Asylstatus als Lotto-Sechser
Europas Asylsystem funktioniert nicht. Statt der irregulären Migration den Kampf anzusagen, könnten EU-Staaten dauerhafte Siedlungen für Vertriebene finanzieren. Und einen fixen Aufenthaltsstatus verlosen.
Auf den Punkt gebracht
- Asyldebatte. Kritik am Asylsystem gibt es schon lange. Ein Grund dafür: die seltenen Abschiebungen, selbst bei kriminell gewordenen Antragstellern.
- Alternative. Um die Akzeptanz für und die Sicherheit von Flüchtlingen zu erhöhen, könnte der Westen qualitativ hochwertige Lager schaffen – auch in Europa.
- Abriegelung. In diese Camps könnte jeder kommen oder zurückkehren, aber der Weg in den Rest der EU bliebe versperrt.
- Aufnahme. Einzelne Staaten können freiwillig – etwa über eine Lotterie – Bewohner aus den Siedlungen aufnehmen.
Die Welt ist ein ungerechter Ort. Einige Länder sind wohlhabend und friedlich, andere arm, unsicher und voller Gewalt. Chronisten der Aufklärung wie Stephen Pinker mögen richtig liegen, wenn sie sagen, dass Gewalt im Verlauf der Menschheitsgeschichte zurückging. Aber der Weg zu friedlicheren Gesellschaften ist holprig. Angesichts der 56 bewaffneten Konflikte weltweit, von denen viele seit Jahrzehnten andauern, leben viele Menschen in Lebensgefahr. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk waren 2021 weltweit über 84 Millionen Menschen wegen Verfolgung, Gewalt oder anderer Krisen auf der Flucht.
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Düstere wirtschaftliche Aussichten spielen zweifellos eine Rolle bei der Entscheidung vieler, ihr Glück in einem anderen Land zu suchen. So sind beispielsweise fast sechs Millionen Menschen aus Venezuela in Folge des wirtschaftlichen Chaos unter dem sozialistischen Diktator Nicolas Maduro geflohen. Eine ähnliche Dynamik ist in mittelamerikanischen Ländern wie Guatemala, Honduras und El Salvador zu beobachten, aus denen zahlreiche Asylsuchende nach Amerika aufbrechen. Laut Gallup World Poll würden 700 Millionen Menschen, darunter 31 Prozent der Bewohner der afrikanischen Länder südlich der Sahara, auswandern, wenn sie könnten.
Wohlstand steigert Auswanderung
Doch zieht man nur diese Zahlen zurate, wird die potenzielle Zahl an Migranten unterschätzt. Denn je mehr Menschen auswandern und sich erfolgreich im Ausland niederlassen, desto mehr Verwandte gibt es, die ihrerseits zu einem späteren Zeitpunkt nachkommen. Sie haben dann weniger Kosten. Außerdem verstärkt sich bei den Daheimgebliebenen das Gefühl, zurückgelassen worden zu sein. Der Entwicklungsökonom Paul Collier bezeichnet dies als einen sich selbst verstärkenden Effekt, der dazu führen kann, dass eine Mehrheit der Menschen eine Region verlässt. So geschehen in Nord-Zypern: Inzwischen leben rund doppelt so viele türkische Zyprioten in Großbritannien wie auf der Mittelmeerinsel.
Zahlen & Fakten
Studien belegen, dass die Emigration steigt, sobald vormals arme Länder ein mittleres Einkommensniveau erreichen. Menschen, die von Süden nach Norden migrieren, sind oft jung, bessergestellt und männlich. Erst wenn ein gewisser Wohlstand und demographische Stabilität gegeben sind, nimmt die Abwanderung wieder ab, wie beispielsweise in Mexiko. Armut und Einreisebeschränkungen sind somit die größten Hindernisse, die Menschen davon abhalten, auszuwandern. Diejenigen, die es dennoch in die westlichen Länder schaffen, sind Flüchtlinge oder Wirtschaftsmigranten, die sich als Flüchtlinge ausgeben, indem sie Papiere fälschen oder den Behörden glauben machen, dass sie die Voraussetzungen für eine Einreise erfüllen. Ihre Notlage und ihre Hoffnungen sind nachvollziehbar, und ich würde an ihrer Stelle dasselbe tun. Wer kann solchen Menschen einen Vorwurf machen? Und wer kann es den Behörden verübeln, jemanden nicht zum möglichen Tod in seinem Heimatland verurteilen zu wollen?
