Bibliotheken: Alles außer veraltet
Bibliotheken sind immer noch Archive des Wissens, aber sie machen derzeit eine zweite Karriere – als Rückzugsort, Arbeitsplatz und Ort der Begegnung.
Auf den Punkt gebracht
- Altehrwürdig. Bibliotheken gibt es schon seit etwa 5.000 Jahren. Die Bibliothek von Alexandria im Alten Ägypten war die größte antike Büchersammlung.
- Wissensspeicher. Der Verlust der Bibliothek von Alexandria war zugleich auch ein kultureller Gedächtnisverlust: Bibliotheken speichern, was sonst vergessen wird.
- Archivierung. Millionenstarke Sammlungen an Texten werden heute weltweit digitalisiert, um sie global zugänglich zu machen – und ihr Überleben zu sichern.
- Innovativ. Bibliotheken gehen aber auch mit dem Schritt der Zeit. Von digitalen Bücherabos bis hin zu gemütlichen Diskussionsorten bieten sie viele neue Services.
Jeder, der schon einmal in einer Bibliothek gewesen ist, kennt die einzigartige Atmosphäre in Lesesälen: Es sind Orte der Konzentration, des Rückzugs, des kollektiven Schweigens, wo gemeinsam und doch vereinzelt mit viel Disziplin gearbeitet wird. Erstaunlich, dass Bibliotheken trotz dieses strengen Rufs von vielen Menschen geliebt werden. Nicht nur Studierende kommen gerne in den Lesesaal, weil sie dort besser und konzentrierter arbeiten können als zu Hause.
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Das Arbeiten in Bibliotheken ist ein weltweiter Trend, der in den letzten 25 Jahren an Dynamik gewonnen hat. Obwohl Wissen zunehmend digital und ortsunabhängig abrufbar ist, kommen besonders die jungen Leute hierher. Lernen ist eine geistige Leistung, die sich auch im 21. Jahrhundert nicht grundlegend verändert hat. Wer liest, egal was, bereichert seinen Erfahrungsschatz, kommt ins Nachdenken und wird damit tatsächlich zu einem anderen Menschen. Das Ziel eines Lesenden ist es, sich eine Meinung zu bilden, einen Standpunkt zu entwickeln oder Argumente für Diskussionen zu sammeln. Bibliotheken unterstützen und fördern diesen Bildungsprozess.
Neue Bedeutung, alte Wirkung
Seit es sie gibt, haben Bibliotheken schon viele Bedeutungswandel durchgemacht. Ich forsche zur Geschichte der modernen Bibliotheken. Ursprünglich waren das einmal Orte, an denen – ganz banal – Bücher aufbewahrt wurden. 1851 erbaute Henri Labrouste in Paris die erste Benutzungsbibliothek. Sie bot Platz für 400 Menschen und war eine völlig neue Art von Bibliothek, eben durch den Lesesaal. Damit verbunden waren materielle Veränderungen wie der Einbau von Heizungen und künstlichem Licht.
Wer liest, egal was, bereichert seinen Erfahrungsschatz und wird zu einem anderen Menschen.
Der Lesesaal prägte die neue Benutzungsfunktion von Bibliotheken und setzte sich weltweit durch. Bis 1930 ist dieses Prinzip eigentlich überall auf der Welt zu beobachten. Bibliotheken wurden mit Toiletten und Empfangsräumen ausgestattet, es wurden Garderoben und Pausenräume eingerichtet. Später kamen auch Cafés und Kantinen dazu. In der von Hans Scharoun geplanten und 1978 eröffneten Staatsbibliothek am Kulturforum in Berlin lief das Café so gut, dass es stark erweitert werden musste. Aktuell bemühen sich Bibliotheken darum, mehr Bequemlichkeit zu bieten und nicht nur Tische und Stühle, sondern auch Möbel wie zu Hause bereitzustellen.
