Illustration von Demonstranten mit pro-Atomkraft-Schildern

Klimaretter Kernkraft

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Auf den Punkt gebracht

  • Energiewende. Die Möglichkeiten für Energieeinsparungen sind vor allem in Europa begrenzt. Für mehr grüne Energie führt kein Weg an der sauberen Kernkraft vorbei.
  • Technik. Die neuen Reaktortypen haben nichts mehr mit Anlagen wie Tschernobyl gemeinsam. Sie sind sicherer, effizienter und günstiger in Bau und Betrieb.
  • Klimaretter. Kernkraftwerke emittieren keine schädlichen Klimagase. Anders als Wind und Sonne produzieren sie schwankungsfrei Strom. Das stabilisiert die Netze.
  • Wettbewerb. Global entstehen dutzende neue Anlagen. Der überstürzte Atomausstieg Berlins wird außerhalb Europas nicht nachahmenswert gesehen.

Gerade zwölf Monate wird es noch dauern, bis in Deutschland das Atomzeitalter nach über sechs strahlenden Jahrzehnten zu Ende geht. Der erste kommerzielle Reaktor der Bundesrepublik nahm 1961, als die Berliner Mauer gebaut wurde, den regulären Betrieb auf, spätestens im Dezember 2022 werden die letzten der heute noch sechs verbliebenen Kernkraftwerke endgültig abgeschaltet und danach abgewrackt – was noch einige Jahre Zeit und einige Milliarden Euro an Steuergeld kosten wird. Ein Sieg des Umweltschutzes und der „Atomkraft? Nein danke“-Proteste über die profitgierige E-Wirtschaft?

Kann man so sehen, muss man aber nicht. Denn aus der Sicht von Bruder Baum und der vom Klimawandel bedrohten Eisbären auf ihren schmelzenden Schollen sind die Konsequenzen des deutschen Atomausstiegs, der nun finalisiert wird, eher unerfreulich. Würde man nämlich die sechs verbliebenen Meiler noch ein paar Jahre am Netz lassen – was technisch völlig problemlos möglich wäre –, könnten im Gegenzug gleich fünf Braunkohlekraftwerke abgeschaltet werden, darunter die beiden umweltschädlichsten Anlagen Deutschlands. Solcherart könnten schätzungsweise 70 Millionen Tonnen Kohlendioxid (CO2) pro Jahr eingespart werden, was immerhin zehn Prozent der gesamten deutschen Emissionen des klimaschädlichen Gases entspricht – und zwar sofort, nahezu ohne Investitionen und mit enormen Auswirkungen auf die Klimabilanz der Bundesrepublik.

Populistischer Atomausstieg

Dass dies nicht geschehen wird, ist einer politischen Festlegung Angela Merkels nach dem Atomunglück im japanischen Fukushima geschuldet – der deutsche Atomausstieg ist seither in Stein gemeißelt. Genauso wie in Österreich ja auch. Doch je mehr der Klimaschutz parteiübergreifend als prioritäre politische Forderung akzeptiert wird, desto mehr stellt sich die Frage, ob Klimaschutz ohne vernünftige Nutzung der Kernkraft, die riesige Mengen Strom nahezu ohne Emissionen produzieren kann, überhaupt funktionieren kann. 

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Zahlen & Fakten

Immer mehr Staaten, Experten und Unternehmen kommen zum Schluss, dass das kaum gehen wird – und setzen wieder auf Atomenergie. Der deutsche und österreichische Sonderweg könnte sich bald als Sackgasse erweisen, die nirgendwo hinführt. Wenn rund um den UNO-Klimagipfel, der in den ersten beiden Novemberwochen stattfindet, das Thema Klimaschutz noch weiter nach oben rutscht in der politischen und medialen Agenda, wird sich die Frage nach der Nützlichkeit der Kernenergie wohl noch dringlicher stellen.

Die klaren Vorteile der nuklearen Energiegewinnung, ganz besonders in Zeiten des Klimawandels: hohe Versorgungssicherheit, jahrzehntelange Laufzeiten der Kraftwerke, keine CO2-Emissionen und geringe Sicherheitsrisiken bei Reaktoren moderner Bauart.

Orchestrierte Atomgegner

Auf der anderen Seite des Diskurses stehen freilich eine besorgte Öffentlichkeit, Öko-Lobbyisten, in Österreich und Deutschland noch dazu die politische Klasse, unterstützt von einem Mix an Horrormeldungen über Atomkraft.

