Putin lässt über den Krieg abstimmen

Zehn Jahre nach der Annexion der Krim und zwei Jahre nach Beginn der Invasion in die Ukraine braucht Putin einen Wahltriumph als Legitimation. Das russische Machtsystem wird dafür sorgen, dass er ihn bekommt. 

Wladimir Putin auf einer Leinwand während des 21. Kongresses seiner Partei „Einiges Russland“ am 17. Dezember 2023 in Moskau. Im Vordergrund ist Publikum zu sehen. Das Bild illustriert einen Artikel zu den Präsidentschaftswahlen in Russland.
Wladimir Putin während des 21. Kongresses seiner Partei „Einiges Russland“ am 17. Dezember 2023 in Moskau. © Getty Images
×

Auf den Punkt gebracht

  • Wahl. Vom 15. bis 17. März 2024 finden in Russland Präsidentschaftswahlen statt. Es sind Wahlen ohne Wahl, Putin steht als Sieger fest.
  • Plebiszit. Die Wahlen sollen die bisherigen Entscheidungen des Präsidenten legitimieren, insbesondere den Krieg gegen die Ukraine.
  • Zustimmung. Das Fundament von Putins Macht bilden staatliche Propaganda und die allgemeine Passivität der russischen Gesellschaft.
  • Inszenierung. Die Gegenkandidaten sind handverlesen. Sie sollen Unzufriedene an die Urne bringen und deren Stimmen möglichst aufsplittern.

An den Iden des März im Jahr 2024 wird Wladimir Putin – zum insgesamt fünften Mal und zum dritten Mal infolge – die Präsidentschaftswahlen „gewinnen“. Auch wenn es sich dabei um Wahlen ohne Wahl handelt, sind sie im Rahmen des Machtsystems Putin notwendig. Doch welche Bedeutung kommt den Wahlen in einem repressiv-autoritären Regime überhaupt zu? Welche Rolle spielen die „Gegenkandidaten“? Und warum ist die Wahl für den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine von Bedeutung?

Putins Lackmustest

Diese Wahl kann ohne Übertreibung als eine Volksabstimmung über den Krieg gewertet werden. Die Ergebnisse werden ein entscheidender Lackmustest für alle bisherigen und künftigen einschneidenden Kriegsmaßnahmen: die Intensivierung russischer Angriffe gegen zivile Ziele und kritische Infrastruktur der Ukraine, den Umstieg auf die Kriegswirtschaft und weitere Mobilmachungswellen.

Laut den Umfragedaten des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum vom 21. Dezember 2023 stieg die Unterstützung für Wladimir Putin seit Beginn der sogenannten „Spezialmilitäroperation“ stark an und bleibt auch im 24. Monat des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine mit 83 Prozent stabil hoch. Seit dem 24. Februar 2022 fiel dieser Wert zu keinem Zeitpunkt unter 77 Prozent (niedrigster Wert im September 2022). Im Januar 2022 lag die Unterstützung für den russischen Präsidenten noch bei 69 Prozent. Die Zahl der Kritiker Wladimir Putins ist dabei mit 14 Prozent stabil niedrig. 

Grundstimmung für den Krieg

Obwohl Datenerhebung und -auswertung des Lewada-Zentrums seit Februar 2022 auf Kritik stoßen, ist die stabile Zustimmung zur Staatsführung und dem Krieg gegen die Ukraine anzuerkennen – ungeachtet der nachvollziehbaren Kritik am potenziell begrenzten Aussagewert der Umfragen in einem kriegsführenden, repressiv-autoritären, hochgradig personalistischen System. 

So betont Alexej Lewinson, Leiter der Abteilung für sozialkulturelle Forschung des Meinungsforschungsinstituts, dass weniger die Kenntnis tatsächlicher Zahlen, sondern vielmehr das Verständnis der Grundstimmung in der Bevölkerung entscheidend sei. Gerade die Annahme, dass die überwiegende Mehrheit der Befragten ihre wahren Ansichten verheimlichen könnte, zeuge vom Unwillen der Bevölkerungsmehrheit, ihre Unzufriedenheit in die Tat umzusetzen. Unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen sei nur eine schwindende Minderheit dazu bereit, auf die Straße zu gehen, um ihre Meinung zu äußern, so Lewinson sinngemäß.

