Asylpolitik: So lassen sich Menschenrechte und Grenzschutz vereinen
Immer wieder blockieren Höchstgerichte staatliche Pläne für eine strengere Asylpolitik. Die völkerrechtliche Grundlage dahinter muss sich ändern. Wer den Schutz der Menschenrechte ernst nimmt, muss ihn an heutige Anforderungen anpassen.

Auf den Punkt gebracht
- Machtspruch. Der Europäische Gerichtshof hat Italiens Pläne für Asylverfahren außerhalb der Landesgrenzen blockiert.
- Dilemma. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verbietet regelmäßig Abschiebungen selbst von Straftätern und Gefährdern – sogar in die USA.
- Migrations-Waffe. Russland und Belarus instrumentalisieren Migration gezielt als politisches Druckmittel gegen Europa.
- Reform. Eine Anpassung der Menschenrechtskonventionen durch neue völkerrechtliche Kategorien und Präzisierungen wäre sinnvoll.
Asylverfahren in der EU dauern nach wie vor zu lange und sind extrem aufwendig. Das gesamte System würde einfacher, wenn mehr Herkunftsländer von Asylwerbern als sicher gelten würden. In solchen Fällen möchte etwa die italienische Regierung das Verfahren außerhalb der eigenen Landesgrenzen durchführen.
Doch der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat diese Pläne jüngst durchkreuzt: Als sicheres Herkunftsland gelten nur mehr Staaten, in denen die gesamte Bevölkerung sicher vor Verfolgung ist – also zum Beispiel auch sexuelle Minderheiten.
Dieses Urteil des EuGH hat eine seit langem schwelende Debatte neu entfacht: Ist der europäische Menschenrechtsschutz in seiner derzeitigen Auslegung noch mit den praktischen Anforderungen einer funktionierenden Migrationspolitik vereinbar?
Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni kritisierte das Urteil als politischen Kompetenzübergriff der Justiz und berührt damit einen wunden Punkt. Die Balance zwischen Rechtsprechung und Gesetzgebung ist in der europäischen Flüchtlingspolitik aus dem Gleichgewicht geraten. Oder anders formuliert: Es sind immer öfter Richter, die Politik machen. Die Frage lautet dabei nicht, ob Menschenrechte zur Disposition stehen, sondern ob ihre Durchsetzbarkeit auf Dauer gesichert bleibt.
Vom Schutzschild zu Lähmung
Europas Menschenrechtsschutz war einst ein Schutzschild gegen Totalitarismus. Heute droht er die Handlungsfähigkeit zu lähmen und Europas Politik gegenüber neuen Herausforderungen wehrlos zu machen. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und andere völkerrechtliche Verträge bilden das normative Fundament europäischer Rechtsstaatlichkeit. Doch sie geraten zunehmend in Konflikt mit einer Realität, für die sie nie entworfen wurden: strategisch gesteuerte Migrationsströme, eine Überlagerung von Flucht und irregulärer Migration, massenhafte Schutzgesuche mit unklarer Begründung und das wachsende Unvermögen der Nationalstaaten, ihre Grenzen wirksam zu kontrollieren.
Brisant wird die Lage, wenn Migration nicht nur die Folge von Not oder Krieg ist, sondern zu
einem außenpolitischen Instrument wird.
Besonders brisant wird die Lage, wenn Migration nicht nur die Folge von Not oder Krieg ist, sondern zu einem außenpolitischen Instrument wird – wie im Falle der belarussischen Migrationsoffensive an der polnischen Grenze oder auch der russischen Einflussnahme auf Flüchtlingsrouten nach Finnland. Solche hybriden Migrationslagen zielen nicht auf Schutz, sondern auf die Schwächung europäischer Handlungsfähigkeit und des sozialen Zusammenhalts. Das bestehende Flüchtlingsrecht kennt jedoch keine Instrumente, um mit solchen Formen staatlich orchestrierter Lenkung richtig umzugehen.
Dilemma des Rückführungsverbots
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entscheidet regelmäßig gegen Abschiebungen – auch bei verurteilten Straftätern oder islamistischen Gefährdern. Grundlage ist Artikel 3 EMRK, der ein absolutes Rückführungsverbot in Staaten vorsieht, in denen dem Betroffenen Folter oder unmenschliche Behandlung drohen könnten.
