Europas Autoindustrie wird nicht untergehen

Die Bedrohung für die europäische Autoindustrie ist ernst, aber möglicherweise nicht lebensbedrohlich. Denn die chinesische Invasion kommt langsam genug, um gegensteuern zu können.

Das Elektroauto BMW i3 auf der einer Straße in Barcelona. Das Bild illustriert einen Artikel über die europäische Autoindustrie.
Die europäische Autoindustrie habe sich zu spät in der Elektromobilität engagiert, heißt es oft. Das ist falsch: Der kompakte, vernünftig dimensionierte BMW i3 kam gleichzeitig mit dem luxuriösen Tesla Model S auf den Markt, bescherte dem Hersteller wegen mangelnder Nachfrage aber Milliardenverluste. © Viacheslav Khmelnytskyi / Alamy Stock Photo
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Auf den Punkt gebracht

  • Risiko. Mit dem Verbrenner-Verbot ist Europa ein beachtliches wirtschaftliches Risiko eingegangen.
  • Chance. Der Abschwung dürfte jedoch eher sanft stattfinden, sodass es viele Möglichkeiten geben wird, um gegenzusteuern.
  • Gewinner. Wer auf flexible Produktionsstraßen gesetzt hat, die den Bau aller Antriebssysteme am gleichen Band erlauben, gehört nun zu den großen Gewinnern.
  • Mehrwert. Europäische Hersteller müssen neben Antriebstechnologie auch in Software und Markenwert investieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

In regelmäßigen Abständen gehen Schockwellen durch die Medien. Die Autoindustrie habe die Elektromobilität verschlafen, sie sei nun schutzlos chinesischen Billigimporten ausgeliefert, am Ende würden die klassischen Hersteller ein Siechtum neben den neuen, schicken Elektromarken erleiden.

Beispiele für das Schicksal verpasster Technikwenden gibt es ja genug: Kodak, Polaroid, Nokia, AOL – alle einst unangefochtene Weltmarktführer, die in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht sind. Mit dem Verbrenner-Verbot ab 2035 hat die EU-Kommission der chinesischen Autoindustrie zweifellos einen großen Dienst erwiesen. Mit der Einschränkung auf eine Technologie, bei der sich die eigene Industrie nicht an der Spitze befindet, ist man ein beachtliches wirtschaftliches Risiko eingegangen. Allein in Deutschland hängen über 740.000 Arbeitsplätze direkt an der Autoindustrie.

Trotzdem muss gesagt werden: Ja, die Situation ist ernst, auch scheinen die besten Zeiten vorbei zu sein (vor allem für die in dieser Branche überdurchschnittlich hoch bezahlten Arbeitnehmer). Aber der Abschwung dürfte eher sanft, wahrscheinlich sogar über Jahrzehnte hinweg stattfinden, sodass es viele Möglichkeiten geben wird, um gegenzusteuern.

Tatsache bleibt, dass durch das Zusammenspiel aus Elektrowende und dem chinesischen Angriff auf Europas Märkte – und diese beiden Faktoren sind untrennbar miteinander verbunden – die europäische Autoindustrie wahrscheinlich vor die größte Herausforderung seit ihrem Bestehen gestellt wird.

Noch sprudeln die Gewinne in der Autoindustrie

Derzeit geht es den Herstellern gut. Die aktuelle Lage könnte man sogar als blendend bezeichnen. Zwei Jahre nach Corona haben sich die Lieferketten normalisiert. Zwar ist die Nachfrage infolge der Inflation und einer leichten Rezession derzeit gedämpft, sie liegt aber noch immer deutlich über dem Niveau vor 2008.

In den ersten drei Quartalen des Vorjahres haben die drei großen deutschen Autokonzerne VW, BMW und Mercedes sowie Stellantis – entstanden aus der Fusion von Peugeot, Citroën, Fiat, Alfa Romeo, Chrysler u. a. – tolle Ergebnisse erzielt, zum Teil sogar Rekordgewinne.

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Zahlen & Fakten

In den kommenden Jahren könnte die Europäer allerdings der Umstand treffen, dass sie bei der E-Mobilität nicht über die gleiche Marktmacht verfügen wie im klassischen Automobilbau. Dies zeigt sich unter anderem im Anteil der E-Autos an der Gesamtproduktion, der im Schnitt unter zehn Prozent liegt. Hier wäre inzwischen bei jedem Hersteller einige Luft nach oben.