Ein weiterer Grund für die hohen Zustimmungswerte liegt zweifelsohne in der allgegenwärtigen Staatspropaganda über den Ukraine-Krieg seit 2014. Dabei gelingt es der russischen Führung mit einem entwaffnenden Selbstverständnis, das selbst die verruchtesten Orwell’schen Protagonisten vor Scham erröten ließe, die Fakten dieses Krieges gegenüber der eigenen Bevölkerung umzudeuten und Russland als Opfer der ukrainischen, vor allem aber der westlichen, „Aggressionspolitik“ darzustellen.

Freiwillige Passivität als Fundament des Machtsystems

Entgegen den im Westen weitverbreiteten romantischen Verklärungsmythen ist die moderne russische Gesellschaft alles andere als kollektivistisch, sondern hochgradig individualistisch und geradezu bis zur Unkenntlichkeit in einzelne Gesellschaftssubjekte atomisiert, die nicht mit-, sondern nebeneinander leben. Paradoxerweise besteht das einigende Element in der allgemeinen politischen Apathie und einer paternalistischen Grundhaltung. Die allgemeine Passivität der russischen Gesellschaft bildet das wahre Fundament des Putin’schen Machtsystems.

Die passive Akzeptanz und die Verweigerung offener Kritik an der eigenen Staatsführung in Kriegs- und Krisenzeiten sind hochgradig problematisch.

Auch wenn russische Soziologen seit Invasionsbeginn davon ausgehen, dass sich die Zahl der radikalen Anhänger des Angriffskrieges gegen die Ukraine bei höchstens 20 bis 25 Prozent bewegen dürfte: Diese passive Akzeptanz und die Verweigerung offener Kritik an der eigenen Staatsführung in Kriegs- und Krisenzeiten sind hochgradig problematisch und ermöglichen erst die aggressive Politik des Kremls. Insofern lässt sich zumindest von einer begrenzten Verantwortung der gesamten Bevölkerung für die russischen Kriegshandlungen gegen die Ukraine sprechen.

Die Staatsspitze instrumentalisiert diese Besonderheit der russischen Gesellschaft bewusst für eigene Machtzwecke und versucht – von wenigen Ausnahmen abgesehen – alles zu unternehmen, um die allgegenwärtige politische Apathie aufrechtzuerhalten. Um die Dinge unter Kontrolle zu halten, ist man allerdings auf regelmäßiges Feedback angewiesen.

Ein plebiszitäres Regime mit diktatorischen Zügen

Das russische System hat seit der zweiten Hälfte der Nullerjahre den Weg von einer elektoralen Autokratie hin zu einer zunehmend repressiv agierenden Diktatur vollzogen. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarates Russland im Oktober 2023 als eine De-facto-Diktatur einstufte, frei von jeglicher Kontrolle des Machthabers durch ein frei gewähltes Parlament oder eine unabhängige Justiz.

Doch ungeachtet der diktatorischen Entartung bleibt Russland vor allem eins: ein plebiszitäres Regime. In plebiszitären Regimen dienen die unterschiedlichen Formen der Referenda (Wahlen, Volksabstimmungen etc.) nicht dem demokratischen Wettbewerb alternativer politischer Projekte, sondern der Legitimation der durch die Staatsführung getroffenen Entscheidungen. Die positiven Abstimmungsergebnisse werden der Öffentlichkeit als Beweis für die Unterstützung der politischen Führung durch die Bevölkerungsmehrheit präsentiert.