Fässer mit radioaktivem Abfall
Radioaktive Abfälle sind nur eines der Sicherheitsbedenken von Atomgegnern. © Getty Images

Doch ein großer Teil der Staatengemeinschaft sieht das anders. Von Südamerika bis Russland, von China bis auf die Arabische Halbinsel, aber auch in Europa erlebt die Kernenergie einen Aufschwung. Aktuell sind weltweit 450 Atomreaktoren in Betrieb, 50 Kernkraftwerke in Bau und Dutzende in Planung. Allein China plant 44 neue Reaktorblöcke. Aktuell stammen immerhin zehn Prozent des weltweit produzierten Stroms aus der Nutzung der Kernspaltung. 

Sogar in der EU ist eine Renaissance zu beobachten. Polen etwa wird in den nächsten Jahren den Großteil seiner Kohlekraftwerke ersetzten – durch sechs Reaktorblöcke US-amerikanischer Provenienz; einer der größten Bergbaubetriebe des Landes hat vier Mini-Reaktoren bestellt, die ab 2029 umweltfreundlich Strom liefern werden. In Schweden wiederum wetteiferten Gemeinden darum, als Standort für das Endlager auserkoren zu werden – denn es winken Jobs und Wohlstand.

Wird Kernkraft bald grün?

Selbst die EU, die ja bis 2050 klimaneutral sein will, steht möglicherweise vor einer Neubewertung der Kernkraft. Weil beim Betrieb von Atomkraftwerken (AKWs) kein Kohlendioxid emittiert wird, gilt diese Energieform grundsätzlich als „grün“ im Sinne des Kampfes gegen den Klimawandel. Einige Mitgliedsstaaten unter Führung Deutschlands und Österreichs laufen dennoch Sturm dagegen, dass Kernkraft deshalb als „nachhaltige“ Energieform eingestuft wird und Investitionen gefördert werden können. Die endgültige Entscheidung darüber soll noch bis Jahresende fallen.

Der deutsche und österreichische Sonderweg könnte sich bald als Sackgasse erweisen.

Benötigt wird der saubere Strom aus AKWs nicht zuletzt für die Mobilitätswende. Denn der Umstieg auf E-Autos bringt einen gewaltigen Zuwachs an Energieverbrauchern. Allein Deutschland würde für eine Komplett-Elektrifizierung seiner Flotte 15 bis 20 Prozent mehr Strom brauchen. Ganz pragmatisch ist es daher Zeit für eine Neubewertung dieser Form der Energiegewinnung. Um die Vor- und Nachteile von allen Seiten zu beleuchten, haben Pragmaticus-Experten die Kriterien abgeklopft: Sicherheit, Ökonomie, Energieversorgung, Technik und Endlagerung des Abfalls.

Die Sicherheitsfrage

Wie sicher sind moderne AKWs wirklich? Helmuth Böck hat über 40 Jahre den Forschungsreaktor der Technischen Universität Wien am Donaukanal geleitet. Die Existenz der kleinen Anlage wird von ihren Betreibern im atomhysterischen Österreich freilich nicht an die große Glocke gehängt.

Böck ist Reaktorsicherheitsexperte und arbeitet auch als Wissenschaftler der Internationalen Atomenergie-Organisation. Seine Einschätzungen basieren auf Zahlen und Fakten: „Pro Terawattstunde erzeugter Energie – das entspricht dem jährlichen Stromverbrauch von 27.000 Menschen in der EU – gibt es aufgrund von Unfällen und Luftverschmutzung im Zusammenhang mit Braunkohle knapp 33 und mit Kohle 25 Tote. Die Kernenergie verursacht hingegen 0,07 Tote.“

Böck erklärt das dennoch unproportional große Unbehagen gegenüber der Kernkraft so: „Fliegen ist für die meisten Menschen beängstigender, als mit dem Auto zu fahren – obwohl Letzteres erwiesenermaßen gefährlicher ist. Eine Analogie lässt sich zur Kernenergie ziehen: Gemessen an der Zahl der Todesfälle pro Strommenge zählt sie zu den sichersten und saubersten Energiequellen, auf die wir derzeit zurückgreifen können, vor allem verglichen mit fossilen Brennstoffen. Trotzdem ist die Skepsis der Öffentlichkeit gegenüber Kernenergie – zumindest in unseren Breiten – größer.“

Hinzu kommt, dass der Öffentlichkeit nicht bewusst ist, welche Fortschritte seit den Zeiten von Tschernobyl oder Three Mile Island gemacht wurden. Experte Böck: „Im Zeitraum von 1955 bis Ende der 60er-Jahre entstand die erste Generation von Kernkraftwerken. Die Technologie umfasste bereits einen Sicherheitsbehälter zum Schutz vor Störfällen, Notkühlsysteme sowie dreifach parallele elektronische Steuerungs- und Sicherheitssysteme. Heute sind Kernkraftwerke dieser Generation jedoch stillgelegt und zum großen Teil abgebaut.“

