Der Ärztemangel ist ein Mythos

... der Personalnotstand in Pflege und Medizin nicht. Am Beispiel Österreich lässt sich zeigen, warum der vermeintliche Ärztemangel das Symptom einer größeren Gesundheitskrise ist.

Ein Krankenpfleger schiebt ein Bett mit einem Patienten oder einer Patientin. Das Bild ist Teil eines Beitrags über Ärztemangel.
In einem Krankenhaus in Innsbruck während der Corona-Pandemie. 2021 gab es in Österreich 48.705 Ärzte. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Notstand. Ambulanzen, Krankenstationen und Intensivabteilungen sind überlastet. Es fehlen Ärzte und Pflegefachkräfte.
  • Paradox. Nirgendwo in der gesamten EU gibt es so viele Mediziner wie in Österreich. Österreich diskutiert dennoch einen Ärztemangel.
  • Falsche Wahl. Wahlarzt und Turnus sind zwei systemische Fehler, die zu dem vermeintlichen Ärztemangel führten.
  • Zukunft. Es fehlen nicht die Ärzte, sondern die Strukturen, die es ermöglichen, Krankheiten zu vermeiden und den Patienten mehr Zeit zu widmen.

Stundenlange Wartezeiten, vollkommen gestresstes Personal, das ganze System am Anschlag: Die Geschichten, die sich Menschen derzeit über ihre Erlebnisse in Krankenhäusern erzählen, ähneln einander. Und viele ziehen die gleiche Schlussfolgerung daraus: Österreich leidet offensichtlich an einem Ärztemangel.

Mehr Gesundheit

Dieser Ärztemangel sei eine Folge der schweren Aufnahmeprüfungen ins Medizinstudium, heißt es. Um die Situation zu entschärfen, müssten einfach mehr Ärzte ausgebildet werden. Problem gelöst. Doch das ist mitnichten der Fall. Im Gegenteil, es ist tatsächlich ganz anders.

Ansturm auf Medizin-Unis

Die Spurensuche beginnt bei der Ausbildung. Viele junge Leute in Österreich wollen Medizin studieren, müssen dafür jedoch erst die Aufnahmeprüfung ins Studium, den sogenannten MedAT, bestehen. Warum wurde diese Hürde 2013 überhaupt eingeführt? Um die hohen Drop-out-Raten zu senken. All jene, die heute scheitern, werfen dem System jedoch vor, den wirklich zur Medizin Berufenen – also Menschen mit einer sozialen Ader –  das Studium zu verwehren.

Stattdessen würden Bewerber gefördert, die lieber viel Geld verdienen wollen als in solidarisch finanzierten, öffentlichen Spitälern zu arbeiten. Das stimmt aber in dieser Verkürzung nicht: Von den 20.000 AHS-Maturanten in Österreich melden sich 10.000 für den MedAT an, 7.500 nehmen teil, und 3.000 bestehen die Prüfung. Diese Zahl ist stabil. Die Drop-out-Quote wurde im Vergleich zu früher aber tatsächlich gesenkt.

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Zahlen & Fakten

Zudem gibt es längst die Möglichkeit, den MedAT zu umschiffen und an Privatunis Medizin zu studieren. So gibt es heute mehr als 2.500 Studienanfänger; das ist mehr als zu Zeiten der „Ärzteschwemme“, als man den Jungen davon abriet, Medizin zu studieren. Ab etwa 2025 werden wir pro Jahr über 2.000 Absolventen haben – ein historischer Höchstwert und 60 Prozent über dem EU-Schnitt.

Allerdings: Die jungen Ärzte werden nicht alle dort arbeiten wollen, wo ein solidarisch finanziertes Gesundheitssystem sie gerne einsetzen würde, also in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen und Kassenordinationen. Viele von ihnen werden sich für eine Karriere als Wahlarzt entscheiden.

Parallelsystem schuf Ärztemangel

In Österreich werden eigentlich schon lange zu viele Mediziner ausgebildet. Das wissen wir, weil zwischen 1995 und 2010 regelmäßig Ärztebedarfsstudien erstellt wurden. Jede einzelne kam zum Schluss, dass es mehr Ärzte gibt, als notwendig wären. In den 2000er-Jahren wurden Tausende arbeitslose Mediziner prognostiziert. Allerdings ging man damals noch davon aus, dass es nur das öffentliche System und nicht parallel dazu die Wahlarztversorgung geben würde. Letzteres schien keineswegs erstrebenswert.