Dilemma für Demokratien
Allerdings sind westliche Länder Demokratien, in denen die Wähler das Recht haben, zu entscheiden, wer Teil der Gemeinschaft wird und wer nicht. Eine Schlussfolgerung daraus ist, dass westliche Regierungen – insofern sie die Interessen der Bürger, die sie gewählt haben, schützen wollen – Zuwanderung wirksam kontrollieren müssen. Tatsächlich zeigen Umfragen immer wieder, dass irreguläre Einwanderung das Thema Migration zumindest für konservativ gesinnte Wähler zusehends wichtiger macht. Es führt zu einem Zulauf bei nationalistisch-populistischen Parteien oder populistischen Politikern. Donald Trump ist das beste Beispiel.
Wenn die Liberalen die Grenzen nicht durchsetzen, werden es die Faschisten tun.
David Frum (US-Politikkommentator)
Der konservative US-Politikkommentator David Frum schreibt deshalb auch sehr treffend: „Wenn die Liberalen die Grenzen nicht durchsetzen, werden es die Faschisten tun.“ Internationale Flüchtlingskonventionen wurden ursprünglich für eine kleine Zahl von Schutzsuchenden entwickelt. Sie basierten eher auf universalistischen als auf national begrenzten Varianten des Liberalismus. Westliche Gerichte haben diese Konventionen uminterpretiert, mit dem Resultat, dass abgelehnte Asylbewerber nur schwer abgeschoben werden können, haben sie einmal westlichen Boden erreicht.
Legale Hürden
Gesetzliche Schranken und richterlicher Aktivismus machen es liberalen Demokratien jedoch zunehmend schwer, den Willen von Teilen der Bevölkerung nach kontrollierter Migration zu berücksichtigen. So hat der Soziologe Christian Joppke Ende der 1990er-Jahre beobachtet, dass richterlicher Aktivismus die Änderung der Staatsbürgerschafts- und Einwanderungsgesetze in Deutschland vorangetrieben hat. Ein anderes Beispiel ist Großbritannien. Von dort wurden nur sehr wenige Asylbewerber, die von Frankreich aus in kleinen Booten über den Ärmelkanal kamen, abgeschoben. Zudem erschweren es Klagen von Menschenrechtsaktivisten, kriminell gewordene Asylbewerber abzuschieben.
Auf der Suche nach einer Lösung haben westliche Länder die Strategie entwickelt, Asylbewerber in Offshore-Einrichtungen fernzuhalten. Australien empfängt die Antragsteller im pazifischen Inselstaat Nauru. Die Europäische Union hat Abkommen mit der Türkei und Libyen geschlossen, die es ermöglichen, Asylbewerber in wenig demokratische und im Falle Libyens hochriskante Länder zurückzuschicken. In den Vereinigten Staaten wurde unter Präsident Donald Trump eine Politik des „Verbleibs in Mexiko“ für Asylbewerber eingeführt. Präsident Joe Biden behielt das aufgrund der öffentlichen Meinung bei. Das Problem: Solche Einrichtungen können unmenschlich oder unsicher sein.
Dauerhafte Zufluchtsorte – weltweit
Aber was für Lösungen gibt es? Idealerweise sollten die rechtlichen Hürden in den westlichen Ländern so umgestaltet werden, dass qualitativ hochwertige Lager auf westlichem Boden möglich gemacht werden und eben gerade nicht in unsicheren oder armen Ländern außerhalb. Statt unmögliche Entscheidungen über Leben und Tod anhand des Wahrheitsgehalts von Asylanträgen zu treffen, sollte eine unbegrenzte Anzahl von Migranten in Lagern rund um den Globus aufgenommen werden können. Die reichen Ländern sollten diese finanzieren.