Ab Mitte der 1970er-Jahre schritt die Entwicklung rasch voran. Wissenschaftler Böck: „Für die nachfolgenden Reaktoren der zweiten Generation gab es zahlreiche Verbesserungen: Sie hatten eine höhere Leistung, einen verstärkten Sicherheitsbehälter und mehrfach ausgelegte Nach- und Notkühlsysteme. Noch heute sind einige dieser Anlagen in Betrieb, sie wurden jedoch aufwendig nachgerüstet, um dem Stand der Technik nahezukommen.“

Das hat praktische Auswirkungen, wie vom Fachmann zu erfahren ist: „Ursprünglich war für diese Reaktoren eine technische Lebensdauer von 40 Jahren vorgesehen. Zahlreiche Anlagen erhielten mittlerweile die Bewilligung von Lebensdauerverlängerungen um 10 bis 20 Jahre. Anlagen der zweiten Generation sind noch in allen Ländern, die AKWs betreiben, im Einsatz, wie etwa Russland, fast allen Nachbarn Österreichs, Frankreich und den USA.“

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Kleine Geschichte der Atomenergie

Dezember 1951In den Vereinigten Staaten wird erstmals mit einem Versuchsreaktor Strom durch Kernenergie erzeugt.
Dezember 1953US-Präsident Eisenhower hält vor der UN-Vollversammlung die „Atoms for Peace“-Rede, in der er eine friedliche Nutzung von Kernenergie propagiert.
Juni 1954In der Sowjetunion beliefert das Kernkraftwerk Obninsk erstmals ein öffentliches Stromnetz.
August 1956Das erste kommerzielle Kernkraftwerk der Welt geht in Calder Hall in Großbritannien ans Stromnetz. Die Leistung beträgt 50 Megawatt.
November 1978Nach einer Volksabstimmung wird das bereits fertiggestellte Kernkraftwerk Zwentendorf in Österreich nicht in Betrieb genommen: die größte Investitionsruine des Landes.
März 1979Im Kernkraftwerk Three Mile Island (Harrisburg, USA) kommt es zu einem Störfall mit Kernschmelze.
April 1986In Tschernobyl in der ehemaligen Sowjetunion kommt es zu einer Explosion. Es ist der schwerste Unfall in der Geschichte der friedlichen Nutzung von Kernenergie.
November 1987Mittels einer Volksabstimmung beschließt Italien den Ausstieg aus der Atomenergie.
April 2002In Deutschland tritt eine Neufassung des Atomgesetzes in Kraft, die den Bau neuer Atomkraftwerke in Deutschland verbietet.
März 2011In Fukushima in Japan überflutet eine Tsunamiwelle mehrere Siedewasserreaktoren. Es kommt zu einer Kernschmelze und zwei Wasserstoffexplosionen.

Die Reaktoren der zweiten Generation werden freilich sukzessive durch noch modernere Anlagen der Generation III ersetzt – zumindest in jenen Ländern, die weiter auf Kernspaltung setzen. Diese Verbesserungen erklärt Böck so: „Die Sicherheits- und Schutzsysteme wurden komplett digitalisiert, der Sicherheitsbehälter wurde aufgrund des Anschlags 9/11 gegen Flugzeugabstürze ausgelegt, und zum Auffangen der Kernschmelze wurden in manchen Ausführungen Core-Catcher – keramische Wannen zum Auffangen der Kernschmelze – oder eine externe Druckbehälter-Flutung vorgesehen. Dabei wird der Druckbehälter von außen in der unteren Hälfte mit Wasser umspült, um ein Durchschmelzen von innen zu verhindern.“ Als AKWs der Zukunft gelten Reaktoren der Generation IV und die sogenannten Small Modular Reactors und Dual-Fluid-Reaktoren. 

Die Kostenfrage

Ein weiterer, neben Sicherheitsfragen zentraler Einwand der AKW-Gegner: Kernenergie rechne sich ökonomisch nicht – jedenfalls wenn man alle Kosten berücksichtigt – und sei daher auch aus wirtschaftlichen Gründen abzulehnen.

