Ein Medikament gegen Impfmythen

Gerüchte und Mythen lassen sich durch Fakten nicht widerlegen. Was falsch ist, wird besonders gern geglaubt, gerade bei Impfungen. Was hilft? Miteinander reden.

Illustration von zwei Medikamenten-Dosen
Auch wenn es manchmal nicht so aussieht: Gegen Gerüchte und Mythen sind Kräuter gewachsen. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Falsche Geschichten. Auf der Suche nach Erklärungen für Krankheiten wurden Impfungen seit jeher als Ursache vermutet. Wissenschaftliche Belege fehlen.
  • Internet-Zeitalter. Falsche Tatsachen verbreiten sich auf den sozialen Plattformen besonders schnell –niemand hat Fake News unter Kontrolle.
  • Wahres Problem. Impfskeptiker werden mit ihren Ängsten alleine gelassen, zudem haben viele das Vertrauen in die Medizin verloren.
  • Neues Denken. Es müsste mehr Beratungsangebote geben, um Vertrauen aufzubauen. Das ist das Ziel des Vaccine Confidence Project.

Per Definition ist ein Gerücht eine nicht verifizierte Information, also eine Aussage, die nicht durch Beweise belegt werden kann. Trotzdem: Selbst wenn ein Gerücht erwiesenermaßen falsch ist, lebt es manchmal als Mythos weiter. Das ist die Kurzfassung meiner Untersuchungen zu einem Thema, mit dem ich mich seit 20 Jahren beschäftige. Eine grundlegende Erkenntnis meiner Arbeit: Es gibt klassische Muster.

Es sind folgende: Jedes Gerücht dieser Welt braucht drei Ingredienzien: einen Auslöser, einen Verstärker und jemanden, der Breitenwirkung, also Einfluss, erzeugt. Wie das funktioniert, lässt sich am Beispiel von Andrew Wakefield, einem britischen Arzt, der mittlerweile seine Lizenz verloren hat, zeigen. Im Jahr 1998 hatte er im renommierten Journal „The Lancet“ eine Studie veröffentlicht und darin einen Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung gegen Masern, Mumps, Röteln und Autismus, einer neurologisch bedingten Entwicklungsstörung, hergestellt.

Internet als Verstärker

Daraufhin wurden tausende Studien zu diesem Thema gestartet, doch keine einzige konnte den von Wakefield hergestellten Zusammenhang verifizieren. Der Grund: In seiner Studie hatte er lediglich zwölf Probanden inkludiert, eine viel zu kleine Anzahl, um daraus generelle Schlüsse zu ziehen. „The Lancet“ zog Wakefields Veröffentlichung zurück, das Gerücht war somit wissenschaftlich widerlegt. Noch dazu deckte ein Journalist auf, dass Wakefield vor der Veröffentlichung dieses Papers 55.000 Pfund Honorar bekommen hatte. Und zwar von Anwälten, die den Zusammenhang zwischen Autismus und MMR-Impfstoff gesucht hatten.

Trotzdem hielt es sich hartnäckig. Warum? Wakefield hatte der Welt auf die schwierige Frage: „Wieso bekommen zunehmend mehr Kinder Autismus?“ eine einfache Antwort geliefert. Deshalb halten die Leute bis heute an dieser Studie fest. Die wissenschaftliche Community konnte keine einfache Antwort als Alternative geben, und zwar deshalb, weil es keine simple Antwort zu diesem Sachverhalt gibt. Deshalb nimmt auch das Interesse an diesem Mythos nicht ab. Wakefield war das, was ich als Auslöser bezeichne.

Der Verstärker wurde Google, denn rund um 1998 nahm die Suchmaschine gerade Fahrt auf. Dadurch hatte die falsche These eine Plattform und Wakefield ein Publikum, das er sonst nie erreicht hätte. Er hielt an seinen Thesen fest, erweiterte sie sogar noch und produzierte Filme zum Thema, mit denen er durch die Welt tourte. Seine Studie war der Auslöser, digitale Medien die Verstärker und für die Breitenwirkung wurden besorgte Eltern verantwortlich. Wakefields Einfluss wirkt bis heute: Die Masern sind vielerorts wieder auf dem Vormarsch.