Doch das sollte sich ändern. Während der EU-Beitrittsverhandlungen wurde klar, dass unser Kassensystem zu wenige Wahlfreiheiten lässt. Österreich hätte die Pflichtversicherung in eine Versicherungspflicht umwandeln müssen. Zudem hätten die Krankenkassen verpflichtet werden müssen, jedem Arzt einen Kassenvertrag anzubieten, was das Ende des Kassenstellenplans gewesen wäre.

Das wollten weder die Kassen noch die Vertreter der Ärztekammer. Um den EU-Anforderungen zu genügen, wurde das Wahlarzt-Modell entwickelt. Niemand hatte auf dem Schirm, dass sich dieses System mit den Jahren zu einer Konkurrenz entwickeln würde.

Wettbewerb im Gesundheitssystem

Noch eine österreichische Besonderheit gibt es: den Turnusarzt. Wer als Arzt praktizieren will, muss nach dem Studium verpflichtend eine mehrjährige praktische Ausbildung durchlaufen – und zwar zwingend im Krankenhaus. Der große Vorteil: Diese vielen Turnusärzte sind günstige Arbeitskräfte, ihr Stundenlohn liegt unter jenem der Diplom-Pflegekräfte.

Was sie nach ihrer Turnuszeit machen, kümmerte die Spitalsbetreiber bis vor Kurzem wenig. Viele fanden keinen Job im System und noch weniger eine Kassenstelle. Als einziger Ausweg blieb die Karriere als Wahlarzt.

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Zahlen & Fakten

Die Folge: In Österreich gibt es um 50 Prozent mehr Ärzte als im EU-Schnitt, 20 Prozent mehr als in Deutschland und der Schweiz. Sehr viele davon arbeiten als Wahlärzte, weil es ihre einzige Möglichkeit ist. Mit Geldgier oder mangelnder soziale Kompetenz hat das also nichts zu tun. Über die Jahre haben sich die Ärzte ihre eigene Organisation auf die grüne Wiese gestellt, die sich vom öffentlichen Angebot klar unterscheidet.

Will heißen: Es gibt weder eine auf bloße Arbeitsplatzsicherung ausgerichtete Spitalsinfrastruktur, noch eine starre Kassenversorgung, welche die Anzahl der Ärzte sowie die Art und Anzahl der Leistungen und deren Abrechnung planwirtschaftlich festlegt. Das Wahlarztsystem ist völlig dereguliert und richtet sich allein nach den Erfordernissen des Wettbewerbs.

Idealistische Wahlärzte

Geldgier war sicher nicht die Triebfeder dieser Entwicklung. Das lässt sich schon daran ablesen, dass Wahlärzte bei hohem wirtschaftlichem Risiko statistisch weniger als ihre Kollegen im Spital verdienen, denen wiederum weniger bleibt als den Kassenärzten.

Was also ist die Motivation der Wahlärzte? Es ist die Möglichkeit, sich ausführlich um Patienten kümmern zu können. Diese für beide Seiten befriedigende Arzt-Patienten-Beziehung ist mit den Kassenhonoraren beziehungsweise der Systematik in der Spitalsfinanzierung nicht darstellbar.

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Zahlen & Fakten

Und selbst wenn das für einige fremdartig klingen mag: Eine patientenorientierte Behandlung ist der Wunsch all jener Menschen, die Gesundheitsberufe ergreifen. Dafür arbeiten sie, ausnahmslos. Darüber sollten wir froh sein. Denn wenn es nur ums Geld ginge, wäre Gesundheit unglaublich teuer. 

Will man Wahlärzte also künftig dorthin bringen, wo Ärzte fehlen, dann sollte man anerkennen, dass Geld als Motivation nicht taugt. Das gilt übrigens auch für die Pflege. Die Lösung heißt: Mehr Zeit für die Beziehungsarbeit und weniger Tätigkeiten, die sich wie Fließbandarbeit anfühlen.

Mangelberuf Pflege

Im Angesicht der demografischen Entwicklung ist die Erkenntnis, dass es bei Gesundheitsberufen nicht um Leistung am, sondern um Zeit mit dem Patienten geht, von besonderer Bedeutung. Ab 2027 wird die Zahl der Alten und Kranken steil ansteigen.

Um das zu bewältigen, gilt es, die Gesundheit der Bevölkerung so gut wie möglich zu erhalten, vermeidbare Krankheiten so gut wie möglich zu verhindern, die Folgen einer bereits bestehenden Krankheit so erträglich wie möglich und das Leben mit einer Krankheit so gestaltbar wie möglich zu machen. Anders ausgedrückt: Ziel ist die Gesundheit als solche; sie sollte oberste Priorität haben. Das kann allerdings nur gelingen, wenn die einzelnen Teile der Gesundheitsversorgung miteinander kooperieren.