Putins Wiederwahl als minutiöse Inszenierung

Aufgrund des plebiszitären Charakters des russischen Regimes werden die Präsidentschaftswahlen 2024 vom Kreml außerordentlich ernst genommen und von der mächtigen Präsidialverwaltung geradezu minutiös geplant. Die Präsidialverwaltung der Russischen Föderation gilt als die einflussreichste Institution Russlands, stellt eine Art Schattenkabinett Wladimir Putins dar und ist unter anderem für die ideologische Ausrichtung der Innenpolitik hauptverantwortlich.

Für 2024 hat sich die Präsidialverwaltung ein äußerst ambitioniertes Ziel gesetzt: Putin müsse seinen eigenen jüngsten Rekord aus dem Jahr 2018 (76,69 Prozent bei 67,54 Prozent Wahlbeteiligung) brechen und mit mehr als 80 Prozent Zustimmung bei einer deutlich über 70 Prozent liegenden Wahlbeteiligung im Amt bestätigt werden.

Die Stimmen von Unzufriedenen sollen durch harmlose und oberflächliche Kritik gebunden und möglichst breit gestreut werden.

Im kommenden Präsidentschaftswahlkampf kommt den „Gegenkandidaten“ eine wichtige Aufgabe zu: Sie sollen möglichst viele Menschen aus unterschiedlichen politischen Lagern und Bevölkerungsgruppen an die Wahlurnen bringen und damit dem bereits feststehenden Sieger der Präsidentschaftswahlen maximale Legitimität garantieren. Die Stimmen von Unzufriedenen sollen durch harmlose und oberflächliche Kritik gebunden und möglichst breit gestreut werden. Daher besitzen alle Kandidaten in der russischen Bevölkerung einen zumindest minimalen Wiedererkennungswert. 

Anhand der von der Präsidialverwaltung handverlesenen Gegenkandidaten werden die Staatsmedien den Wählern mit Leichtigkeit die Alternativlosigkeit Wladimir Putins vor Augen führen können. 

×

Zahlen & Fakten

Die Zentrale Wahlkommission hat elf Personen zum Sammeln der Unterstützungserklärungen zugelassen, die bis zum 31. Jänner 2024 einzureichen sind. Danach erfolgen die Prüfung und Registrierung als Präsidentschaftskandidat.

Drei Selbstbewerber (300.000 Unterstützungserklärungen). Mit Ausnahme von Wladimir Putin ist die Zulassung zur Wahl der Selbstbewerber nur wenig wahrscheinlich:

  • Wladimir Putin
  • Rada Russkich, Bloggerin
  • Anatolij Bataschew, Umweltaktivist und Blogger

Drei Nominierungen durch im Parlament vertretene Parteien (gehören der sogenannten Kreml-gesteuerten „Systemopposition“ an; bereits zur Wahl zugelassen, da keine Unterstützungserklärungen benötigt):

  • Leonid Sluzki, Parteiobmann der Liberal-Demokratischen Partei Russlands (LDPR) [rechtspopulistische bis rechtsextreme Ausrichtung; älteste Partei Russlands]
  • Nikolai Charitonow, Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) [linkspopulistische bis nationalistische Ausrichtung; Charitonow nahm an den Präsidentschaftswahlen 2004 teil und erreichte mit 13,69 % den zweiten Platz]
  • Wladislaw Dawankow, „Neue Menschen“ [wirtschaftsliberale Ausrichtung; Parlamentseinzug 2021]

Fünf Nominierungen durch nicht im Parlament vertretene Parteien (gelten als Kreml-gesteuerte Projekte; 100.000 Unterstützungserklärungen):

  • Sergei Baburin, Nominierung durch Russische Volksunion [rechtskonservative bis nationalistische Ausrichtung]
  • Andrei Bogdanow, Nominierung durch Russische Partei der Freiheit und Gerechtigkeit [linkspopulistische bis nationalistische Ausrichtung]
  • Boris Nadeschdin, Bürgerinitiative [wirtschaftsliberale Ausrichtung]
  • Sergei Malinkowitsch, Kommunisten Russlands [linkspopulistische bis nationalistische Ausrichtung]
  • Irina Swiridowa, Nominierung durch Demokratische Partei Russlands [konservative Ausrichtung]