Die Frage ist komplex, denn es geht nicht nur um die Kosten des Brennstoffs und des Betriebs des Meilers, sondern auch um erzielbare Strompreise und die Kosten der Lagerung des radioaktiven Abfalls. Claudia Kemfert, Deutschlands bekannteste Wissenschaftlerin auf dem Feld der Energie- und Klimaökonomie am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, sieht die Sache kritisch: „An der Cocktail-Bar der Energieversorgung gibt es mehr als bloß fossile oder atomare Energiequellen. Sonne, Wind, Wasser und Geothermie sind sicher, umwelt- und klimaschonend und – je stärker und länger wir sie nutzen – zunehmend günstiger. Solarstrom etwa ist schon jetzt konkurrenzlos billig. Kernkraftwerke dagegen sind wahnsinnig teuer. Ökonomisch sind sie schlichtweg unrentabel.“

Kernkraftwerke sind wahnsinnig teuer. Ökonomisch sind sie schlichtweg unrentabel.

Claudia Kemfert (Energie-Ökonomin)

Kemfert legt mit Zahlen nach: „Studien zeigen: Eine Investition in ein neues AKW mit 1.000 Megawatt elektrischer Leistung führt durchschnittlich zu Verlusten von knapp fünf Milliarden Euro. Die Energiekonzerne wollen die unrentablen Reaktoren deshalb möglichst rasch schließen oder versuchen, die finanzielle Verantwortung dem Staat zuzuschieben.“

Diese fundamentale ökonomische Kritik an der Kernenergie kontert der Leiter des Instituts für Radioökologie und Strahlenschutz und Dekan der Fakultät für Mathematik und Physik an der Leibniz Universität Hannover, Clemens Walther: „Zieht man die hohen Kosten für die Lagerung radioaktiver Abfälle in Betracht, stellt sich natürlich die Frage, ob Kernkraftwerke überhaupt wirtschaftlich sinnvoll betrieben werden können. Die Antwort lautet: ja. Die Rentabilitätsfrage war zu Beginn des Kernkraft-Zeitalters berechtigt, doch ein modernes Kernkraftwerk hat eine Laufzeit von 40 bis 50 Jahren. Ganz neue Kraftwerke sind sogar für 60 bis 80 Jahre Laufzeit ausgerichtet. Die Errichtung kostet drei bis sechs Milliarden Euro. Doch in der Folge fallen sehr geringe Kosten an – wenn man das Kraftwerk stets unter Voll-Last laufen lässt. Ein laufendes Kraftwerk macht immer Gewinn.“

Teure Versicherungen

Wie profitabel ein Kernkraftwerk ist, hängt natürlich nicht zuletzt von den staatlichen Vorgaben ab. Teuer machen die Kernenergie vor allem die teils jahrzehntelangen Genehmigungsverfahren im Vorfeld, Kosten für Rechtsstreitigkeiten mit Umweltverbänden, Anrainern und Interessenvereinigungen. Heikel ist auch die Versicherung der Meiler. Weil das Risiko von Nuklearunfällen kaum versicherbar ist, wurden in Europa Nuklearversicherungspools gegründet, die eine Art gegenseitige Rückversicherung im Schadensfall bilden. Bis zum Unglück von Fukushima war etwa in der Schweiz die Deckungssumme mit umgerechnet rund 920 Millionen Euro begrenzt, was zu einem jährlichen Prämienvolumen von 15 Millionen Franken für alle Kernkraftwerke zusammen führte. Eine 2015 beschlossene Erhöhung steigerte diesen Betrag auf rund 23 Millionen Euro pro Jahr. Besonders heikel: Kriegerische Ereignisse oder Terrorattacken können erst gar nicht versichert werden – in diesem Fall werden die Betreiber selbst zur Kasse gebeten. 

Ein laufendes Kraftwerk macht immer Gewinn.

Clemens Walther (Radioökologe)

Fazit: Ob ein Kernkraftwerk wirtschaftlich betrieben werden kann, hängt stark von den staatlichen Rahmenbedingungen ab. Je restriktiver diese sind, umso schwieriger wird ein rentabler Betrieb. Und: Auch hier hilft der technische Fortschritt, Kosten zu reduzieren.