Das Gegenteil ist in Österreich der Fall. Unser Gesundheitssystem ist wohl das am meisten fragmentierte der Welt. Die Teilbereiche des Systems, also Prävention, Kuration, Rehabilitation, Pflege und Palliation, arbeiten nicht integriert, sondern separat – und dabei zerfällt jeder Sektor noch einmal in sich selbst.

Dutzende Krankenkassen und noch mehr Spitalsträger haben keinerlei gemeinsame Vorgaben, die Rehabilitation ist unstrukturiert, die Pflege nicht einmal Teil des Gesundheitssystems. Und die Vermeidung von Krankheit, also die Prävention, ist oft nicht mehr als ein PR-Gag.

Ärztemangel dank falscher Anreize

Jeder Anbieter in jedem Sektor des Gesundheitssystem ist sozusagen sein eigenes Subsystem, das sich gegen die anderen abschottet. Die gemeinsame Existenzberechtigung besteht darin, dass Menschen krank sind. Deshalb sind die Anreize so gestaltet, dass es möglichst viele Patienten gibt.

Eine Frau und ein Hund blicken aus einem Fenster mit Topfpflanzen. Das Bild illustriert einen Beitrag über Ärztemangel.
Wien um 1960 als die Babyboomer noch Kinder waren. Damals gab es 11.229 Ärzte in Österreich. © Getty Images

Das lässt sich etwa an der Anzahl der ambulanten Arztkontakte ablesen, die im Vergleich zu anderen Ländern sehr hoch ist. In Österreich gibt es auch die meisten Spitalsaufnahmen und extrem viele pflegebedürftige Menschen. Mit sehr viel Geld schaffen wir eine relativ schlechte Patienten-Lebensqualität.

Das Modell funktionierte schon früher nicht gut. Jetzt trifft es auf eine älter werdende Bevölkerung mit chronischen Krankheiten und diversen Alterserscheinungen. Statt Krankheiten so gut wie möglich zu vermeiden, werden wir demographiebedingt eine weitere Zunahme an Krankheitsfällen in allen Sektoren bewältigen müssen.

Überforderte Hausärzte

Und damit entwickelt sich das öffentliche Versorgungssystem noch stärker zu einer Fließbandabfertigung von Krankheitsfällen. Ein Hausarzt in Österreich sieht heute schon im Schnitt 60 Patienten pro Tag, seine Kollegen in England oder Dänemark nur 15. Im Spital läuft es ähnlich. Medizinisches Personal in Österreich betreut mindestens doppelt so viele Patienten wie die Kollegen in England oder Dänemark.

Das öffentliche Systemversagen wird entschuldigt, und es ertönt die Forderung nach „mehr“.

Deshalb ist Zeit für Patienten Mangelware, und Leistungen müssen möglichst rasch erbracht werden. Die Beziehung zwischen Arzt und Patienten leidet und wird weiter ausgedünnt. Viele Mediziner entscheiden sich für eine Wahlarztpraxis, Pflegekräfte gehen in Teilzeit.

Nur eine Reform des Systems, die alle dazu bringt, an einem Strang zu ziehen, könnte diesen Teufelskreis beenden. Was wir erleben, ist jedoch das Gegenteil: Das offensichtliche Systemversagen wird entschuldigt, und es ertönt die Forderung nach „mehr“: mehr Geld, mehr Personal, mehr Kassenstellen.

Deutschland ist auf dem gleichen Weg und hat ähnliche Probleme wie Österreich. Die Schweiz dagegen steht – vielleicht wegen ihres flexiblen Versicherungsmodells – deutlich besser da. Medizinische Einrichtungen werden weniger oft in Anspruch genommen, es bleibt mehr Zeit für jeden Patienten, und die Pflege setzt auf Professionisten, statt auf Angehörige. Und das zeigt Wirkung: Die Schweizer bleiben länger gesund.

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Conclusio

Das Fehlen von Krankenhauspersonal ist mitnichten ein Indiz für einen Ärztemangel, sondern eine Folge von jahrelanger Fehlplanung. In kaum einem Land gibt es mehr Mediziner und Medizinerinnen als in Österreich. Aufgrund einer unbefriedigenden Situation in öffentlichen Krankenhäusern haben sich viele in die Wahlarztpraxis zurückgezogen. Das gefährdet den Versorgungsauftrag und könnte sich angesichts der demographischen Entwicklungen zur veritablen Krise ausbreiten. Nur tiefgreifende Systemveränderungen können einen Zusammenbruch des Systems aufhalten.

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