Es sollte eine unbegrenzte Anzahl von Migranten in Lagern rund um den Globus aufgenommen werden können.
Auch im Westen sollte es solche Lager geben. Für Nahrung, Unterkunft und Arbeitsmöglichkeiten würde idealerweise die Europäische Union aufkommen, Nicht-EU-Länder würden sie selbst finanzieren. Allerdings sollte es den Menschen nicht gestattet sein, die Lager zu verlassen, außer, um jederzeit zurück in ihre Heimatländer zu gehen, die Reisekosten würden vom Aufnahmeland übernommen. Auf diese Weise würden Wirtschaftsmigranten bald erkennen, dass ihr Wunsch nach einem neuen Leben so nicht erfüllt werden kann, und würden schließlich abreisen. Nur diejenigen, die verzweifelt Zuflucht suchen, würden bleiben, und die meisten würden sich für solche Einrichtungen in der Nähe ihres Heimatlandes entscheiden.
Mehr geschützte Menschen
Um der Ungerechtigkeit des Lebens Rechnung zu tragen, sollte in sämtlichen solchen Lagern eine jährliche Lotterie stattfinden. Deren Gewinner – vielleicht einige Zehntausend – erhielten einen dauerhaften Aufenthalt und könnten kostenfrei in ihre neue westliche Heimat reisen. Sobald Flucht und dauerhafte Niederlassung nicht mehr unweigerlich zusammenhängen, hätten die Menschen keinen Anreiz mehr, sich auf eine gefährliche Reise zu begeben. Eine derartige Politik würde das Schlepperwesen und die Risiken von Leid und Tod für Migranten ausschalten. Kein Richter müsste mehr eine schicksalhafte Entscheidung treffen, oder die Frage klären, ob ein Antragsteller lügt oder die Wahrheit sagt.
Dank einer solchen Politik würden auch mehr echte Flüchtlinge überleben, da westliche Staaten offener für Einwanderer sein könnten – gerade weil sie sich nicht verpflichten, jeden Neuankömmling aufzunehmen. Denn genau diese politische Strategie bringt wenig Popularität. Das zeigen auch Studien: Menschen lehnen eine unbeschränkte Einwanderung aus weitestgehend nichtwirtschaftlichen Motiven ab. Sie sind eher gewillt, Geld für Einrichtungen zu zahlen, als eine große Zahl von Einwanderern aufzunehmen. Hätte es in den 1930er und frühen 1940er-Jahren ein solches System gegeben, wären die Einwände in den Aufnahmeländern gegenüber jüdischen Schutzsuchenden ziemlich sicher überwunden worden, und alle Verwandten meiner Großeltern hätten den Holocaust wahrscheinlich überlebt.
Conclusio
Politiker stehen vor einem Dilemma: Immer mehr Wähler reiben sich am Thema Migration auf. Gleichzeitig verhindern die Asylgesetzgebung und unkooperative Herkunftsländer, dass irreguläre Einwanderer zurückgeschickt werden können. Eine Alternative: Statt Behörden und Richtern schicksalhafte Entscheidungen zuzumuten und die Schlepperei anzutreiben, könnten Europas Staaten allen, die Schutz suchen, eine von ihrem Territorium abgegrenzte Flüchtlingssiedlung bieten – inklusive Gesundheitsversorgung, Arbeitsplätzen und Bildungswesen. Die Kosten würde der Westen decken. Es gäbe nur einen Haken an der Sache: Für ihre Sicherheit müssten die Schutzsuchenden mit ihrer Freiheit bezahlen. Denn bis auf die Rückkehr in ihr Herkunftsland oder den Wechsel in eine andere Flüchtlingsstadt gäbe es keine Möglichkeit, die Siedlungen zu verlassen. Insofern ist der Vorschlag zwar eine Lösung – aber nur für diejenigen, für die Integration von vornherein keine Option ist.