Die Energiefrage

Ist es eigentlich wirklich notwendig, immer mehr Strom zu generieren – oder können wir nicht einfach durch intelligentes Einsparen Atomkraftwerke unnötig machen? Auch dieser Einwand wird von den Gegnern der Kernenergie gerne und oft vorgebracht. Der frühere Bereichsleiter des ostdeutschen Kernkraftwerks Greifswald, Manfred Haferburg, heute weltweit anerkannter Experte für Reaktorsicherheit, hält das für reichlich naiv, wenn nicht gar verlogen: „Die Diskussion über die Einsparung von Energie basiert auf Unredlichkeit. Die Energiewender gaukeln der Bevölkerung vor, alles könne so weitergehen wie bisher, dass man komfortabel weiterleben und trotzdem Energie sparen könne.“

Tatsächlich ist das laut Haferburg unmöglich: „Das Einsparpotenzial in Deutschland ist, genau wie in Österreich, bereits weitgehend ausgeschöpft. Seit 2013 steigt Deutschlands Energiebedarf moderat, aber stetig an. Wenn Energie in Deutschland eingespart wird, dann weil Produktionen nach China ausgelagert werden. Energiesparen ist nicht so einfach. Deswegen schafft es auch kaum eine Gesellschaft, die im Wachstum begriffen ist. Im Gegenteil, der Energiebedarf wächst. In den nächsten 40 Jahren wird er sich weltweit verdoppeln.“

Mit dramatischen Konsequenzen, wie für Pragmaticus-Experte Haferburg eindeutig feststeht: „Die Unredlichkeit der Energiewende besteht darin, dass die Frage nicht gestellt wird, ja, nicht gestellt werden darf: Worauf sind wir bereit zu verzichten? Denn auf Verzicht läuft jede nennenswerte Energieeinsparung hinaus. Verzichten wir auf Komfort? Auf warmes Wasser, auf Transportmöglichkeiten? Oder – und das ist wohl die Kernfrage – werden wir die größten Elektroenergieverbraucher Industrie und Gewerbe, die 73 Prozent des Gesamtverbrauchs ausmachen, einfach nicht mehr versorgen?“

Gewinner der Energiewende

Haferburg macht sich auch Sorgen um die geopolitischen Folgen des Atomausstiegs: „Der größte Nutznießer der verhunzten Energiewende ist aktuell der russische Konzern Gazprom. Da es bis 2038 keine großflächig funktionalen Energiespeicher geben wird, setzt die deutsche Regierung darauf, die abgeschalteten Kern- und Kohlekraftwerke sukzessive durch Gaskraftwerke zu ersetzen. Sie müssen vom Staat gebaut werden, da sie von vornherein unwirtschaftlich sein werden. Das Gas für die Gaskraftwerke muss aber irgendwoher kommen.“

Jede nennenswerte Einsparung von Energie bedeutet Verzicht. Worauf wollen wir verzichten?

Manfred Haferburg (Nuklear-Techniker)

Der Fachmann weiter: „Deshalb setzte sich Angela Merkel so für Northstream 2 ein, mit der Gas durch die Ostsee an der Ukraine vorbeigeleitet werden soll. Dass sie sich damit von Wladimir Putin abhängig macht, den sie gleichzeitig mit Wirtschaftssanktionen behängt, gehört zu den vielen Rätseln der Merkel’schen Logik.“

Ein pragmatischer Weg, der sich nun langsam abzeichnet, könnte ein friedliches Nebeneinander der unterschiedlichen Formen von Energiegewinnung sein, ohne Tabus und Vorurteile, wie es etwa Petros Papadopoulos vorschlägt. Das Vorstandsmitglied der Schweizer Gesellschaft der Kernkraftfachleute und der European Nuclear Society war an der ETH Zürich tätig und ist nunmehr Dozent an der Nukleartechnikerschule in der Schweiz. Er meint: „Eine lachende rote Sonne, die auf einem gelben Hintergrund prangt, versehen mit dem Schriftzug ‚Atomkraft? Nein danke‘: So sieht eines der weltweit bekanntesten Logos aus. Anhänger der Umweltbewegung haben es in den 70er-Jahren erfunden. Im Sinne des Klimaschutzes sollte auf den Stickern ‚Ja bitte‘ stehen.“ 

Vorteile der Kernkraft

Papadopoulos legt den Grund dar: „Nur wenn es gelingt, den Verbrauch fossiler Brennstoffe in den nächsten 30 Jahren drastisch zu reduzieren, kann ein potenziell katastrophaler Wendepunkt für unseren Planeten verhindert werden. Teil der Lösung dieses Problems muss Nuklearenergie sein, denn im Gegensatz zu fossilen Energieträgern stoßen Kernkraftwerke im Betrieb kein Kohlendioxid aus. Sie funktionieren im Betrieb klimaneutral.“

