Danke, Deutschland, für den kalten Winter
Bei der Reform des EU-Energiemarktes fordert Deutschland lautstark Solidarität. Dabei kocht es seit Jahren sein eigenes Süppchen in der Energiepolitik – und das zu Lasten aller.
Mit der Solidarität ist es so eine Sache. Ist man auf Unterstützung angewiesen ist, pocht man auf sie. Ist man in der stärkeren Position, beteuert man sie mit großen Worten und sichert gleichzeitig den eigenen Vorteil ab.
Diese Erfahrung macht nun auch die deutsche Regierung bei ihrer Suche nach neuen Gaslieferanten. Europäische Solidarität sei in der aktuellen Energiekrise wichtiger denn je, erklärte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) unter anderem im Juli bei seinen Besuchen in Wien und Prag, und umfasse auch eine engere Abstimmung und Koordination zwischen direkten Nachbarn.
Energieknappheit? Selbst Schuld!
Das stimmt zweifellos. Und erinnert die „direkten Nachbarn“ doch unweigerlich daran, dass „Abstimmung und Koordination“ in den letzten Jahren nicht gerade das Leitmotiv deutscher Politik waren. Nicht in der Migrationskrise 2015/16; nicht beim gleichzeitigen Ausstieg Deutschlands aus Kohle- und Kernenergie, der die Stabilität des europäischen Stromnetzes gefährdet; nicht im Beharren auf Nord Stream 2 trotz aller Proteste der östlichen EU-Länder; und – vergleichsweise unbedeutend, aber gleichwohl bezeichnend – nicht bei der wochenlangen Blockade einer Lieferung von bereits bezahlten Atemschutzmasken nach Österreich zu Beginn der Covid-Pandemie im März 2020. Geneigte Leser dürften diese Aufzählung selbst verlängern können.
Unverständnis für den deutschen Sonderweg
Und so werden die Länder der westlichen Hemisphäre in der aktuellen Krise mit Deutschland „solidarisch“, sprich gemeinsam und koordiniert, handeln, wenn es in ihrem Interesse liegt. Aber kein einziges Land kann und wird eigene Bedürfnisse zurückstellen, um deutsche zu befriedigen. Zumal das Verständnis für den deutschen Sonderweg in der Energiepolitik überschaubar sein dürfte. Das Urteil des Wall Street Journal aus dem Jahr 2019, dass es sich dabei um „die dümmste Energiepolitik der Welt“ handle, ist zwar längst zu Tode zitiert, unrichtig wird es dadurch freilich nicht.
Kein einziges Land kann und wird eigene Bedürfnisse zurückstellen, um deutsche zu befriedigen.
Im Ausland registriert man mit Verwunderung, dass Deutschland den ökologischen und sicherheitstechnischen Preis für sichere Energieversorgung allen anderen zumutet, nur nicht sich selbst. Zwar ringt das Land um jeden Tanker mit amerikanischem Flüssiggas, das durch Fracking gewonnen wird. Doch der eigenen Bevölkerung mag man das Verfahren nicht abverlangen, es ist seit 2017 verboten. Dabei liegt unter deutscher Erde genug Gas, um das ganze Land für mindestens zwei Jahrzehnte zu versorgen. Ist die deutsche Umwelt mehr wert als die amerikanische?
Doppelmoral bei Energieimporten
Mit gleichem Recht mag man sich fragen, warum ein Land aus freien Stücken seine Atomkraftwerke vorzeitig abschaltet, während es um Gas bettelt. Kernenergie trug 2021 immerhin zwölf Prozent zur Stromproduktion des Landes bei, Erdgas sechzehn und Kohle 27 Prozent. Die Behauptung, es gäbe nur eine Gas- und keine Stromkrise, ist eine Verhöhnung der Realität. Dass Deutschland in Summe mehr Strom exportiert als es importiert, ändert daran nichts: Der Strombedarf richtet sich nicht danach, ob gerade der Wind bläst oder die Sonne scheint.
