Russland nach Nawalny
Alexej Nawalny starb am 1126. Tag seiner Haft. Sein Tod ist ein schwerer Verlust für die russische Opposition, die unmittelbaren Folgen sind jedoch überschaubar.
Gebt nicht auf! Ihr sollt, ihr dürft nicht aufgeben!
Alexej Nawalny auf die Frage, wie im Falle seiner Ermordung zu verfahren sei.
Falls dies geschieht, sind wir in diesem Moment unglaublich stark.
So unerwartet die Nachricht kam – überraschend war nur der Zeitpunkt seines Todes, nicht sein Tod selbst: Nach seiner jüngsten Verurteilung wäre Alexej Nawalny im Alter von 75 Jahren rund um das Jahr 2050 entlassen worden. Dass er in den entmenschlichten Strukturen einer russischen Strafkolonie so lange überlebt hätte, ist mehr als zweifelhaft.
Mit Nawalnys Rückkehr nach Russland im Januar 2021, geschwächt durch die Nowitschok-Vergiftung, war sein Schicksal besiegelt. Für das russische Regime war er aufgrund seiner internationalen Bekanntheit und Symbolkraft zu gefährlich geworden, um ihn ins westliche Ausland gehen zu lassen. Darum kam auch ein Austausch nicht in Frage, obwohl Gerüchten zufolge zwischen Moskau, Berlin und Washington verhandelt wurde, ihn gegen den in Deutschland zu lebenslanger Haft verurteilten Hauptprotagonisten des Berliner Tiergartenmordes, den russischen Geheimdienstagenten Wadim Krassikow, auszutauschen.
Russlands Machtsystem ändert sich
Nawalnys Schicksal zeigt die Veränderungen innerhalb der russischen Führungsriege. Die seit der Breschnew-Epoche geltende sowjetische Logik, dass mit Blick auf mögliche kritische Reaktionen des Westens prominente politische Häftlinge in der Sowjetunion nicht um ihr Leben fürchten müssen, scheint im heutigen Russland nicht mehr zu bestehen.
Die offen rechtswidrigen Haft- und Behandlungsbedingungen Alexej Nawalnys und der damit verbundene systematische Raubbau an seiner Gesundheit lassen keinen Zweifel daran, dass die Behörden den tödlichen Ausgang zumindest vorsätzlich zugelassen haben. Und angesichts der weltweiten Bekanntheit Nawalnys konnte die Erlaubnis hierzu ausschließlich von Wladimir Putin persönlich stammen.
Die organisierte politische Opposition in Russland ist zerschlagen.
Doch die Meinung des Westens ist für die Russische Föderation unter Putin bedeutungslos geworden. Damit können auch alle anderen über 700 politischen Häftlinge Russlands sich ihres Lebens nicht mehr sicher sein. Dies gilt unabhängig davon, ob die russischen Sicherheitsbehörden Nawalny ermordet haben oder ob er an den unmenschlichen Haftbedingungen gestorben ist. Die bisher bekannten Indizien sprechen jedenfalls für Mord.
Ignorieren, Abwerten, zum Schweigen bringen
Die unmittelbaren politischen Folgen von Nawalnys Ableben dürften dennoch überschaubar bleiben. In den größeren Städten kam es zu spontanen, kleineren Trauerbekundungen und vereinzelten Kundgebungen, die jedoch von der Polizei schnell aufgelöst wurden. So brachten Menschen Blumen zu den Mahnmalen für die Opfer politischer Repression der Stalin-Ära, wie beispielsweise in Moskau zum Solowezkijj-Stein. Die Behörden haben die Blumengaben umgehend entfernt.
Mit größeren Protestwellen ist nicht zu rechnen. Die organisierte politische Opposition in Russland ist zerschlagen, das Versammlungsrecht wird äußerst repressiv ausgelegt. Der Anstoß zu derartigen Protesten müsste somit direkt aus der Bevölkerung kommen – die jedoch die Nachricht über Nawalnys Tod mehrheitlich eher teilnahmslos aufgenommen hat. Vor diesem Hintergrund werden die russischen Behörden wie bisher jede Sympathiebekundung für Nawalny streng kontrollieren und bei selbst kleinstem Anlass sofort auflösen, auch unter Gewaltanwendung.
Die Reaktionen der politischen Entscheidungsträger dürften nach dem klassischen Schema ablaufen: Solange wie möglich ignorieren, falls das Ignorieren nicht zweckmäßig erscheint, abwerten (vor allem durch persönliche Geringschätzung: man erinnere sich an Putins Weigerung, Nawalnys Namen auszusprechen und seine Bezeichnung als „Berliner Patient“), und jedwede Proteststimmen umgehend zum Schweigen bringen.