Die mittelfristig wohl bleibende Kaufzurückhaltung bei Elektroautos hat mehrere Gründe: Early Adopter waren auch mit hohen Preisen und lückenhaftem Modellangebot zufriedenzustellen. Nun folgt eine Kundschaft, für die der Autokauf kein Glaubensbekenntnis darstellt. Es wird härter gerechnet, und in wirtschaftlich unsicheren Zeiten entscheidet man sich doch lieber für den deutlich preiswerteren Verbrenner. Objektiv betrachtet sind E-Autos noch immer viel zu teuer. Die derzeit gehypten Einstiegsmodelle unter 20.000 Euro stehen in Konkurrenz zu beispielsweise einem Dacia Sandero, der nur etwas mehr als die Hälfte kostet (in Österreich ca. 12.000 Euro) und über höheren Alltagsnutzen verfügt.

Erst ein echtes Billigangebot wie der in China für umgerechnet etwa 10.000 Euro angebotene BYD Seagull könnte zu einem Gamechanger à la iPhone werden. Stärkstes Signal für den abklingenden Elektroboom sind die Standtage von Neufahrzeugen bei den Händlern, die sich inzwischen auf Verbrenner-Niveau befinden.

Tesla hat in den letzten Monaten mehrmals die Preise gesenkt, was sich wiederum ungünstig auf den Gebrauchtwagenwert auswirkt. VW musste zwischenzeitlich sogar die Produktion in den ID-Fabriken zurückfahren. Wer wie BMW auf flexible Produktionsstraßen gesetzt hat, die den Bau aller Antriebssysteme am gleichen Band erlauben, gehört nun zu den großen Gewinnern.

E-Auto-Produktion nicht rentabel

Bei traditionellen Herstellern lässt sich die tatsächliche Rentabilität im Bereich der Elektromobilität nur schwer einschätzen, zu groß sind die Möglichkeiten der Kostenverschiebung innerhalb eines Konzerns. Es scheint aber sehr unwahrscheinlich, dass irgendein europäischer Hersteller derzeit bei der E-Auto-Produktion profitabel ist.

Ford hat die Elektro-Verluste in den USA im dritten Quartal 2023 auf eine Milliarde Dollar beziffert, GM-Chefin Mary Barra zeigte sich mit den Ergebnissen „sehr unzufrieden“. Es gilt sowohl für die USA als auch für Europa: Der Massenmarkt ist noch nicht reif für den ganz großen Durchbruch. Es fehlt an Modellen, Ladeinfrastruktur und letztlich an mehrheitlicher Zustimmung. Und sollte in den USA ein Klimawandelleugner nächster Präsident werden, dürfte das die Elektromobilität um Jahre zurückwerfen.

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Zahlen & Fakten

Die europäischen Hersteller würden von einer langsameren Transformation profitieren. Bei Verbrennern bleibt ein hoher Teil der Wertschöpfung in Europa, während die teuren Batterien aus China bezogen werden müssen. So hat der Stellantis-Chef Carlos Tavares inzwischen eine komplette Kehrtwende hingelegt: Beim Beschluss des Verbrenner-Aus noch glühender Elektro-Fan, fordert er inzwischen eine Flexibilisierung der Regelung.

Bei VW mussten Konzernchef Herbert Diess und Audi-Chef Markus Duesmann wegen ihrer exponierten Elektropolitik gehen. Über die Zukunft der EU-Autoindustrie werden nicht ausschließlich die Antriebssysteme entscheiden. Es werden jene Hersteller die großen Verlierer sein, die in ihrem Markenbild keinen klaren Mehrwert vermitteln. Oder einfacher ausgedrückt: Warum soll man einen teuren Europäer kaufen?

Die Produktion in Europa war in den letzten Jahrzehnten schon teurer als in Asien. Aber die Hersteller hatten sich mit hochwertigen Produkten so stark etabliert, dass trotz der Mehrkosten eine gute Rentabilität möglich war. So gesehen ist es wahrscheinlich, dass die europäischen Massenhersteller mehr verlieren werden als Premiummarken.

Die Situation wird aber insgesamt schwieriger. Wer heute einen entscheidenden Technologie-Zug verpasst, dem kann es schnell passieren, dass sich eine Produktion in Hochlohnländern wie Deutschland oder Österreich nicht mehr rechnet. Die traditionellen Hersteller befinden sich somit in der Zwickmühle, dass sie Verbrenner und Elektromodelle parallel entwickeln müssen – mit entsprechenden Kostennachteilen. Hier sind die neuen Elektromarken klar im Vorteil.