Papadopoulos weiter: „Zwar werden auch erneuerbare Energien wie Wind- und Solarenergie zur klimafreundlichen Stromerzeugung in Zukunft an Bedeutung gewinnen, sie sind aber – anders als die Kernenergie – nicht grundlastfähig. Das heißt, sie können die Stromversorgung nicht zu jedem Zeitpunkt, unabhängig von Regen, Sonne oder Wind, sicherstellen.“ Und: „Es fehlen derzeit außerdem die Speicher für die erneuerbaren Energien. Als Konkurrenten sollte man Kernenergie und Erneuerbare dennoch nicht betrachten. Vielmehr können Kernkraftwerke das Potenzial von erneuerbaren Energien sogar unterstützen, indem sie die schwankende Produktion von Letzteren ausgleichen und somit eine stabile Stromversorgung sowie ein sicheres Netz garantieren – ohne dabei CO2 auszustoßen.“

Mit enormem Erfolg, wie der Pragmaticus-Experte veranschaulicht: „Schon heute wird durch die in derzeit 30 Ländern gewonnene Kernenergie die Kohlendioxidemission um etwa zwei Gigatonnen pro Jahr reduziert. Das ist so viel, als würde man jährlich 400 Millionen Autos von den Straßen bringen.“ Fazit: Nur mit Verzicht allein werden wir es nicht schaffen, die globalen Emissionen zu reduzieren. Dazu braucht es vielmehr einen smarten Mix verschiedener Formen der Energiegewinnung.

Die Entsorgungsfrage

Die Frage aller Fragen bei jeder Diskussion über Für und Wider der Atomenergie ist die nach der Entsorgung der strahlenden Rückstände der Meiler: Wohin mit dem Atommüll? Und zwar so, dass auch in tausenden Jahren noch keine Gefahr für Menschen entstehen kann. Clemens Walther, Professor am Institut für Radioökologie und Strahlenschutz der Universität Hannover, hat sich eingehend mit dem Problem beschäftigt: „Beim Zerfall von hochradioaktiven Abfällen sprechen wir zum Teil von Stoffen, deren Zerfall viele 100.000 Jahre beträgt, das sind geologische Zeiträume. Das Schadenspotenzial ist viel höher, und die Stoffe sind sehr langlebig“, meint der Experte.

Und er setzt fort: „Hier gibt es die höchsten Anteile an Uran in Form verschiedener Isotope und Plutonium. Ein sorgsamer Umgang ist also angebracht. Das Uran ist aufgrund seiner geringen spezifischen Aktivität nicht das Hauptproblem, sondern das Plutonium und das Americium. Und dann gibt es noch eine Reihe langlebiger Spaltprodukte, die in der Umwelt sehr mobil sind und deshalb in die Nahrungskette gelangen können: Iod-129 und Technetium-99. Und: In den ersten Jahrzehnten kommt auch noch eine Wärmeabgabe von kurzlebigen Spaltprodukten hinzu.“ 

Atomare Mülltrennung 

Walther hat zur Einordnung Zahlen und Daten parat: „Der Anteil hochradioaktiver Abfälle am Gesamtvolumen der radioaktiven Abfälle in Deutschland beträgt rund fünf Prozent. Diese enthalten jedoch rund 99 Prozent der gesamten Radioaktivität aller Abfälle.“ 

In absoluten Zahlen: „Die prognostizierten gesamten Abfallmengen in Deutschland für das Jahr 2080 betragen zirka 304.000 Kubikmeter an radioaktivem Müll mit vernachlässigbarer Wärmeentwicklung (schwach- und mittelaktiv). Die teilweise hochaktiven Abfälle mit Wärmeentwicklung umfassen 28.100 Kubikmeter.“ Das klingt nach einem ernsthaften Problem. Doch es gibt auch dafür Lösungen. Walther: „Hier gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Wiederaufbereitung radioaktiver Reststoffe oder Endlagerung. In zahlreichen Ländern, die Kernkraft zur Energiegewinnung nutzen, wird der Atommüll erneut verwendet. Plutonium und Uran werden dabei zurückgewonnen. Der Rest wird verglast. Darunter versteht man die Einbettung der Stoffe in eine stabile Glasmatrix.“

In vielen Ländern, die Kernkraft zur Energiegewinnung nutzen, wird der Atommüll erneut verwendet.