Der EGMR legt diesen Artikel seit jeher äußerst streng aus: Schon die Aussicht auf unmenschliche oder erniedrigende Behandlung – nicht nur Folter im engeren Sinn – genügt, um eine Abschiebung oder Auslieferung zu untersagen. Als unmenschlich gelten etwa Gefängnisse mit Überbelegung, systemischer Gewalt oder fehlender medizinischer Versorgung. In der Rechtsprechung des EGMR wurde sogar die Übergabe an US-Behörden untersagt, wenn dem Betroffenen dort eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf Bewährung oder Haftbedingungen in Isolationsregimen drohten. Entscheidend ist nicht das Verhalten des Betroffenen, sondern allein das hypothetische Risiko. Das führt zu einer Situation, in der selbst demokratische Rechtsstaaten wie die USA nicht als sichere Zielländer gelten. Dies zeigt das politische Dilemma der aktuellen Auslegung.
Der EGMR hat fallweise sogar die Auslieferung in die USA untersagt, wenn dem Betroffenen dort lebenslange Haft drohte.
Und diese Regel gilt ohne Ausnahme – unabhängig vom Verhalten des Betroffenen, vom Grad der Gefährdung des Aufnahmestaates oder vom Charakter des Ziellandes. In seiner Grundsatzentscheidung Chahal v. United Kingdom (1996) sowie später in Saadi v. Italy (2008) hat der EGMR jede Form von Interessenabwägung zwischen individuellem Risiko und öffentlicher Sicherheit ausdrücklich ausgeschlossen. Der Schutzgehalt von Artikel 3 wurde vom Gericht als sogenanntes jus cogens – also als zwingendes Völkerrecht – eingestuft, das unter keinen Umständen aufgehoben oder eingeschränkt werden darf.
Historisch mag das nachvollziehbar sein. Heute jedoch schafft diese dogmatische Auslegung ein erhebliches Spannungsverhältnis zwischen dem Schutz des Individuums und legitimen Anforderungen staatlicher Gefahrenabwehr. Hinzu kommt, dass viele Mitgliedstaaten – darunter Deutschland und Österreich – in ihrer nationalen Rechtsordnung die EMRK auf Verfassungsebene oder im Verfassungsrang verankert haben. Diese Einbindung erschwert politische Korrekturen zusätzlich, da sie eine einfache gesetzgeberische Reaktion auf EGMR-Urteile weitgehend ausschließt.
Drittstaat oder Wunschziel
Auch die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) kennt keine Drittstaatenregelung. Schutz wird gewährt, wenn eine begründete Furcht vor Verfolgung im Herkunftsstaat besteht – nicht, wenn ein konkreter Schutzbedarf im Zielstaat gegeben ist. In der Praxis führt das dazu, dass Personen, die zuvor auch mehrere sichere Drittstaaten durchquert haben, Schutz beantragen können, obwohl dort bereits wirksame Asylsysteme existieren. Ein global bindendes Prinzip des „ersten Asylstaates“ existiert nicht.
Die Einführung eines solchen Prinzips – etwa durch ein Zusatzprotokoll zur GFK oder im Rahmen einer multilateralen Vereinbarung – wäre ein legitimer Schritt zur Differenzierung zwischen Schutzsuche und Migrationslenkung. Es ginge dabei nicht um eine Aufkündigung der Schutzverpflichtung, sondern um deren Einbettung in ein funktionsfähiges Gesamtsystem.
Zahlen & Fakten
Artikel 31 der GFK schützt Flüchtlinge vor Bestrafung wegen illegaler Einreise, sofern sie „direkt aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht war“. In der Auslegungspraxis wird „direkt“ jedoch häufig und bewusst großzügig ausgelegt – selbst bei längerer Anreise durch sichere Drittstaaten. Eine Präzisierung, wonach der Schutz nur bei unmittelbarer Ausreise aus einem Verfolgerstaat greift, wäre rechtlich zulässig und praktisch notwendig.
Gleiches gilt für Artikel 1 F der Genfer Flüchtlingskonvention, der Ausschlussgründe bei „schweren nichtpolitischen Verbrechen“ vorsieht. Die Anwendungshürde ist hoch. Eine klarere Definition der einschlägigen Delikte – etwa schwere Sexualverbrechen, terroristische Vorbereitung oder wiederholte Gewaltkriminalität – würde dem Flüchtlingsschutz mehr Rechtssicherheit verleihen, ohne seinen Kern zu beschädigen. Eine Leitlinie des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) zu Negativkriterien könnte hier Abhilfe schaffen. Freilich fehlt sie bislang.