Roboter mit Gummifinger
In den USA haben öffentliche Bibliotheken mehr Funktionen als in Europa. Sie bieten nicht nur Computerarbeitsplätze an, sondern helfen auch dabei, Dinge zu reparieren oder Behördengänge zu erledigen. Überall bemüht man sich heute um die Einrichtung unterschiedlicher Zonen, etwa für das Arbeiten in kleinen Gruppen.
Man weiß auch, dass Bibliotheken Orte des sozialen Austausches sind. Das wird gegenwärtig nicht zuletzt durch die zunehmende Digitalisierung bewirkt; in den vergangenen 20 Jahren haben sich die nötigen Regalflächen für Bücher merklich reduziert, weil Gedrucktes digitalisiert wurde oder gleich digital produziert und bereitgestellt wird. Umso mehr Platz bleibt für Begegnungen.
Zahlen & Fakten
Digitalisierung ist auch für Altbestandsbibliotheken attraktiv, wenngleich sehr kostspielig. Dabei gibt es zwei Vorgehensweisen: Für die Retrodigitalisierung von Handschriften und alten Drucken wird weltweit die sogenannte Grazer Buchwiege verwendet. Es ist ein eigens entwickeltes Gerät mit fix installierter Kamera und Beleuchtung, mit dem empfindliche Handschriften Seite um Seite fotografiert werden. Das Umblättern erfolgt händisch. Für weniger wertvolle Druckwerke wurde dieser Prozess automatisiert. Dafür gibt es Roboter mit einem integrierten Gummifinger, der jede Seite ein bisschen anstupst, damit sie von einem Gebläse erfasst und umgeblättert wird.
Das hat den Vorteil, dass diese Maschinen Tag und Nacht laufen können. Viele große Bibliotheken, etwa die Staatsbibliothek in München oder die Österreichische Nationalbibliothek, haben diesen Prozess bereits hinter sich. Nun kann per Suchfunktion „gelesen“ werden, was neue Möglichkeiten der Recherche eröffnet.
Zahlen & Fakten
Bücherverbote – kein Ereignis der Vergangenheit
- In den USA finden derzeit landesweit Diskussionen über Bücherverbote statt. Traurige Vorreiter in der Statistik sind die – traditionell republikanischen – Bundesstaaten Texas, Florida, Missouri, Utah und South Carolina.
- Im ersten Schulhalbjahr 2022-23 listet PEN America’s Index of School Book Bans 1.477 Verbote einzelner Bücher auf, ein Anstieg von 28 Prozent im Vergleich zu 2022.
- Die überwältigende Mehrheit der Bücherverbote zielt weiterhin auf Werke von und über People of Color und LGBTQ+ Personen ab, darunter And Tango Makes Three, ein Bilderbuch über zwei männliche Pinguine, die ein Küken aufziehen, und The Bluest Eye von Nobelpreisträgerin Toni Morrison.
- Als Rechtfertigung für die Einführung neuer Legislatur für Bücherverbote wird oft der Vorwurf angebracht, Schulen verbreiteten „pornografisches Material“.
- Am 16. Mai 2023 haben PEN America, eine Organisation für freie Meinungsäußerung in den USA, das Verlagshaus Penguin Random House sowie eine Gruppe von Autoren und Eltern eine Bundesklage gegen die Schulbehörde von Escambia County in Florida eingereicht, weil deren Bücherverbote gegen den ersten und 14. Verfassungszusatz (Verbot einer Staatsreligion und Gleichbehandlungsklausel) verstoßen.
Was vielleicht nicht allen bewusst ist: Bibliotheken sind Archive für das Zeitgeschehen und öffnen Zugänge in die Vergangenheit, frei von Zensur. Wie wichtig das ist, sieht man überall in Europa. Die Vergangenheit kann nur aufgearbeitet werden, wenn historische Quellen ungehindert zur Verfügung stehen. Geöffnete Archive sind ein Zeichen von Demokratisierung, weil sich der Blick auf Sachverhalte verändern kann. Das war und ist in Deutschland etwa bei der Nachverfolgung von Beschlagnahmungen in der Nazi-Zeit der Fall.