Clemens Walther (Radioökologe)

Der deutsche Weg ist die einmalige Verwendung und darauf folgende (End-)Lagerung. Professor Walther erklärt: „Hier kommen die medial breit diskutierten ‚Castor‘-Behälter ins Spiel. Diese dienen dem Transport und als Zwischenlager. Diese Behälter sind extrem sicher. Sie widerstehen explodierenden Gastanks, und selbst bei einem Flugzeugabsturz auf ein solches Zwischenlager kommt es zu keiner Freisetzung von Radioaktivität.“

Die angenehme Folge: „Das Gefahrenpotenzial ist gering. Die mögliche Lagerzeit in diesen Castor-Behältern beträgt 40 Jahre.“ Für die Ewigkeit braucht es freilich andere Methoden: „Die Erkundung eines geeigneten Standorts kostet etwa zwei bis drei Milliarden Euro, wie im Fall des Lagers Gorleben. Momentan gibt es in Deutschland nur einen Standort für leicht- und mittel-aktive Abfälle, den Schacht ‚Konrad‘ in einem stillgelegten Eisenerz-Bergwerk. Dieser wird vermutlich Ende der 2020er-Jahre in Betrieb gehen. Der Schacht ist 303.000 Kubikmeter groß – er würde folglich gerade noch ausreichen. Nach der Räumung des als Endlager weggefallenen Salzstocks ‚Asse‘, der als Zwischenlager diente, und weiteren Abfällen aus der Uran-Anreicherung wird freilich ein zweites Endlager gebraucht. Die Suche gestaltet sich schwierig – eine Lösung ist aber in den kommenden zehn Jahren unabdingbar.“

Wettlauf ums Endlager

Weiter sind da schon die Finnen, die ihr Endlager „Onkalo“ (zu Deutsch: kleine Höhle) in absehbarer Zeit in Betrieb nehmen werden, als erste letzte Ruhestätte für Nuklearabfälle in ganz Europa – ohne massive Proteste, wie in Deutschland bei derlei Vorhaben üblich. Funfact am Rande: In dem skandinavischen Land sprechen sich auch weite Teile der Grünen dezidiert für Nuklearkraftwerke aus – nicht zuletzt mit dem schlüssigen Argument, Atomstrom sei wegen des Klimaschutzes notwendig. Fazit: Die Frage der Endlagerung ist schwierig, aber nicht grundsätzlich unlösbar. Moderne Reaktoren produzieren freilich so wenige problematische Rückstände, dass das Problem künftig wenigstens nicht mehr anwachsen wird.

Zwei Arbeiter im finnischen Atomkraftwerk Olkiluoto
Das Endlager Onkalo wird auf der finnischen Insel Olkiluoto errichtet. Als Nachbar: ein Atomkraftwerk. © Getty Images

Die Fortschrittsfrage

Grüne, die für Atomenergie sind – das wird es zumindest in der deutschsprachigen Welt wohl auf absehbare Zeit nicht geben, dazu ist die kollektive Aversion gegen Kernkraftwerke wohl zu fest verankert.

Mit den Folgen dieser Mentalität hat sich Pragmaticus-Expertin und Technikhistorikerin Anna Veronika Wendland gründlich auseinandergesetzt: „Derzeit ist ein Aufstreben der Kerntechnik vor allem auf Russland und Asien beschränkt. Während Russen, Koreaner und Chinesen seriell Leistungsreaktoren der fortgeschrittensten Druckwasserreaktorgeneration bauen, haben die Traditions-Nuklearwirtschaften des Westens mit Ermüdungsproblemen zu kämpfen. Nach einer langen Lücke in der Bautätigkeit seit Mitte der 1980er-Jahre, als die Strommärkte gesättigt und die Nuklear-Befürworter nach einer Reihe von Unfällen in der Defensive waren, kämpfen die Neubauprojekte mit Kostenexplosionen und Fertigungsfehlern aufgrund verlernter Routinen.“

Wendland weiter: „Dazu kamen ständig wechselnde regulatorische Anforderungen selbstbewusster Aufsichtsbehörden.“ Das ist nicht überall so: „Mit solchen Problemen muss sich weder die russische noch die chinesische Konkurrenz herumschlagen, die unter den Bedingungen autoritärer Systeme mit Staats-Atomwirtschaften operiert. Allerdings hat der russische Konzern Rosatom in den letzten beiden Jahrzehnten auch seine Fähigkeiten in der seriellen Organisation von Atombaustellen im Ausland perfektioniert und drückt auf diese Weise die Kosten. China will bis 2060 komplett CO2-neutral werden, dabei soll Kernenergie eine bedeutende Rolle spielen. 2020 ging der erste komplett selbst entwickelte chinesische Reaktor in Fuqing ans Netz.“

Gesellschaftspolitik statt Fakten

Aus Sicht der Technikhistorikerin ist der Streit ums Atom im Westen ideologisch aufgeladen, was der Sachlichkeit des Diskurses schadet: „Die Atomkontroversen in westlichen Ländern werden häufig auch als Stellvertreter-Kontroversen darüber ausgefochten, wie eine Gesellschaft der Zukunft aussehen soll. Das Kernkraftwerk stand je nach Perspektive entweder für einen gnadenlosen Atomstaat-Kapitalismus oder galt als Garant einer optimistischen Konsumgesellschaft mit niedrigen Strompreisen. Doch die Kernenergie kann in demokratischen Ländern nur dann einen klimarelevanten Anteil an der Stromversorgung aufbauen, wenn sie auf gesellschaftliche Akzeptanz trifft.“

Kernkraftwerke können Schwankungen von Erneuerbaren ausgleichen und eine stabile Stromversorgung garantieren.