Machtwort der Richter
Besondere Aufmerksamkeit verdient die zunehmende Bedeutung einstweiliger Anordnungen nach der Rule 39 der EGMR-Verfahrensordnung. Ursprünglich als Notmaßnahme gedacht, um Konventionsrechte etwa bei drohender Auslieferung in Folterstaaten effektiv umzusetzen, sind diese Anordnungen heute regelmäßig migrationspolitisch relevant.
Ihre Bindungskraft ist völkerrechtlich umstritten – sie ist in der EMRK nicht ausdrücklich geregelt –, doch der Gerichtshof hat mehrfach betont, dass eine Missachtung gegen das Verbot der Verfahrensvereitelung verstoßen kann. Damit wirken die Anordnungen rechtlich bindend. Staaten geraten in eine asymmetrische Position: Rückführungen werden blockiert, politische Entscheidungsprozesse ausgesetzt, ohne gerichtliche Hauptverhandlung und ohne parlamentarische Kontrolle. Notwendig wäre eine Reform dieser Maßnahme mit klaren Begründungspflichten, verbindlichen Fristen, Rechtsmitteln und einem Mindestmaß an Transparenz.
Verpasste Debatte in der Asylpolitik
Artikel 3 der UN-Antifolterkonvention etabliert ein ebenso absolutes Rückführungsverbot wie die EMRK. Diplomatische Zusicherungen – etwa im Rahmen von Rückführungsabkommen – werden nur ausnahmsweise anerkannt. Der UN-Ausschuss gegen Folter stellt hohe Anforderungen an deren Glaubwürdigkeit und Überprüfbarkeit. Doch es fehlt an verbindlichen internationalen Standards für solche Garantien. Eine Kodifikation – etwa im Rahmen eines Zusatzprotokolls zur Antifolterkonvention – könnte Rechtssicherheit schaffen, ohne das Rückführungsverbot zu entwerten. Die Alternative bleibt ein faktisches Verbot jeglicher Rückführung, selbst bei schwersten Straftaten, wenn ein hypothetisches Folterrisiko nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann.
Auch sogenannte Pushbacks – also unmittelbare Zurückweisungen an der Grenze ohne individuelle Prüfung – gelten bislang als menschenrechtswidrig, insbesondere bei kollektiver Anwendung oder fehlendem Zugang zu Verfahren. Der EGMR hat jedoch in einem Fall 2020 eine differenzierte Perspektive eröffnet: Unter bestimmten Bedingungen – etwa bei illegalem Grenzübertritt in Kenntnis legaler Alternativen – kann ein begrenzter Spielraum für Zurückweisungen bestehen.
Dieser Präzedenzfall eröffnet die Möglichkeit einer rechtsstaatlich regulierten Grenzsicherung, sofern Mindeststandards gewährleistet sind: Zugang zu humanitärer Versorgung, Verfahrensrechte im Drittstaat und transparente Beschwerdemechanismen. Eine europäische Zusammenfassung dieser Standards – etwa im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems – wäre ein realistischer Schritt, um Grenzschutz und Menschenrechte in Einklang zu bringen.
Migration als Druckmittel
Die Instrumentalisierung von Migration als politisches Druckmittel – wie etwa an der Grenze Belarus-Polen sowie Russland-Finnland – stellt das bestehende Flüchtlingsrecht vor besonders große Herausforderungen. Dabei mehren sich die Hinweise, dass insbesondere Russland Migration bewusst als strategisches Mittel einsetzt, um politische Instabilität, sicherheitspolitischen Druck und innenpolitische Polarisierung in europäischen Staaten zu erzeugen. Dies betrifft sowohl aktive logistische Unterstützung von Migrationsbewegungen über Drittstaaten als auch die gezielte Eskalation an neuralgischen Grenzpunkten – etwa durch Visa-Erleichterungen, die Unterstützung von Schleusern oder gezielten Transport.

Mehrere Regierungen, darunter Litauen, Polen und Finnland, haben konkrete Hinweise auf eine solche Einflussnahme vorgelegt. Auch Berichte des EU-Außenbeauftragten und Warnungen baltischer Sicherheitsdienste deuten darauf hin, dass mit der Einschleusung von Migranten Europa destabilisiert werden soll.