Die Erneuerbaren brauchen Atomkraft
2021 flossen 9,8 Mrd. Kilowattstunden aus Frankreich in das deutsche Netz, aus den Niederlanden 7,84, aus Tschechien 6,05, aus der Schweiz 3,94, aus Schweden und aus Belgien immerhin noch jeweils 2,23. Alle diese Länder erzeugen Strom zu einem beträchtlichen Anteil mit Kernenergie. Ist die Sicherheit der Menschen dieser Länder weniger wert als die der Deutschen?
Russlands Überfall auf die Ukraine bringt ans Licht, wovor Deutschland bisher die Augen verschlossen hat. Hinter der moralischen Aufgeblähtheit der „Energiewende“ steckt heiße Luft, besser gesagt: russisches Gas. Ein Land, das Risiken und Unabwägbarkeiten einer„klimaneutralen“ Energieversorgung in andere Länder verlagert, kann anderen nicht als Vorbild dienen.
Ein vorhersehbares Dilemma
In diesem Licht war die jüngste Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Robert Habeck nach Kanada eine Begegnung Deutschlands mit der Realität. „Wir werden kurzfristig alles Erforderliche tun“, hat Kanadas Premierminister Justin Trudeau versichert: „Wir werden sehen, ob es sinnvoll ist, Flüssiggas zu exportieren und direkt nach Europa auszuführen. Wenn es geschäftlich vertretbar ist.“
Die Schlüsselworte sind „ob“ und „wenn“. Weniger elegant formuliert heißt das: Wenn es ein Geschäft ist, helfen wir euch. Was sich von Deutschlands angewandter Solidarität in der Vergangenheit nicht unterscheidet. Unter Angela Merkel war das Land nicht einmal bereit, seine Verpflichtungen innerhalb der NATO zu erfüllen und seine Verteidigungsfähigkeit aufrecht zu erhalten.
Ja, es geht auch ohne russisches Gas
Entsprechend gnadenlos urteilen amerikanische Kommentatoren wie James Kirchick in der Washington Post über die sich anbahnende Krise: „Unter der Führung der größten und reichsten Macht des Kontinents, Deutschland, hatte Europa reichlich Zeit, die wenig beneidenswerte Lage zu vermeiden, in der es sich jetzt befindet. Das europäische Energiedilemma ist das Ergebnis dreier miteinander verbundener Illusionen: dass die Abhängigkeit von russischem Gas die damit verbundenen (geringen) Risiken wert sei, dass der Lieferant dieses Gases ein Partner und kein Gegner sei, und dass ein konventioneller Krieg auf dem Kontinent der Vergangenheit angehöre. … Niemand hat Berlin gezwungen, nach der Fukushima-Katastrophe 2011 in typisch deutscher Panik seine Kernenergiebranche abzuschalten.“
Ungehörte Mahnungen
Kirchicks Schluss lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig: „Die westeuropäischen Staats- und Regierungschefs wurden wiederholt vom Wesen ihrer Illusionen gewarnt, und zwar von niemandem eindringlicher als von den Osteuropäern. Bereits 2006 verglich der polnische Verteidigungsminister Nord Stream mit dem Molotow-Ribbentrop-Pakt von 1939, der die osteuropäischen Staaten zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion aufteilte.
Drei Jahre später reagierte eine Gruppe angesehener Staatsmänner aus Mittel- und Osteuropa mit einem offenen Brief auf das unglückliche „Reset“ der Obama-Regierung mit Moskau und erklärte, dass „Russland als revisionistische Macht zurück ist, die eine Agenda aus dem 19. Jahrhundert mit Taktiken und Methoden des 21. Jahrhunderts verfolgt“. Ihre Mahnungen blieben ungehört. Wenn die Deutschen in diesem Winter mehr frösteln als sonst, können sie nur sich selbst die Schuld geben.“
Jedweder Anflug von Schadenfreude wäre freilich unangebracht: Wenn Deutschland fröstelt, klappert auch Österreich mit den Zähnen.