. Aus ökonomischer Sicht braucht Österreich zur Bewältigung der demographischen Krise somit vor allem (hoch-)qualifizierte Zuwanderer.

In Bezug auf die öffentlichen Finanzen wäre es spannend zu wissen, ob Migranten einen Nettobeitrag zum Staatshaushalt leisten oder eine Nettobelastung darstellen. Diese Frage kann man empirisch zumeist nicht eindeutig klären, da viele Annahmen, wie etwa zu Erwerbskarrieren und Lebensdauer, notwendig sind. Die meisten Studien kommen zum Schluss, dass die fiskalischen Nettoauswirkungen der Einwanderung insgesamt minimal sind.

Rot-Weiß-Rot-Karte ist ein Flop

Seit dem Jahr 2002 bemüht sich die Politik etwas aktiver um die Zuwanderung von (hoch-)qualifizierten Zuwanderern aus Drittstaaten. Zunächst gab es ein System, das auf sogenannte „Schlüsselkräfte“ ausgerichtet war und durch Quotenplätze reguliert wurde. Im Jahr 2011 wechselte man zur „Rot-Weiß-Rot-Karte“ und kehrte dem Quotensystem zu Gunsten fixer Kriterien den Rücken.

Beide Initiativen bleiben jedoch hinter den gesetzten Erwartungen zurück. Als Gründe für den Flop der „Rot-Weiß-Rot-Karte“ gelten zu schwer erfüllbare Kriterien und ein überbordender Verwaltungsaufwand. Man hat den Eindruck, dass sowohl der Politik als auch der Bürokratie der nötige Wille und die Willkommenskultur fehlen.

Was wollen die Zuwanderer?

Potentielle Auswanderer vergleichen den zu erwartenden Nutzen in einem Zielland mit den Bedingungen in ihrer Heimat und wandern nur aus, wenn diese Differenz größer ist, als die Kosten der Migration. Demnach können wir an zwei Stellgrößen drehen, um Zuwanderer anzuwerben und uns gegenüber der Konkurrenz zu positionieren: Bei den Migrationskosten muss es Gebot der Stunde sein, den gesamten Antragsprozess radikal zu vereinfachen, zu verkürzen und einladender zu gestalten. Notwendig ist ein zu 100 Prozent digitales Verfahren, das die administrativen Kosten für die Zuwanderer minimiert.

Lohnunterschiede reichen nicht aus, um internationale Migrationsströme zu erklären.

Der Nutzen, den die Zuwanderer im Zielland erwarten können, wird natürlich stark von den wirtschaftlichen Gegebenheiten geprägt. Die Qualität der verfügbaren Arbeitsplätze sowie das Lohn- und Preisniveau spielen eine wichtige Rolle. Die Forschung hat aber klar gezeigt, dass Lohnunterschiede nicht ausreichen, um internationale Migrationsströme zu erklären. Die Menschen berücksichtigen in ihrer Entscheidung auch Aspekte wie die Distanz zum Heimatland oder andere Eigenschaften des Ziellandes. Hierzu gehören die soziale Sicherheit, die Größe der oben erwähnten Netzwerke und nicht zuletzt auch die Frage, wie frei sie ihre kulturelle Identität leben können.

Wie attraktiv ist Österreich?

Das „Talent Attractiveness“-Maß der OECD bewertet die Attraktivität von Zielländern aus der Sicht von hochqualifizierten Arbeitnehmern anhand verschiedener Kriterien. Österreich rangiert hier in allen Punkten (mit Ausnahme des „Familienlebens“) im Mittelfeld oder darunter. In der Kategorie „Einkommen und Steuern“ leidet Österreich natürlich unter der sehr hohen Steuer- und Abgabenquote. Diese reduziert das erwartete verfügbare Einkommen von Zuwanderern und macht uns etwa im Vergleich mit Ländern wie der Schweiz weniger attraktiv.

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Zahlen & Fakten

Migranten werden dort hingehen, wo sie den größten Ertrag für ihre Fähigkeiten erwarten können. Die Politik könnte hier gezielt mit gut kommunizierten und zeitlich befristeten Steuererleichterungen für Zuwanderer mit bestimmten Qualifikationsprofilen entgegenwirken. Das sozialdemokratisch geprägte Schweden, mit höheren Steuern als die Schweiz, schneidet jedoch auch sehr gut ab. Es punktet mit einer positiven Einstellung der Einheimischen zur Zuwanderung, hoher Geschlechtergerechtigkeit und einem dynamischen Umfeld für Forschung und Entwicklung.

Und was sagen die Einheimischen?

Ob hochqualifizierte Zuwanderer zu uns kommen – und vor allem, ob sie hier bleiben – hängt auch davon ab, wie sie von der einheimischen Bevölkerung aufgenommen werden. Wo Österreich hier im Vergleich zu anderen Ländern steht, kann man anhand von Befragungen erahnen. Im Rahmen der „World Values Survey“ werden Menschen weltweit befragt, welche Personengruppen sie lieber nicht als Nachbarn haben möchten.

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Zahlen & Fakten

In Österreich sind Migranten als Nachbarn vergleichsweise oft unerwünscht. In traditionellen Einwanderungsländern wie den USA oder Großbritannien ist die Bevölkerung gegenüber Migranten viel aufgeschlossener. Politische Entscheidungsträger müssen sich daher auch bei den Einheimischen um Akzeptanz bemühen, um gemeinsam ein einladendes Umfeld für Zuwanderer zu schaffen.

Die FPÖ profitiert – aber nicht immer

Die politökonomische Forschung hat in den letzten Jahren relativ klar herausgearbeitet, dass Migration politische Gleichgewichte beeinflusst. Die meisten Studien zeigen, dass mehr Zuwanderung die Stimmenanteile für rechts-populistische Parteien erhöht. Laut einer aktuellen Untersuchung in Österreich lässt sich im Zeitraum zwischen 1979 und 2013 rund ein Zehntel der FPÖ-Wahlergebnisse mit Auswirkungen der Migration erklären.

Im Kontext der gegenwärtigen Diskussion ist jedoch ein Detail besonders spannend: Die FPÖ profitierte ausschließlich vom Zustrom schlecht qualifizierter Zuwanderer. Immigranten mit höherer Bildung brachten der Rechtspartei keine Zuwächse. Dass wir Arbeitskräfte aus dem Ausland brauchen, ist offenbar kein Thema, das die Gesellschaft spaltet. Umso weniger ist verständlich, dass die Politik nicht längst den roten Teppich für Fachkräfte aus aller Welt ausgerollt hat.

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Conclusio

Österreichs Gesellschaft altert. Die Zahl der Erwerbsfähigen sinkt nicht nur als Anteil an der Gesamtbevölkerung, sondern auch in absoluten Zahlen. Die Wirtschaft ist daher auf Fachkräfte aus dem Ausland angewiesen. Die Gastarbeiter-Programme aus der Vergangenheit hatten gewirkt. Allerdings festigten sie auch Muster der Zuwanderung: Viele Migranten kommen noch immer aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien und weisen im Schnitt niedrigere Qualifikationen auf, als zunehmend am Arbeitsmarkt gefragt sind. Hochqualifizierte ausländische Fachkräfte wiederum wählen andere Länder als Österreich als Ziel. Um das zu ändern, sollten sie bürokratisch unkompliziert einreisen und arbeiten dürfen; um attraktiver zu werden, sollte Österreich auch ihre Arbeitseinkommen entlasten und insgesamt an einer neuen Willkommenskultur arbeiten, die Talente anzieht – aus der ganzen Welt.

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