Wozu wählen wir überhaupt?

Deutschland hat die Regierung abgewählt, doch die Politik bleibt dieselbe. Nicht nur die Aufhebung der Schuldenbremse rüttelt an den Grundfesten des demokratischen Systems. 

Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz in der Bundestagsdebatte über die Änderung des deutschen Grundgesetzes und seiner Beschränkungen für die Staatsverschuldung. Berlin, 13.3.2025. Das Bild illustriert einen Artikel über die Abstimmung zur Schuldenbremse.
Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz in der Bundestagsdebatte über die Änderung des deutschen Grundgesetzes und seiner Beschränkungen für die Staatsverschuldung. Berlin, 13.3.2025. © Getty Images

Ein Platz in der Geschichte ist Friedrich Merz jetzt schon sicher. Er wird der erste deutsche Kanzler sein, der sein zentrales Wahlversprechen schon vor Amtsantritt gebrochen hat. Zwischen dem eisernen Festhalten an der Schuldenbremse und dem Beschluss über 1.000 Milliarden Euro neuer Schulden lagen nicht einmal drei Wochen.

Zur Veranschaulichung dieser Zahl: München ist die Stadt mit den höchsten Immobilienpreisen in Deutschland. Für eine durchschnittliche 75-Quadratmeter-Wohnung wechseln rd. 680.000 Euro den Besitzer. Mit 1.000 Milliarden Euro könnte man also 1,47 Millionen Wohnungen in der teuersten Stadt des Landes kaufen. Oder gleich ganz München, denn in der ganzen Stadt gibt es nur rund 837.000 Wohnungen. 

Mogelpackung Sondervermögen

Das neu beschlossene „Sondervermögen“ ist ein juristischer Etikettenschwindel, um sich trotz Schuldenbremse faktisch unbegrenzt verschulden zu können. Dabei besteht am Investitionsbedarf selbst kein Zweifel. Die Infrastruktur des Landes ist marode, die Mobilfunkabdeckung ist beschämend, schnelles Internet oft eine Seltenheit. Nicht nur die Bundeswehr ist in den letzten zwanzig Jahren komplett abgewirtschaftet worden. Niemand bei Verstand bezweifelt den Investitionsbedarf. 

Die politische Klasse brilliert nur mehr bei der Umdeutung von Begriffen, aber sie versagt bei der Problemlösung.

Allerdings sollte ein Land mit der Wirtschaftskraft Deutschlands diese Anstrengung durch Wirtschaftswachstum und Effizienzsteigerungen von Unternehmen und Verwaltung bewältigen können, statt durch die Aufnahme immer neuer Schulden. Dass Deutschland dazu nicht in der Lage ist, beweist das Unvermögen einer politischen Klasse, die nur mehr bei der Umdeutung von Begriffen brilliert, während sie bei der Problemlösung versagt. 

Wohin das Geld wirklich fließen wird, muss sich erst zeigen. Dass 100 Milliarden in den „Klimaschutz“ fließen sollen, verheißt nichts Gutes. Dieser Titel war schon in der Vergangenheit eine Chiffre für systematische Geldvernichtung durch die ideologiegetriebene, bewusst herbeigeführte Verteuerung von Energie. Die sozialen Folgen dieser Politik sollen dann mit „Investitionen in die soziale Infrastruktur“ (Teil des 400-Milliarden schweren Infrastruktur-Sondervermögens) abgefedert werden. Die neudeutsche Version des Sozialstaats ist ein links-grünes Perpetuum mobile, in Schwung gebracht unter der Kanzlerin einer einstmals konservativen Partei.

Triumph des Shitbürgertums

Ulf Poschardt, Herausgeber der Welt, beschreibt die moderne, moralisch selbstgerechte Mittelschicht, die sich als Weltretter inszeniert, aber vor allem ihre eigenen Privilegien schützt, in seinem gleichnamigen Buch als „Shitbürgertum“. Mit ihrer Mischung aus Anmaßung, Untertanengeist und Opportunismus habe diese Klasse die Hegemonie in den westlichen Gesellschaften errungen.

Folgt man diesem Befund, ist Deutschland das Epizentrum des europäischen Shitbürgertums und Angela Merkel war dessen erste Hohepriesterin. Ihre Nachfolger scheinen sie mühelos zu übertreffen: Mit der Aufnahme der Klimaneutralität bis 2045 in das Grundgesetz öffnen sie Tür und Tor, die Deindustrialisierung des Landes juristisch voranzutreiben. Vom Steuerzahler finanzierte Vereine wie die Deutsche Umwelthilfe werden nicht zögern, mit Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe grüne Politik zu machen. Allein die Möglichkeit, Industrieansiedlungen auf diesem Weg schier endlos zu verzögern, könnte ausreichen, um sie zu verhindern. Ganz abgesehen davon hat eine Jahreszahl in einer Verfassung nichts verloren. 

Die Parteien an den politischen Rändern, allen voran die AfD, haben ihren Erfolg den ehemaligen Volksparteien zu verdanken, die ihre Wähler politisch heimatlos gemacht haben. 

Obwohl die Ampel-Regierung krachend abgewählt worden ist, wird ihre Politik nun also unter der neuen Regierung schamlos auf die Spitze getrieben. Warum auch sollte die SPD als zweite Kraft ermöglichen, was sie als erste nicht zustande gebracht hat. Und dass nun ausgerechnet Friedrich Merz, Hoffnungsträger vieler Konservativer und Bürgerlicher, in die Fußstapfen Angela Merkels tritt, ist ein Triumph des Shitbürgertums, der sich als Pyrrhussieg entpuppen könnte. 

Das Pendel schlägt zurück

Der große österreichisch-britische Philosoph Karl Popper definierte Demokratie als Herrschaftsform, in der es möglich ist, die Herrschenden ohne Blutvergießen auszutauschen. Darin sah er ihren größten Vorzug. Wenn der Austausch der Herrschenden jedoch nichts an der Politik eines Landes ändert, verliert dieser Vorzug sein Gewicht. 

In Deutschland wählt eine deutliche Mehrheit rechts – und diese Mehrheit bekommt nach jeder Wahl eine ihrem Wesen nach links-grüne Politik. Ob die Eindämmung der Migration, die Wiederherstellung der inneren Sicherheit oder die Entfesselung der Wirtschaft durch Entbürokratisierung – in ihrem Versagen sind konservative und sozialdemokratische Parteien mit freiem Auge kaum mehr zu unterscheiden. Die Parteien an den politischen Rändern, allen voran die AfD, haben ihren Erfolg den ehemaligen Volksparteien zu verdanken, die ihre Wähler politisch heimatlos gemacht haben. 

Bei der letzten Bundestagswahl wählten 51 Prozent der Unter-25-Jährigen AfD, die Linke oder das Bündnis Sahra Wagenknecht. Während 2021 noch die FDP knapp vor den Grünen das Rennen um die Erstwähler gewann, führte bei den Youngsters 2025 die Linke vor der AfD. Was nach der Hegemonie des Shitbürgertums kommt, wissen wir nicht. Doch ein Pendel, das zurückschlägt, bleibt nicht in der Mitte stehen. Es schlägt nur das andere Ende kaputt. 

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