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Zahlen & Fakten

Die häufigsten Impfmythen

  • Mythos I: „Die Erkrankung ist so selten, dass eine Impfung sich nicht lohnt.“ Das stimmt bei Erkrankungen wie Kinderlähmung oder Masern, doch der eigentliche Grund für die Seltenheit sind die erfolgreichen Impfaktionen.
  • Mythos II: „Ungeimpfte Kinder haben ein stärkeres Immunsystem.“ Dem widerspricht die Statistik zur Kindersterblichkeit. Die Zahl der Kinder unter fünf Jahren, die an Krankheiten starben, die durch Impfungen vermeidbar sind, sank von 5,5 Millionen im Jahr 1990 auf 1,8 Millionen im Jahr 2017. Zudem: Auch das Immunsystem geimpfter Kinder muss sich aktiv mit vielen anderen Krankheitserregern auseinandersetzen.
  • Mythos III: „Impfstoffe enthalten krebserregendes Formaldehyd.“ Das stimmt, aber Formaldehyd ist ein körpereigenes Stoffwechselprodukt. Pro Tag produziert und verarbeitet der Körper 50.000 Mikrogramm. Ein Impfstoff enthält fünf Mikrogramm.
  • Mythos IV: „Aluminium in Impfstoffen führt zu Autismus.“ Aluminium ist das dritthäufigste Element der Erdkruste. Es ist Teil der Nahrungskette, und wir nehmen zirka neun Milligramm pro Tag davon auf.
  • Mythos V: „Die Nebenwirkungen der Impfung sind schwerwiegender als die Krankheit.“ Ein Impfstoff wird nur dann zugelassen, wenn der Nutzen überwiegt. Beispiel: Bei einem von einer Million Menschen, die gegen Masern geimpft werden, tritt eine Gehirnentzündung auf. Eine Masern-Erkrankung betrifft eines von 1000 Kindern.
  • Mythos VI: „Impfungen haben Langzeitfolgen.“ Impfstoffe werden sehr schnell abgebaut. Langzeitfolgen sind selten, kommen aber vor: 161 von 31 Millionen Menschen erkrankten wegen einer Impfung gegen die Schweinegrippe an der Schlafkrankheit, Narkolepsie.
  • Mythos VII: „mRNA-Impfungen verändern das Erbgut.“ Das ist ausgeschlossen, da nicht der Erreger selbst eingeschleust wird, sondern nur die Bauanleitung für die Produktion eines Proteins.

Gefühl der Machtlosigkeit

Doch was lernen wir aus diesem Beispiel für den generellen Umgang mit Gerüchten? Als ich an einem Wintertag in einem Taxi in Delhi im Stau steckte, sah ich aus dem Fenster und las folgendes Schild: „Sie stecken nicht im Stau, Sie sind der Stau.“ Ich war gerade dabei, mein Buch „Stuck – wie Impfgerüchte starten und wieso sie nicht weggehen“ zu schreiben, und plötzlich wurde mir klar: Als Elternteil fühlt man sich wie Beifahrer im Taxi. Die Ärzte wären in diesem Vergleich die Fahrer und über den Köpfen fliegen Helikopter, die Verkehrsmuster analysieren. Alle Leute rundherum suchen nach Lösungen, kennen das Straßennetz wahrscheinlich besser als man selbst. Doch als Beifahrer kann man nicht mitbestimmen und nur hoffen, dass man ans Ziel kommen. 

Wie sich das anfühlt? In Bezug auf die Impfungen fehlt vielen Eltern das Gefühl, an einem Entscheidungsprozess teilhaben zu können. Impfskeptiker fühlen sich also wie Beifahrer. Es sind andere, die entscheiden. Wenn der Eintritt in die Schule dann von einer Impfung abhängt, bekommt das Problem eine größere Dimension. Mein Vorschlag: Es sollte einen Ort geben, an dem besorgte Eltern Fragen stellen können. „Einen Moment! Wie viele Impfungen noch? Was heißt das für das natürliches Immunsystem?“: Darauf sollten Ärzte wie Wissenschaftler Fakten parat haben, gewappnet sein und Zweifel ausräumen. Denn hat sich ein Mythos erst einmal festgesetzt und ist damit zur Überzeugung geworden, kommen Ärzte kaum mehr dagegen an.

Ich betone deswegen oft, dass unser Problem nicht die falsche Information selbst sondern unsere menschlichen Beziehungen sind. Wenn Vertrauen da ist, nimmt man Risiken in Kauf. Eine Vertrauensperson kann ein wichtiges Vorbild sein.

Vertrauen schaffen

Die Sorgen in einer Impf-Entscheidung „festzustecken“, so wie ich das in meinem Buch beschreibe, gibt es auf der ganzen Welt. 2010 habe ich deshalb das „Vaccine Confidence Project“ gegründet. Ich will wissen, warum Menschen Impfentscheidungen hinauszögern oder impfmüde sind. De facto ist das Projekt ein Frühwarnsystem, das Vertrauen in Impfungen beobachtet und politische Entscheidungsträger über Entwicklungen in Kenntnis setzt.

