Nur wer wagt, kann über sich hinauswachsen

Wir haben uns komfortabel eingerichtet, das Abenteuer suchen wir höchstens in der Freizeit. Dabei wäre die Konfrontation mit dem Unbekannten ideal, um das wahre Ich zu ergründen.

Ein Mann klettert auf eine Klippe im Baisuntau-Gebirge in Usbekistan. Das Bild illustriert einen Kommentar über Abenteuer.
Kletterer an einer Klippe im Baisuntau-Gebirge in Usbekistan. © Getty Images

Waren Sie schon einmal in einem „Escape Room“? Seit gut zehn Jahren schießen entsprechende Angebote rund um den Globus aus dem Boden. Gegen teures Geld lässt man sich da als Gruppe in einen muffigen Raum einschließen, um im Kampf gegen die Zeit als Archäologe einen verschütteten Tempel frei zulegen, als „Good Cop“ einen Serienkiller zu jagen oder als Bösewicht eine Bank auszurauben. Wirklich brenzlig wird es freilich nie. Bekommt jemand Platzangst oder explodiert eine Spielbombe allzu heftig, lässt sich jederzeit der Alarmknopf drücken, und das Abenteuer ist ruckzuck beendet.

Wahre Abenteuer beginnen hinter der Komfortzone

Wie anders die Abenteuergeschichten meiner Kindheit: Robinson Crusoe, Winnetou und Old Shatterhand, der Hobbit oder Indiana Jones und natürlich Odysseus, der ruchlose Schlaumeier, der kein Ungeheuer fürchtete. In diesen Epen ging es stets aufs Ganze – um Leben und Tod.

Denn das wahre Abenteuer kennt keinen Alarmknopf, der uns sicher aus der Gefahrenzone lotst. Georg Simmel, einer der wenigen Philosophen, die sich explizit dem Begriff des Abenteuers gewidmet haben, schreibt 1911 in seiner Philosophie des Abenteuers: „Das Abenteuer ist etwas, das zwar wirklich geschieht, aber das Leben doch nicht als eine Fortsetzung seiner selbst empfängt.“ Das Abenteuer bricht mit aller Gewohnheit, wie wir sie kannten, und tanzt radikal aus der Reihe. Dabei ist dieser Tanz, auch das schreibt Simmel treffend, nie abschließend plan- und kontrollierbar, sondern trägt den Abgrund immer in sich. Dazu gehört, dass das Abenteuer nicht erzwungen werden, sondern einem nur widerfahren kann.

Kolumbus ist als Eroberer aufgebrochen und als Entdecker heimgekehrt; ihm ist nicht gelungen, was von langer Hand geplant war, dafür ist ihm ein Abenteuer zugestoßen, das um vieles bedeutsamer war.

Kein Platz für den Zufall

Diese Unplanbarkeit des Abenteuers ist es, die unserem Philosophicum seinen Untertitel verleiht: „Lob der Unverfügbarkeit“. Zu loben ist dieses Erratisch-Disruptive umso mehr, als der moderne Mensch es fürchtet. Er tut sich schwer mit dem Ungeplanten, wagt sich zwar vor – doch immer nur so weit, wie ihn Präventionsmaßnahmen und Frühwarnsysteme vordringen lassen.

Das Unberechenbare, das Zufällige haben in dieser verwalteten Welt kaum Platz. Das Resultat ist eine Vollkaskomentalität, die wir mit einem Verlust an Abenteuergeist bezahlen. Wenn, dann finden waghalsige Manöver nur noch in der Freizeit statt. Abenteuer als Event, wohl dosiert und doppelt rückversichert. Nach dem Adrenalinkick gibt’s eine Diätcola und ein Gruppenfoto.

Und im wirklichen Leben? Da wagen wir lieber wenig. Doch heißt es nicht im Volksmund: „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“? Fragt sich nur, was da eigentlich gewonnen werden soll.

Womöglich kommt der Mensch nie so sehr zu sich wie im Moment des Wagnisses.