Die Korruptionsjäger arbeiten weiter
Auch auf die Arbeit von Nawalnys Team wird sein Tod keine unmittelbaren Auswirkungen haben. Julija Nawalnaja kündigte am 19. Februar in einer Videobotschaft an, die Arbeit ihres Mannes fortzusetzen und schon bald die Wahrheit über Putins Mord an Nawalny zu veröffentlichen.
Der 2011 gegründete Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK), der die Korruption in den höchsten Etagen des russischen Machtsystems ins Visier nahm, wurde 2021 durch die russischen Behörden aufgelöst. Seit 2013 hatte der FBK mehr als 80 Investigativberichte veröffentlicht, darunter gegen den Regierungschef und ehemaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedew. Der Film über Wladimir Putins Luxusimmobilie in Gelendschik „Palast für Putin. Die Geschichte der größten Bestechung“ wurde im ersten Monat nach der Veröffentlichung auf YouTube über 100 Millionen aufgerufen.
Nawalny war nie der einzige russische Oppositionspolitiker und über sehr lange Zeit auch nicht der wichtigste.
Unmittelbar nach der Auflösung des FBK gründete Leonid Wolkow, ein enger Vertrauter Alexej Nawalnys, in den USA die „Anti-Corruption Foundation (ACF)“, um die Arbeit fortsetzen zu können. Neben Investigativberichten liegt dessen Aufgabe nunmehr auch in der Förderung internationaler Sanktionen gegen korrupte russische Beamte.
Wahltechnisch wird die von Nawalny eingeführte Taktik des „Smart Votings“ seine wesentliche Errungenschaft bleiben: Bei jeder Wahl soll derjenige oppositionelle Kandidat unterstützt werden, der die meisten Chancen auf Erfolg hat und nicht unter dem Einfluss des Kremls steht.
Alexej Nawalnys politisches Erbe
Worin besteht nun das politische Erbes Alexej Nawalnys? Und welche Auswirkungen hat sein Tod auf die Zukunft der russischen Opposition?
Nawalny war nie der einzige russische Oppositionspolitiker und über sehr lange Zeit auch nicht der wichtigste. Er war jedoch der einzige, dem es gelang, die Anti-Korruptionsagenda der russischen Bevölkerung zugänglich zu machen. Die Verbindung der Anti-Korruptionsagenda mit einer Anti-Putin-Agenda machte dieses Thema zum ernstzunehmenden Problem für das Regime.
In einer ersten Schockreaktion auf die Nachricht vom Tod Alexej Nawalnys zeigte sich die russische Opposition einig. Alle verorteten die Schuld, ob direkt oder indirekt, bei Wladimir Putin, betrauerten geschlossen das Hinscheiden Nawalnys und würdigten sein Leben sowie seine Verdienste in der Oppositions- und vor allem in der investigativen Aufklärungsarbeit.
Jedoch: Auch wenn Alexej Nawalny der bekannteste politische Häftling Russlands war, unumstritten war er innerhalb der russischen Opposition auch nach seiner Vergiftung mit Nowitschok und seiner Rückkehr nach Russland Anfang 2021 nicht. Von offenen persönlichen Anfeindungen gegen seine Person und seine Familie nahmen andere Oppositionspolitiker seither zwar Abstand, die Angriffe gegen seine Anhänger und seine Antikorruptionsstiftung fielen dafür zuweilen umso heftiger aus.
Navalny hätte das Potential gehabt, nach dem Ausscheiden Putins aus der Politik Russland Halt und Orientierung zu geben.
Vor diesem Hintergrund ist eine nachhaltige Einigung der russischen Opposition eher auszuschließen. Nawalnys Tod wird der Opposition weder Auftrieb geben noch ihren Zusammenhalt stärken. Daran dürfte auch das Engagement seiner Ehefrau kaum etwas ändern.
Dennoch hätten sein Leidensweg, sein Mut und sein Charisma, vor allem aber seine Authentizität und seine kompromisslose Unnachgiebigkeit im Wesentlichen – bei gleichzeitiger Bereitschaft, eigene Fehler offen anzuerkennen – in einem Post-Putin-Russland Alexej Nawalnys Aufstieg in den politischen Olymp gegen alle Widerstände ermöglichen können. Er hätte das Potential gehabt, als charismatische Integrationsfigur nach dem Ausscheiden Wladimir Putins aus der Politik das Land politisch neu auszurichten und Russland ein klares Zukunftsbild, Halt und Orientierung zu geben.
Dazu wird es nun nicht kommen. Was von ihm bleibt, ist sein politisches Vermächtnis, das er nach seiner letzten Verurteilung niedergeschrieben hat.