Konvention stößt an Grenzen
Die Genfer Flüchtlingskonvention ist damit überfordert, das individuelle Schutzregime stößt hier an seine systemischen Grenzen. Nötig wäre eine neue völkerrechtliche Kategorie: „hybride Migrationslagen“ als temporäre Ausnahme, in der Staaten in begrenztem Umfang vom Regime der GFK abweichen dürfen – unter der Voraussetzung der Achtung grundlegender Menschenrechte, humanitärer Mindestversorgung, rechtsstaatlicher Verfahren und zeitlicher Begrenzung.
Eine UNHCR-Leitlinie oder ein Zusatzprotokoll könnte diese Lücke schließen, ohne den Schutzanspruch echter Flüchtlinge preiszugeben. Nach wie vor gibt es in vielen Teilen der Welt staatliche Gewalt, systematische Verfolgung und Entrechtung. Deswegen müssen Schutzsysteme glaubwürdig und funktionsfähig bleiben.
Doch wer jedes Migrationsgeschehen pauschal unter Schutz stellt, schwächt die Legitimation ebendieser Schutzfunktion. Nicht jeder, der seine Heimat verlässt, ist ein Flüchtling. Nicht jeder, der ein Schutzgesuch äußert, hat ein dauerhaftes Bleiberecht. Und nicht jeder, der zurückgeführt wird, ist ein Opfer. Die Unterscheidung zwischen Flucht, Steuerung und Missbrauch ist nicht zynisch – sie ist die Voraussetzung für eine funktionierende Menschenrechtspolitik.
Dogma überwinden
Kritiker solcher Reformvorschläge warnen vor einer Aushöhlung universeller Schutzgarantien und befürchten politischen Missbrauch. Doch Menschenrechte leben vom Vertrauen in ihre Rationalität und damit in ihre Gerechtigkeit. Wer sie zum blinden Dogma macht, riskiert, ihren gesellschaftlichen Rückhalt zu verlieren. Europa braucht eine Migrationspolitik, die schützt – aber auch steuert. Die EMRK verlangt Anpassung, nicht Erstarrung. Die GFK braucht Klarheit, nicht Entgrenzung.
Nur ein Rechtssystem, das differenziert und durchsetzbar bleibt, schützt Freiheit. Andernfalls wird es zum Vorboten seiner eigenen Auflösung – mit dramatischen Folgen für Europa. Denn wer jede Migrationsbewegung pauschal schützt, der macht sich blind für strategische Einflussnahme und wehrlos gegenüber jenen Akteuren, die Migration als Waffe einsetzen. Europas menschenrechtliche Ordnung muss auch gegen hybride Erpressung verteidigungsfähig sein, durch klare Regeln, rechtsstaatliche Verfahren und politische Souveränität.
Schutz und Steuerung
Der Weg zu einem durchsetzbaren Menschenrechtsschutz führt nicht über dessen Aushöhlung, sondern über rechtlich fundierte, institutionell verankerte und politisch tragfähige Mechanismen. Das betrifft sowohl das Gemeinsame Europäische Asylsystem als auch internationale Rückführungsabkommen.
Wichtig wären belastbare Kooperationsformate mit Drittstaaten und nicht zuletzt eine strategisch ausgerichtete Rolle des UNHCR als normativer Impulsgeber. Nur wenn Schutz und Steuerung gemeinsam gedacht werden, bleibt Europas Ordnung wehrhaft und glaubwürdig zugleich.
Wer den Schutz der Menschenrechte ernst nimmt, muss ihn reformieren. Menschenrechtskonventionen entstanden einst als Antwort auf historische Unrechtserfahrungen, man sollte sie nicht als quasi-religiöses, starres oder dogmatisches System betrachten. Sonst schützen sie am Ende niemanden mehr.
Weiterführende Quellen:
Die Genfer Flüchtlingskonvention zum Nachlesen auf der Seite des UN-Flüchtlingshilfwerks
Conclusio
Klemme. Gerichte blockieren durch strenge Auslegung der Menschenrechtskonventionen immer öfter eine effektive Migrationspolitik. Zugleich setzen Staaten wie Russland Migration gezielt als Druckmittel gegen Europa ein.
Paradox. Ein ursprünglich als Schutzschild gegen Totalitarismus konzipiertes Rechtssystem droht die demokratische Handlungsfähigkeit zu lähmen und macht Europa wehrlos gegenüber strategisch orchestrierten Migrationsströmen.
Eingreifen. Die Europäer sollten daher die Rechtslage reformieren. Wichtig wären klare Drittstaatenregelungen, präzisierte Ausschlusskriterien – etwa für Straftäter – und neue völkerrechtliche Kategorien für hybride Bedrohungslagen.