Zusammenhalt ohne gemeinsame Werte?

Sobald Werte zur Identitätsfrage werden, wird Verständigung schwierig, sagt die Philosophin Sonja Rinofner-Kreidl. Sie empfiehlt, persönliche Betroffenheit hintan zu stellen.

Schwarz-weiß Aufnahme der Verhaftung von Dora Thewlis, einer Kämpferin für das Frauenwahlrecht. Das Bild illustriert einen Beitrag über einen Podcast, in dem es um die Rolle von Werten und von Wertekonflikten geht.
London am 19. März 1907: Die Frauenrechtlerin Dora Thewlis wird bei einer Demonstration für das Frauenwahlrecht verhaftet und eine Woche lang inhaftiert. Das Frauenwahlrecht war ein erbitterter Wertekonflikt in den westlichen Gesellschaften – bis in die 1970er Jahre (Frauenwahlrecht Schweiz) hinein. Solche Konflikte sind nicht polarisierend, sondern wichtig für gesellschaftliche Weiterentwicklung und den Zusammenhalt, sagt die Philosophon Sonja Rinofner-Kreidl. © Getty Images

Auf gemeinsame Werte kann man sich in der Theorie relativ leicht verständigen. Schwierig wird es dann, wenn sie gelebt werden sollen, sagt die Philosophin Sonja Rinofner-Kreidl. Und daran müssen sich moderne Gesellschaften beweisen.

Der Podcast über Werte

Wir haben keine homogenen Werteüberzeugungen in der westlichen Welt.

Wie ausgeprägt das Gemeinschaftsgefühl und der Zusammenhalt einer Gesellschaft ist, hängt weniger von den (in der Theorie) geteilten Überzeugungen ab, als davon, welche Prioritäten eine Gesellschaft ganz praktisch setzt, und welche konkreten Antworten sie auf eine Herausforderung findet. In diesem Sinne sind Gesellschaften jetzt nicht polarisierter oder unversöhnlicher als frühere. Der Umgang mit den Konflikten macht den Unterschied.

So homogen, wie sie sich selbst oft beschreibt, seien die meisten Gesellschaften nämlich gar nicht, sagt Sonja Rinofner-Kreidl, und sie seien auch nicht die Basis, damit eine Gesellschaft zusammenhält: „Wir haben keine homogenen Werteüberzeugungen in der westlichen Welt. Dafür gibt es zu stark unterschiedliche Traditionen und zu große individuelle Unterschiede.”

Viel mehr als um abstrakte Normen und Regeln ginge es um die Verankerung der hinter diesen Werten stehenden Prinzipien in der Lebenspraxis. Dies sei die große Herausforderung – im echten Leben geraten theoretisch hoch gehaltene Werte nämlich in Konkurrenz zu einander: Eine Wertorientierung wie Autonomie kann ihre Grenzen an einer gleichzeitig bestehenden Orientierung wie Sicherheit erfahren. Auch kann ein Wert wie Sicherheit unterschiedlichste Handlungsweisen hervorbringen – die Anhäufung von Besitz ebenso wie der Verzicht darauf.

Der Zusammenhalt einer Gesellschaft muss sich daran beweisen, wie diese Gesellschaft mit diesen Unterschieden umgeht.

Sonja Rinofner-Kreidl macht in diesem Podcast an zahlreichen Beispielen deutlich, dass eine Schwierigkeit darin besteht, dass Wertorientierungen etwas gesellschaftliches und zugleich etwas persönliches sind. Debatten über Orientierungen geraten deshalb schnell zu einer Identitätsfrage. Im öffentlichen Diskurs allerdings ist es notwendig, sich von dieser Betroffenheit zu lösen, damit auf gesellschaftlicher Ebene Austausch und Weiterentwicklung stattfinden kann.

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Über Sonja Rinofner-Kreidl

Sonja Rinofner-Kreidl ist Professorin am Institut für Philosophie und Vizedekanin der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz. Sie leitet den Arbeitsbereich Klassische Phänomenologie, und ist Co-Sprecherin des Schwerpunktbereichs Wahrnehmung: Episteme, Ästhetik, Politik. Rinofner-Kreidl ist Key Researcher des Cluster of Excellence Wissen in der Krise. Rinofner-Kreidl ist Autorin mehrerer Bücher über Phänomenologie und Edmund Husserl.

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