Das Dilemma eines Geisel-Deals
Jede Vereinbarung über die Freilassung der Geiseln der Hamas wirft moralische, politische und militärische Fragen auf. Die Wirklichkeit ist komplex, das gilt es auszuhalten.
Glaubt man israelischen Medien, dem Militär und der Regierung, dann stehen wir kurz vor einem finalen Geisel-Deal. Die Hamas ist im Gazastreifen so stark geschwächt worden, dass selbst eine sechswöchige Feuerpause kein Problem mehr darstellt.
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18 bis 33 Geiseln sollen demnach Stück für Stück gegen palästinensische Gefangene ausgetauscht werden. 33, das ist wohl die Anzahl derer, die nur noch am Leben zu sein scheinen. Wer von den rund 120 Vermissten, zwei Kleinkinder inbegriffen, noch am Leben ist, weiß niemand. 46 seien mit großer Wahrscheinlichkeit aber tot, so sind sich Experten sicher.
Seit fast 300 Tagen demonstrieren jeden Samstag Tausende vor dem Platz des Tel Aviv Museum of Art. Der sogenannte Hatufim-Square, übersetzt Geisel-Platz, ist der zentrale Begegnungsort der Angehörigen der Geiseln, aber auch jener, die die Angehörigen unterstützen.
Aber das tun nicht alle in Israel. Auch, wenn die israelische Gesellschaft sich durch ihre jüdische Identität als große Familie begreift, gibt es extreme interne Meinungsverschiedenheiten. Insbesondere, wenn es um die samstäglichen Demonstrationen geht. Denn nicht Wenige meinen, dass die große mediale Aufmerksamkeit, die durch die Demonstrationen generiert wird, einem Geisel-Deal eher schädlich ist. Die Bedeutung der Geiseln wird damit nur verstärkt und damit ihr Wert vergrößert. Würde man sie mit Absicht ignorieren, wäre die Hamas in Zugzwang, so aber hält man ihre Macht erst aufrecht.
Auch der Austausch der Geiseln gegen palästinensische Gefangene bleibt nicht ohne enorme Kritik.
Blickt man objektiv auf die Argumente, dann ist dem erst einmal nicht so viel entgegenzusetzen, außer natürlich die Empathie. Niemand wird einer Mutter verübeln, jeden Samstag ins Mikrophon zu schreien, wenn ihre Tochter seit über neun Monaten bei islamistischen Terroristen in Gefangenschaft sitzt. Niemand wird dieser Mutter verübeln, dass es ihr schlichtweg egal ist, wie viele Terroristen gegen ihr Kind eingetauscht werden, Hauptsache, sie bekommt endlich ihr Kind zurück. Doch auch der Austausch der Geiseln gegen palästinensische Gefangene bleibt nicht ohne enorme Kritik.
Die Wiederholung des Immergleichen
Das liegt vor allem daran, dass der Kopf der Hamas in Gaza, Yahya Sinwar, der für das Massaker am 7. Oktober verantwortlich ist, selbst bei einem Gefangenenaustausch freikam. Theoretisch wäre er aufgrund seiner Verbrechen lebenslang in israelischer Haft geblieben. Doch 2011 wurde er zusammen mit 1026 anderen Häftlingen gegen den Israeli Gilad Schalit eingetauscht. Schalit war fünf Jahre in Gefangenschaft in Gaza gewesen, bis es endlich zu einem Deal gekommen war. Das heißt, Geiselnahmen sind Programm unter der Hamas und werden es so lange sein, bis sie erfolglos bleiben. Logisch. Aber wie kann man unschuldige Zivilisten einfach zurücklassen?