Petros Papadopoulous (Nukleartechniker)

Bei ebendieser Akzeptanz könnte die rasante technologische Weiterentwicklung der Kernkraft unterstützend wirken. Das betrifft die Meiler selbst und auch den Umgang mit strahlenden Abfallprodukten. So will Microsoft-Gründer Bill Gates mit seinem neuen Unternehmen TerraPower eine Art Mini-Atomkraftwerk serienreif machen. Die erste dieser auf Natrium-Technologie basierenden Anlagen – dabei wird der Reaktorstrom in Tanks mit geschmolzenem Salz gespeichert – soll 2030 in den USA ans Netz gehen. In der Folge sollen bis 2050 weltweit hunderte solcher Reaktoren entstehen. Zwar liefern sie – für AKW-Verhältnisse – wenig Leistung in der Größenordnung von 345 Megawatt. Doch das US-Energieministerium förderte diese Privatinitiative im Vorjahr mit 80 Millionen Dollar – auch weil man sich damit ein stabiles Rückgrat für alternative Energiebringer wie Wind und Sonne sichert. Und: Mit geschätzten Kosten von rund einer Milliarde Dollar sind diese Mini-AKWs kostengünstig.

Das Atomzeitalter beginnt erst

In Sachen Umweltschutz gibt es einen weiteren, nicht unerheblichen Vorteil von modernen Reaktortypen wie diesen. Als deren Brennstoff wird niedrig angereichertes Uran verwendet. Das kann mittels Wiederaufbereitung aus bereits vorhandenen Brennelementen hergestellt werden. Was die Masse des Atommülls somit beherrschbarer machen würde. Im Übrigen sind die Vereinigten Staaten nicht das einzige Land, welches auf neue und kleinere Reaktortypen setzt. Großbritannien und die Russische Föderation nützen dafür Kenntnisse aus dem Marinebereich – also von U-Booten, Flugzeugträgern und Eisbrechern.

Aber noch einmal zurück zum Atommüll oder – wie es in der Fachsprache heißt – zu den Radionukliden. Tatsache ist, dass darin enorme Energiereserven stecken, die durch eine irreversible Endlagerung in Bergwerken quasi verloren gehen. Zur exakteren Einordnung: Der gesamte seit Erfindung der Kernkraft angefallene Reststoff könnte theoretisch die komplette Erde bis zum Ende des Jahrhunderts mit Energie versorgen, wie das britische Nuklearenergie-Start-up Transatomic Power vorrechnet. Auch beim Atommüll gilt also: Recycling lohnt sich.

Die Nuklearenergie steht somit an einem Scheideweg. Verdammt man die Technologie, wie im deutschsprachigen Raum, oder versucht man den Fortschritt zu kultivieren und klimaneutralen Strom zu produzieren? Global betrachtet scheinen die Weichen gestellt. Der Energiehunger der Welt benötigt die Kraft aller Elemente – Sonne, Wasser, Wind, Feuer und die Beherrschung der Urbausteine des Universums, der Atome. Ob sie weiter gespalten oder fusioniert werden? Die Wissenschaft wird die Antwort geben.

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Conclusio

In Deutschland, der Schweiz und Österreich zusehends verteufelt, erlebt die Kernkraft auf globaler Ebene eine Renaissance. Energietechnisch ist der Fall klar: Ein Kilogramm Uran enthält zwei Millionen Mal so viel Energie wie ein Kilo Steinkohle. Und der daraus produzierte Strom kommt ohne klimaschädliche Emissionen in die Steckdose. Atomstrom ist also ein wesentlicher Faktor, um die ambitionierten Klimaziele zu erreichen – idealerweise in Ergänzung zu Windkraft und Sonnenenergie. Der technische Fortschritt hat zudem die Risiken von AKWs minimiert. Neue Reaktortypen hinterlassen auch weniger radioaktiven Abfall, teilweise kann bereits bestehender Atommüll für deren Betrieb genützt werden. Bleibt der Kostenfaktor. Doch ebenjene neuen und kleineren Reaktoren können billiger gebaut und betrieben werden.