Der Teufel Überdruss
So manche Romanfigur mordet ohne erkennbares Motiv. Möglicherweise liegt es an der Absurdität des Daseins, die auch als Leere empfunden wird. Damit umzugehen, ist gar nicht so einfach, wie auch die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt.

In meiner Jugend haben mich zwei Romane gefesselt – im wahren Sinn gefesselt, ich kam nicht los von ihnen, wollte nur noch diese beiden Bücher lesen: Der Fremde von Albert Camus sowie Schuld und Sühne von Fjodor Dostojewski. Der Kulminationspunkt sowohl in der Geschichte von Meursault als auch in der von Raskolnikow ist ein Mord.
Mehr von Michael Köhlmeier
Die Motive für diese Morde leuchteten mir nicht ein. Raskolnikow erschlägt mit einer Axt die Pfandleiherin und deren Schwester – aus Geldnot. Wirklich deshalb? Er meint, er sei eine Art Übermensch, so einer wie Napoleon, es stehe ihm zu, über Leben und Tod eines anderen Menschen zu entscheiden. Meursaults Mord an dem Marokkaner am Strand hat überhaupt kein Motiv. Er mordet, weil er glaubt, irgendetwas tun zu müssen. Wogegen etwas tun? Gegen den Überdruss. Das Leben, das er führt, bereitet ihm Überdruss – ist es das? Ich bin mir nicht sicher. Immerhin könnte er sein Leben ändern. Ob er die Kraft dazu hat, das wissen wir nicht. Aber immerhin – er könnte die Kraft haben. Der Konjunktiv ist auf seiner Seite.
Ich will nicht kümmelspalterisch herüberkommen, wenn ich zwischen Leben und Dasein unterscheide – am Beispiel des Romans Der Fremde von Albert Camus erscheint mir die Unterscheidung allerdings essenziell. Wenn das Dasein als solches Überdruss bereitet, dann kann ich nichts daran ändern. Mein kleines, privates Leben ist dem Dasein untergeordnet. Wenn das Dasein absurd ist, wie Camus uns durch seine Geschichte deutlich zu machen versucht, dann ist auch mein Leben absurd. Dann ist alles absurd, eben das Dasein. Dann ist es absurd, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, dann hat nichts eine Bedeutung. Dann benötigt ein Mord kein Motiv. Sich dessen bewusst zu sein, führt zum Überdruss. Wenn das Dasein uns keinen Sinn gibt, dann müssen wir dem Dasein einen Sinn geben – das ist Camus’ Ratschlag.
Die Welt kann nichts dafür
Blaise Pascal, der französische Philosoph und Mathematiker, schreibt, die Ursache allen Unglücks sei, dass ein Mensch nicht mit sich allein in seinem Zimmer sein könne. Pascal hat wie kein anderer Philosoph vor ihm das Phänomen ernst genommen, und er gräbt tiefer als Camus. Er benennt den wahren Teufel: den Überdruss. Seine Erkenntnis: Der Überdruss meint gar nicht das Dasein. Nicht der Welt sind wir überdrüssig. Unser Überdruss meint uns selbst. Die Welt, das ist unsere Wahrnehmung der Welt. Und wenn wir ihrer überdrüssig sind, dann sind wir unserer überdrüssig.
Wir halten unsere eigene Gegenwart nicht aus. Wir können nicht mit uns selbst allein sein. Das ist fürwahr eine Gabe des Teufels. Denn wenn wir im Leben zu etwas gezwungen sind, dann, mit uns selbst zu sein. Der Ausweg, den Pascal für möglich hält – aber auch nur für möglich –, ist die Religion. Der Glaube an Gott – und sei er kindlich, er muss kindlich sein! – ist die einzige Kraft, der Absurdität zu entfliehen.
Die Urkatastrophe als Sinnstifter
Wenn ich Die Betrachtungen eines Unpolitischen von Thomas Mann lese – geschrieben zwischen 1915 und 1918, also mitten im Ersten Weltkrieg –, dann weht mich eine Unheimlichkeit an: Kann es sein, dass dieser Krieg, der so viel Unheil angerichtet, der zu einem zweiten Krieg geführt hat, dass diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts aus Überdruss entstanden ist? Die Nachricht vom Kriegsbeginn im August 1914, schreibt Thomas Mann, sei aufgenommen worden wie eine Befreiung. Und er teilt diese Begeisterung, damals teilte er sie noch. Befreiung wovon? Stephan Zweig schreibt, vor dem Krieg habe er von Schweden bis zum Schwarzen Meer fahren können, ohne auch nur einmal seinen Pass vorweisen zu müssen.
Das Gefühl, an nichts teilzuhaben, was über mich hinausreicht, kann unerträglich sein.
Alles schien besser zu werden, Bismarcks Bündnispolitik hatte Europa fast vierzig Jahre Frieden gebracht. Also wovon fühlten sich die Menschen durch den Krieg befreit? Jubelnd sind die Studenten ins Feld gezogen, im Herbst, so meinten sie, werden sie weiterstudieren, glücklich, einen Sinn des Lebens erfahren zu haben, für eine Idee „fast“ gestorben zu sein. – Zu viele sind nicht fast gestorben, sondern gestorben.
… und erlöse uns von der Leere
Das Gefühl, an nichts teilzuhaben, was über mich hinausreicht, kann unerträglich sein – zumal für denjenigen, der sich selbst nicht genügt, der, wie Pascal sagt, nicht mit sich selbst sein kann. Nietzsche hat Gott für tot erklärt, ein Ersatz, ein Erbe stand nicht bereit. Das von der Religion prachtvoll bis in den letzten Winkel bunt und sinnvoll ausgestaltete Universum erscheint nun zwar größer, als wir es uns vorstellen können, aber die Astrophysik hat es leergefegt von aller Metaphysik. Die Welt ist sinnleer und kalt. Unsere Heilserwartungen aber sind immer noch die gleichen. Die Bitte nach der Erlösung von dem Bösen, wie sie im Vaterunser vorgetragen wurde, ist der Bitte nach Erlösung von der Leere gewichen.
Aber es geht uns doch gut! Auf nahezu allen Gebieten haben wir mehr erreicht, als sich unsere Urgroßväter hätten träumen lassen! Müssen wir uns einer grausamen Wahrheit stellen? Nämlich: dass man auch des Guten überdrüssig sein kann?
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