Nur keine Überraschungen

2024 soll es im Gegensatz zu 2018 keine unliebsamen Überraschungen geben. Damals stellte die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) nach Absprache mit der Präsidialverwaltung den politisch unbekannten Agrarunternehmer Pawel Grudinin als parteilosen Präsidentschaftskandidaten auf. Der unheilvoll klingende Name seiner Obst- und Gemüsefarm im Süden Moskaus, „Lenin-Sowchose“, hatte Grudinin keinesfalls daran gehindert, nach besten Regeln eines kapitalistischen Unternehmers wirtschaftlich erfolgreich und sozial verantwortlich zugleich zu handeln. Doch zur unangenehmen Überraschung der Präsidialverwaltung bestritt Grudinin auch einen smarten Wahlkampf, sodass seine Umfragewerte innerhalb kurzer Zeit zu wachsen begannen. Auch wenn ein Wahlsieg Grudinins gegen Putin angesichts der medialen und politischen Übermacht des russischen Staatschefs kaum möglich war, zog die Präsidialverwaltung dennoch die Notbremse und führte eine intensive Schmutzkübelkampagne gegen Grudinin.

Nicht einmal der leiseste Anschein einer Alternative zum alternden russischen Staatschef darf entstehen.

Im Falle der Journalistin Ekaterina Duntsowa wollte sie die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Duntsowa war über 16 Jahre Chefredakteurin eines lokalen Fernsehsenders und wurde als unabhängige Kandidatin vor allem durch ihren Programmpunkt bekannt, den Krieg gegen die Ukraine beenden zu wollen. Aus diesem Grund ließ die Zentrale Wahlkommission Duntsowa noch nicht einmal zum Sammeln der Unterschriften für die Zulassung zur Wahl zu. Offenbar macht sich im Kreml Nervosität breit. Nicht einmal der leiseste Anschein einer Alternative zum alternden russischen Staatschef darf entstehen.

„Bunker-Opa“ auf der Zielgeraden 

Denn auch den regimetreuen russischen Beamten, Politikern und Geschäftsleuten ist das fortschreitende Lebensalter Putins nicht entgangen. Der amtierende Präsident wurde die längste Zeit „Nummer eins“, „Chef“, „Oberster“ oder einfach nur „Papa“ genannt. Nach seinem 70. Geburtstag soll Putin hinter vorgehaltener Hand von den meisten – wie einst auch der erste Präsident Russlands Boris Jelzin – nur noch „Opa“ genannt werden.

In den russischen Social Media hingegen erhielt Wladimir Putin dank der Enthüllungen Alexej Nawalnys über einen riesigen Schutzbunker unter Putins Palast in Gelendschik den wenig schmeichelhaften Beinamen „Bunker-Opa“. Und sollte nichts Überraschendes geschehen, wird „Bunker-Opa“ im März „triumphieren“. Ob zum allerletzten Mal, wird sich weisen.

×

Conclusio

Die Präsidentschaftswahlen im März 2024 werden zum Lackmustest für die Zustimmung der russischen Bevölkerung zu Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Deshalb wird der Kreml nichts dem Zufall überlassen, um Putins Wahltriumph zu sichern. Seine Gegenkandidaten dienen in dieser Inszenierung nur als Sparringpartner. Wer gefährlich zu werden droht, wurde erst gar nicht zur Wahl zugelassen. Erklärtes Ziel sind 80 Prozent Zustimmung bei über 70 Prozent Wahlbeteiligung. Putins Macht beruht auf der Apathie und politischen Passivität der russischen Bevölkerung. Sollte der Kreml sein Ziel gegen jede Wahrscheinlichkeit deutlich verfehlen, wäre dies ein erstes Anzeichen für das Bröckeln des Fundaments von Putins Herrschaft. 

Derzeit meistgelesen

Unser Newsletter