Was fehlt dem Menschen, der ständig auf Nummer sicher geht? Wird ein Leben, das sich restlos planen und kontrollieren lässt, nicht schnell sterbenslangweilig? Und ist es nicht gerade das Unverfügbare, das uns verunsichert – und uns dabei lebendig fühlen lässt? Denn womöglich kommt der Mensch nie so sehr zu sich wie im Moment des Wagnisses: wenn er sich planlos aussetzt und ohne Rücksicht auf Verluste lebt, liebt und denkt. In der Konfrontation mit dem gänzlich Unbekannten zeigen sich oft das wahre Selbst und ungeahnte Möglichkeiten, über sich hinauszuwachsen.

Sehnsucht nach der Wildnis

Doch statt selbst das Abenteuer zu wagen, stellen wir uns lieber die Schrift Walden des amerikanischen Philosophen Henry David Thoreau, ins Regal. Der Autor hatte sich im 19. Jahrhundert in eine Hütte am Walden Pond im ländlichen Massachusetts zurückgezogen, um sich einer radikalen Frage zu stellen: Wie will ich leben – wirklich leben? Zwei Jahre lang verbrachte er in der Natur, fern vom Lärm der Welt, um „dem Leben alles Mark auszusaugen“. Thoreaus Experiment war mehr als ein Rückzug: Es war ein Aufbruch ins Eigentliche, ein Akt existenzieller Intensivierung.

Das Resultat ist eine Vollkaskomentalität, die wir mit einem Verlust an Abenteuerlust bezahlen.

Wobei das ja nur die klischierte Halbwahrheit ist. Thoreau brachte seine Wäsche nach Hause, damit sie ihm gemacht werde, und er wurde mit Essen beliefert, weil der eigene Garten so schnell dann doch nichts abwarf. Vor allem aber war er unabhängig und hatte keine familiären Pflichten.

Die Behauptung, wir wagten das Abenteuer heute nicht mehr aus einer inneren Trägheit heraus, greift zu kurz. Tatsache ist: Nicht alle können es sich leisten, zu unbekannten Ufern aufzubrechen. Wer keine Papiere hat, wenig finanzielle Polster oder bei schlechter Gesundheit ist, wagt zu Recht nicht den wilden Ritt. Und dennoch sehnen sich wohl viele danach: nach dem Reiz des Ungeplanten, dem Leben in hoher Dosis, einem Dasein, das brennt, statt bloß zu glimmen.

Fiebern wir nicht gerade deshalb innig mit, wenn moderne Helden die Arktis durchqueren, Ozeane durchschwimmen oder abheben zur Reise ins All? Weil in solchen Momenten etwas aufleuchtet, das wir in unserem Alltag kaum mehr spüren: die wuchtige Unmittelbarkeit des Lebens.

Nun würde das Philosophicum Lech seinem Namen nicht gerecht, wenn es die tiefsten Abenteuer nicht dem Denken selbst zutraute. Und gerade das unberechenbare Denken bedarf der neuerlichen Verteidigung. Denn wenn wir unsere Kreativität zunehmend an künstliche Intelligenzen delegieren, die, einem stochastischen Papagei gleich, wiederholen, was bereits gedacht wurde, droht das Denken selbst zu erlahmen. Dann gibt es nichts Neues mehr am Horizont der Ideen. Und wie traurig wäre das: ein Denken ohne Aufbruch, ohne Wagnis, über sich selbst hinauszugehen.

Auch das hat Thoreau erkannt. „Ist nicht unser eigenes Inneres ein weißer Fleck auf der Landkarte?“, fragt er und verschiebt den Entdeckerdrang von außen nach innen. Die wahre Herausforderung bestehe nicht darin, mit einer Staatsflotte tausende Meilen durch Sturm und Kälte zu segeln, sondern die eigenen inneren Ozeane zu durchqueren, die eigenen höheren Breitengrade zu erkunden und damit ein „Kolumbus neuer Welten und Kontinente im eigenen Innern“ zu sein. Gibt es eine schönere Verteidigung des Denkens als ein Abenteuer?

Das Philosophicum Lech findet von 23. bis 28. September 2025 unter dem Motto „Abenteuer“ statt. Anmeldung unter: philosophicum.com

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