Es gibt ein unausgesprochenes Versprechen innerhalb der israelischen Gesellschaft, nämlich, dass man zurückgeholt wird. Komme, was wolle. Aber das sieht nicht jeder so. Gerade Mitglieder von Spezialeinheiten wissen um die Bedeutung dieses Versprechens. Ein Freund von mir, der selbst mehrere Monate in Gaza war, eingesetzt, um Geiseln zu finden und zu befreien, erklärte, dass bei den Geiselnehmern alles darauf abzielt, dass bei den Befreiungen so viele wie möglich sterben.
Bei der letzten großen Befreiung im Juni, bei der drei Geiseln, darunter Noa Argamani, befreit werden konnten, kam der Soldat Arnon Zamora ums Leben und hinterließ Frau und Kinder. Aber nicht nur Israelis starben, sondern Dutzende palästinensische Zivilisten. Welches Menschenleben ist nun mehr wert?
Ein komplexer Geisel-Deal
Eine Frage, die eben nicht einfach und eindeutig beantwortet werden kann. Das macht auch den Deal, nach dem seit Monaten alle rufen, viel komplizierter als viele glauben. Denn bei ihm geht es nicht einfach nur um einen Gefangenenaustausch, sondern er umfasst auch logistische und militärische Aspekte.
Aktuell zum Beispiel geht es vor allem um die Kontrolle über die Philadelphi-Passage. Diese ist ein schmaler Streifen Land entlang der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten, insbesondere in der Nähe der Stadt Rafah. Diese Passage wurde nach dem Oslo-Abkommen von 1993 geschaffen, um als Pufferzone zwischen Ägypten und dem Gazastreifen zu dienen.
Wozu neun Monate Krieg mit tausenden Toten und Zerstörung, wenn man ein militärisches Ziel nicht konsequent verfolgt und sinnvoll zu Ende bringt?
Historisch gesehen wurde die Philadelphi-Passage von israelischen Streitkräften kontrolliert, die den Schmuggel von Waffen und anderen illegalen Gütern durch Tunnelsysteme verhindern sollten. Nach dem israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 übernahm die palästinensische Polizei die Kontrolle über den Bereich. Offensichtlich nicht erfolgreich, denn die Waffen- und Raketenarsenale, über die die Hamas in Gaza verfügen, wurden über genau jene Passage geschmuggelt.
Aktuell wird sie vom israelischen Militär kontrolliert, aber sollte sie durch einen Geisel-Deal zurück an die Palästinenser oder Ägypter übergeben werden, fängt das Spiel in wenigen Jahren wieder von vorne an. Wer die Hamas bekämpfen will und den Palästinensern in Gaza eine Chance auf ein normales Leben sichern möchte, macht keinen Deal, bei dem die Kontrolle zurückgegeben wird.
Die vielen Unwissenden, die behaupten, der Premierminister Bibi Netanyahu würde den Deal nur aus Selbstzweck verhindern, ignorieren wichtige militärische Aspekte. Wozu neun Monate Krieg, wozu Tausende Tote, wozu Zerstörung und innerpolitische Dispute, wenn man nicht konsequent ein militärisches Ziel verfolgt und sinnvoll zu Ende bringt? Nicht, dass ich nicht glaube, Bibi würde nicht auch egoistische Interessen haben, aber es gibt neben seinen egoistischen Interessen dennoch ernstzunehmende militärische, und die Kontrolle des Philadelphi-Korridors ist eines davon.
Die aktuelle Hoffnung ist, dass durch die vermutliche Ermordung von Mohammed Deif und anderen ranghohen Funktionären, die Hamas enorm an Verhandlungsgrundlage eingebüßt hat. Genau aus diesem Grund müssen die Operationen in Gaza gegen die Terrororganisation auch kontinuierlich weitergehen. Zu den Operationen zählen auch die Flugblätter, die über den Ballungszentren in Gaza abgeworfen werden und hohe Kopfgelder für Informationen über die Geiseln sowie Hamas-Führer aufrufen. Denn genauso wenig wie sich alle in Israel einig über politisches und militärisches Handeln sind, genauso wenig sind es die Menschen in Gaza.