Jeder klassische Hersteller wäre schlecht beraten, ganz auf den Verbrenner zu verzichten.

Andererseits wird das E-Auto in Schwellenländern auch in Zukunft keine große Rolle spielen. Dort fehlt es sowohl an Bewusstsein als auch an Infrastruktur. Mit steigendem Wohlstand werden in diesen Ländern die Verkaufszahlen steigen. Jeder klassische Hersteller wäre schlecht beraten, ganz auf den Verbrenner zu verzichten.

In Europa werden die chinesischen Hersteller Fuß fassen können, es wird aber in absehbarer Zeit nicht zur befürchteten Invasion kommen. Sie können zu konkurrenzlosen Kosten produzieren und haben bei Qualität und Design deutlich zugelegt. Zudem hilft den Chinesen der gesellschaftliche Wandel beim Thema Auto. Die Rolle als Statussymbol schwindet, noch mehr zählt aber die Frage, ob der Kunde in Zukunft bereit sein wird, viel Geld für kaum relevante Unterschiede in Design, Fahrverhalten, Haptik oder allgemeiner Qualitätsanmutung auszugeben. Wird der Autokauf in Zukunft weniger emotional gesehen, wäre das fatal für die Europäer.

Andere Ansprüche ans Auto

Bisherige technische Highlights einer Marke – perfekt zusammengefasst im 1971 eingeführten Audi-Werbeslogan „Vorsprung durch Technik“ – zählen immer weniger. Die neuen Parameter sind eine leistungsfähige Software, die online upgedatet werden kann, und eine perfekt gestaltete Kommunikation mit der Außenwelt.

Auf diesen Gebieten liegen Tesla und einige chinesische Hersteller ebenfalls klar vorne. Und hier ist für die Europäer die Gefahr, abgehängt zu werden, mindestens ebenso groß wie bei der Elektro-Transformation.

Andererseits ist das Auto noch immer ein sehr spezifisches Konsumgut. Von Immobilien abgesehen, ist es meist die größte Einzelinvestition eines Menschen. Natürlich zählen ein punktgenaues Design und coole Software-Applikationen, es geht aber auch um Qualitätssicherheit, Vertrauen und – noch immer – um Markenloyalität. Neuankömmlinge müssen auch tadellos funktionierende Vertriebs- und Servicestrukturen aufbauen – und die Kunden hierzulande sind weltweit die anspruchsvollsten. Wegen des geringen Bekanntheitsgrades der Marken muss viel Geld für Werbung in die Hand genommen werden.

Insgesamt ist anzunehmen, dass die gleiche Investition in einem Schwellenland schneller zum Erfolg führt. Somit ist wahrscheinlich, dass es zu keiner „gelben Invasion“ kommt und der Markteintritt ähnlich wie bei den Koreanern verläuft. Hyundai brauchte fast 30 Jahre, um in Deutschland fünf Prozent Marktanteil zu erreichen, und ein guter Teil der in Europa verkauften Fahrzeuge wird in Tschechien produziert. Dementsprechend wäre ein Marktanteil von „nur“ fünf Prozent bis 2030 ein großer Erfolg für die chinesischen Hersteller.

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Conclusio

Die europäische Autoindustrie steht vor großen Herausforderungen, immer wieder ist zu lesen, dass sie die Elektromobilität verschlafen hat, ein hohes wirtschaftliches Risiko eingehe und chinesische Billigimporte drohen. Allein in Deutschland hängen über 740.000 Arbeitsplätze von der traditionellen Autoindustrie ab. Trotzdem ist die Umstellung auf Elektromobilität eher als langfristiger Prozess zu sehen, der somit auch Chancen zur Anpassung bietet. Denn trotz guter aktueller Gewinne der großen Autokonzerne liegt der E-Auto-Anteil unter zehn Prozent. Zudem hängt die Zukunft der EU-Autoindustrie nicht nur von Antriebssystemen, sondern auch vom jeweiligen Markenwert ab. Letztendlich ist aber kein schneller Marktdurchbruch chinesischer Hersteller in Europa erwartet, da Qualität, Vertrauen und Markenloyalität weiterhin zählen.

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