Wissen unter Strom
Ein Beispiel dafür, wie die multimediale digitale Zukunft aussehen könnte, ist das „Internet Archive“ in San Francisco. Es ist eine private Stiftung öffentlichen Rechts. Dort wird das gesamte weltweite Internet regelmäßig gespeichert. Über die „Wayback Machine“ kann jeder, der das möchte, nachsehen, wie das Netz vor zehn Jahren aussah. Im „Internet Archive“ werden aber auch zahlreiche internationale Fernsehprogramme rund um die Uhr gespeichert, dazu Konzerte und Software. So gibt es eine kleine Hoffnung, dass unser digitales Gedächtnis auch künftig abrufbar bleibt. Ansonsten werden nachkommende Generationen nicht erfahren, was unsere Welt tagtäglich erfüllt hat. Und klar, all das braucht riesige Speicherkapazitäten und sehr viel Strom.
Im besten Sinne sind Bibliotheken Archive für demokratische Gesellschaften – und damit für eine gute Zukunft.
Besonders wichtig bleibt aber das menschliche Interesse. Gespeichertes Wissen an sich ist wenig wert. Um zu verstehen, braucht man den Kontext; Wissen lässt sich nur weitergeben, wenn es aufbereitet und erklärt wird. Ich denke, dass die Flut an Informationen im digitalen Zeitalter eine besondere Herausforderung für kritisches Denken sein wird. Schon jetzt bringen Fake News die Menschen durcheinander. Kritische Aufarbeitung unserer digitalen oder digitalisierten Kultur wird besonders in der Zukunft wichtig sein. „Lesen“ wird weiterhin eine selbst veranstaltete Fortbildung bleiben.
Mehr Sessel, mehr Loungen
Welche Herausforderungen ich für die Zukunft noch sehe? Bibliotheken sind, kulturell betrachtet, in nationalen Kontexten entstanden. Heute ist die Welt global vernetzt, vereint digital viele Sprachen und Kulturen. Bibliotheken sollten diese Internationalisierung von Wissen unterstützen und gleichzeitig die nationalen Kulturen respektieren. Das ist eine Gratwanderung.
Wenn es nur um die Räumlichkeiten geht, sehe ich viel Potenzial. Benutzungsbereiche müssen weiterentwickelt werden: mehr Sessel, mehr Loungen, vielleicht sogar Kinos. Dafür könnten die Magazine effektiver genutzt werden. Von einem gedruckten Buch braucht man nicht mehr alle Exemplare, sondern nur mehr wenige, gut gesicherte. Ich würde nie auf ein einziges Exemplar heruntergehen, denn Kriege wird es leider immer geben. Wir haben das bei den Bibliotheken in Sarajewo und Timbuktu gesehen, wir sehen es jetzt in der Ukraine. Im besten Sinne sind Bibliotheken, denke ich, die Archive für demokratische Gesellschaften – und damit für eine gute Zukunft.
Conclusio
Über Jahrhunderte waren Bibliotheken Aufbewahrungsorte von Büchern. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, überall in Europa entstanden Lesesäle. Mittlerweile ist der Großteil der Bücher und Handschriften per Roboter digitalisiert und ortsunabhängig abrufbar. Trotzdem haben die Lesesäle nicht an Beliebtheit verloren. Im Gegenteil: Studierende nutzen diese Orte, an denen sie sich konzentrieren können, mehr denn je. Auch außerhalb der Prüfungszeiten sind Bibliotheken voll ausgelastet. Mit der Digitalisierung stehen Bibliotheken allerdings vor neuen Herausforderungen hinsichtlich der Archivierung von aktuellem, nur digital verfügbarem Wissen. Als Archive sind sie wichtige und symbolträchtige Institutionen in demokratischen Gesellschaften.
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