Dabei arbeiten wir interdisziplinär mit Epidemiologen, Anthropologen, Datenanalysten und Social Media-Experten. Gemeinsam haben wir den sogenannten „Vaccine Confidence Index“ entwickelt. Er basiert auf Fragen, die wir in 149 Ländern auf der ganzen Welt stellen. Dazu kommt ein Social Media Monitoring, das rund um die Uhr in 100 Sprachen läuft, und mit dem wir neuen Gerüchten früh auf die Spur kommen. Das hilft uns, Muster, die wir aus den Fragebögen herauslesen können, aufzuspüren.

Bei neuen Mythen sind wir so immer einen Schritt voraus, können die Ursachen ergründen und die betreffenden Länder, zuständigen Behörden und Organisationen wie die WHO informieren. Mittlerweile bitten uns viele Organisationen bei Impfkampagnen um Unterstützung. Je früher man dabei ist und je eher man Sorgen versteht, um so leichter kann man aktiv werden.

Lokale Epizentren

Auf diese Weise haben wir zwischen den Jahren 2015 bis 2019 erkannt, dass dass die Impfskepsis in Gegenden und Ländern ungleich verteilt ist. Europa führte 2015, vor allem Frankreich. Das fanden wir überraschend. Im Jahr 2019 war sie dann zwar dort wieder zurückgegangen, doch die Skepsis hatte sich in die frankophonen afrikanischen Länder ausgebreitet. Plötzlich ging dort das Vertrauen in Impfungen zurück.

Sehr oft kommen Skeptiker aus Gruppen, die historisch schlechte Erfahrungen gemacht haben. 

Die Erklärungen: Oft gibt es lokale Multiplikatoren. In Frankreich etwa waren es Anwälte und Ärzte, die eine Kampagne gegen Aluminium lancierten und damit gegen Impfungen Stimmung machten, weil Aluminiumhydroxid als Wirkverstärker in Vakzinen enthalten ist. In Deutschland wiederum ist die Homöopathie-Szene höchst aktiv. Oder: Sehr oft kommen Skeptiker auch aus Gruppen, die historisch schlechte Erfahrungen gemacht haben. 

Wir konnten vier Bereiche des Vertrauens identifizieren: Vertrauen in Taten, Vertrauen in Sicherheit, Vertrauen in Wirksamkeit und Vereinbarkeit mit religiösen Überzeugungen. Wir fragen zum Beispiel, ob Impfungen mit dem eigenen Glauben vereinbar sind – dem stimmen zum Beispiel knapp 79 Prozent der EU-Bürger zu. 

Kontrolle des Staates

Seit der Covid-19-Pandemie fällt vermehrt eine Anti-Regierungs-Stimmung auf. Impfungen werden als Kontrolle des Staates gesehen. Was jedoch interessant war: In einer 32 Länder umfassenden Studie im Jahr 2020 haben wir die Bereitschaft, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen, abgefragt. Entscheidend war, wie gut das jeweilige Land die Pandemie gemeistert hatte. Je besser eine Regierung mit der Covid-19-Krise umgegangen war, desto größer war die Bereitschaft der Leute, sich impfen zu lassen. Aus meiner Sicht: Impfungen sind in vielerlei Hinsicht das größte soziale Experiment, wenn es um kollektives Handeln und Kooperation geht. Es wäre wichtig, begreiflich zu machen, dass der Schutz vor gefährlichen Krankheiten stets in einem größeren Kontext zu sehen ist, und sehr oft mit Emotion, Stimmung, religiösen Überzeugungen und politischem Umfeld zusammenhängt. 

An sich sind Gerüchte nicht grundsätzlich eine schlechte Sache, sie können sogar nützlich sein, um zukünftige Krankheitsausbrüchen zu erkennen. Gerüchte als Warnzeichen also.

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Conclusio

Impfmythen brauchen drei Momente, um sich zu verbreiten. Sie brauchen einen Auslöser, ein verstärkendes Medium wie etwa das Internet und besorgte Menschen, die mit der Komplexität von Fragestellungen überfordert sind. Das Vaccine Confidence Project will vertrauensbildende Maßnahmen auf der Basis von Befragungen und Studien entwickeln. Wichtig für das Gelingen ist, dass die Sorgen und Zweifel genau erfragt und ernst genommen werden. Nur dann besteht die Chance, die Mythen und falschen Wahrheiten zu besiegen.