Der Geduldige gewinnt

Ob beim Bewerbungsgespräch oder in der Bibel: Überall werden diejenigen unterschätzt, die den Nerv haben, auf etwas zu warten – und sei es bloß auf das Heranreifen eines giftigen Apfels.

Das Bild zeigt eine große Sanduhr, deren Sand aus violetten Blumen besteht. Neben der Sanduhr sitzt eine Person entspannt auf dem Boden, mit verschränkten Armen und angezogenen Beinen. Das Bild illustriert einen Artikel über Geduldige Menschen.
Der Geduldige weiß die Zeit auf seiner Seite. © Claudia Meitert

Bei Bewerbungen um einen Job werden Fragen gestellt, oftmals: „Was ist Ihre schlechteste Charaktereigenschaft?“ Darf ich wetten? Bei einem Großteil der Kandidaten oder Kandidatinnen wird die Antwort lauten: Ungeduld. Über den Umweg einer Untugend soll auf eine Tugend hingewiesen werden. Denn wann ist der clevere Mensch ungeduldig? Wenn andere nicht so schnell denken wie er. Ungeduld ist zwar keine gute Charaktereigenschaft, Gescheitheit dafür eine umso bessere. Der zukünftige Arbeitgeber soll denken: Mit der Ungeduld mögen sich die anderen herumplagen, seine Gescheitheit aber wird mir nützen.

Andererseits – warum wird so eine Frage überhaupt gestellt? Was glaubt die Betriebspsychologin, die diesen Fragebogen erarbeitet hat? Dass ein Bewerber ehrlich ist und schreibt: „Wenn ich nachts besoffen nach Hause komme, brunze ich gern in der Küche ins Waschbecken“? Dann hätte sie vielleicht einen Ehrlichen aus der Menge gefischt, aber noch nicht unbedingt jemanden, der im Betrieb etwas vorwärtsbringt. Wer hingegen die 08/15-Antwort „Ungeduld“ in die Rubrik einträgt, gibt zumindest zu erkennen, dass er die Absicht hinter der Frage erkannt hat, nämlich dass ein Cleverer gesucht wird, und er sich bemühen möchte, so einer zu sein.

Die Geduld hat heutzutage keine guten Karten. Hatte sie wahrscheinlich nie. Der Begriff „Eselsgeduld“ ist alt, und er verweist nicht auf die Geduld dieses Tieres, sondern auf seine Dummheit. Den Geduldigen, so glaubt man, kann man leicht übertölpeln. Wer glaubt das? Die Dummen glauben das. Die schnellen Dummen, die ungeduldigen Dummen. Sie laufen Gefahr, zum Opfer eines Geduldigen zu werden.

Die Zeit als Verbündete

Eines der merkwürdigsten Gedichte, die ich kenne, ist Der Giftbaum vom englischen Dichter William Blake. Er zürnt seinem Freund, er beschimpft ihn. Er zürnt seinem Feind, er schweigt und pflegt den Baum des Hasses mit Geduld, er netzt ihn mit seinen Tränen, bis er schöne Früchte trägt, und siehe, der Feind schleicht sich in der Nacht in den Garten, um die Frucht zu stehlen. Am Morgen liegt er tot unter dem Baum.

Den Geduldigen, so glaubt man, kann man leicht übertölpeln. Wer glaubt das? Die Dummen glauben das.

Der Geduldige weiß die Zeit auf seiner Seite. Er sucht sich den besten Verbündeten, den es gibt: das Gedächtnis. Der Geduldige vergisst nicht. Und meist verzeiht er auch nicht. Unter diesem Aspekt betrachtet, ist die Ungeduld die bessere Eigenschaft. Würde der Kandidat in den Fragebogen als schlechte Eigenschaft „Geduld“ eintragen, die für die Auswertung zuständige Psychologin wäre wahrscheinlich verwirrt. Würde sie empfehlen, den Job dem Geduldigen zu geben? Was ist seine gute Eigenschaft? Die Ungeduld?

Als der Teufel eine Wette gewann

Geduld ist groß, wenn sie einem erfüllbaren Wunsch gilt. Wenn sie gegen das Unerfüllbare antritt, ist sie entweder das Wirrbild eines Narren oder das Licht eines Heiligen. Heilige sind meistens Narren – Narren allerdings selten Heilige. Den Redaktoren der Bibel ist es hoch anzurechnen, dass sie das Buch Hiob im Kanon beließen.

Es zeigt uns Gott als keinen Guten. Er lässt sich von Satan zu einer bösen Wette verführen: Ob sein Knecht Hiob noch zu ihm steht, wenn er von den schlimmsten Plagen heimgesucht wird? Der Satan nimmt Hiob alles, seine Kinder, seinen Besitz, seinen Stolz, seine Gesundheit. Alle wenden sich von ihm ab. Doch Hiob hofft auf das Gute. Seine Geduld ist wahrhaft unendlich, denn das Gute kann ihm nur der Unendliche geben – zurückgeben. Er hält durch, er stellt sich nicht gegen Gott. Satan verliert die Wette. Am Ende gibt Gott dem Hiob das Zehnfache von dem, was Satan ihm genommen hat. Auch neue Kinder.

Als ob damit die Trauer, das Entsetzen über den Tod der ersten Kinder genommen werden könnte. Ist je eine traurigere Geschichte erzählt worden? Hat sich Hiobs Geduld ausgezahlt? Nein. – Nein, nicht der Teufel hat die Wette verloren, Gott hat sie verloren: Er ist böse geworden.

Lob der Biegsamkeit

„Die Geduld auf die Probe stellen“ – ein geflügeltes Wort. Wer stellt auf die Probe? Gewiss nicht unser Gemüt, schon gar nicht unser Verstand. Geduld ist ebenso wenig eine Tugend wie Ungeduld eine Untugend ist – oder umgekehrt. Seien wir pragmatisch! Erheben wir solche Begriffe nicht ins Moralische. Setzen wir sie ein, wie sie uns günstig sein können. Ja, seien wir pragmatisch! Machen wir uns vor Begriffen nicht klein.

Ein Ratschlag: Werden Sie je nach Ihrem besten Charakterzug gefragt, antworten Sie: meine Biegsamkeit. Werden Sie nach dem schlechtesten gefragt: meine Biegsamkeit. Das soll um Himmels willen – fast hätte ich geschrieben: um Gottes willen – nicht verwechselt werden mit Opportunismus. Der bedeutet, vor jemandem einen Buckel machen, sich selbst zu demütigen, den Kakao auch noch zu trinken, durch den man dich zieht. Ein Mensch sein zu wollen, der einigermaßen satt, friedlich, ruhig, freundlich, ohne Heldentum, im Großen und Ganzen zufrieden leben möchte – nein, das soll niemand eine Schande nennen dürfen!

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