Bitte hören Sie nicht auf, Nachrichten zu lesen!

Immer wieder wird empfohlen, den Nachrichtenkonsum zu reduzieren. Wer jedoch das Weltgeschehen komplett ignoriert, gibt sein Schicksal in die Hände anderer.

Das Bild zeigt einen Stapel Zeitungen. Das Bild illustriert einen Kommentar über den Nachrichtenkonsum.
Der Verzicht auf Nachrichten stellt eine Gefahr für die Demokratie dar, so Kolumnistin Katja Gentinetta. © Getty Images

Glaubt man einigen Ratgebern, ist der Verzicht auf Nachrichten ein Schlüssel zum Lebensglück. Keine Zeitung mehr zu lesen, den Fernseher nicht anzustellen, den Newsfeed auf dem Smartphone zu unterbrechen, all das könne Wunder wirken. Das Leben fühle sich augenblicklich leichter an, wenn man sich nicht täglich, ja stündlich oder sogar im Minutentakt mit den Unzulänglichkeiten der Politik, den Katastrophen in der Natur oder den Grausamkeiten der Kriege befassen muss.

Folglich genüge es, den Medienkonsum einzustellen, um sich stattdessen den wirklich wichtigen Dingen des Lebens zu widmen: dem Schönen, seinen Liebsten – oder vielleicht auch nur sich selbst. Für den Urlaub, der diese Tage ansteht, mag dies eine sinnvolle Strategie sein, um abzuschalten. Ein Rezept für den Alltag ist der Verzicht auf Nachrichten jedoch nicht. Vielmehr stellt er eine Gefahr für die Demokratie dar.

Nun gibt es gute Gründe, den Nachrichtenfluss nicht unkritisch zu konsumieren. Weder sind alle Nachrichten gleich relevant, noch stellen sie eine objektive Auswahl des Weltgeschehens dar. Dass beispielsweise der Krieg in der Ukraine nach dem Terrorakt der Hamas in den Hintergrund trat, ist primär der Aktualität, nicht aber der Schwere des Ereignisses geschuldet; dasselbe gilt für den brutalen Krieg im Sudan, der nur selten den Weg in unsere Schlagzeilen findet.

Wir selbst klicken reißerische Titel öfter an als ausführliche Analysen.

Überhaupt könnte man meinen, es gäbe nur Katastrophen und Skandale, da über Erfolge und Erfreuliches kaum je berichtet wird. Außerdem gibt es bedeutende Unterschiede in der Art und Weise, wie die News ausgewählt und präsentiert werden; nicht von ungefähr wird zwischen „Boulevard-“ und „Qualitätsmedien“ unterschieden. Schließlich sind auch die Medien dem Markt ausgesetzt – was nichts anderes heißt, als dass wir selbst es sind, die reißerische Titel öfter anklicken als ausführliche Analysen.

Wer Dauernachrichten also für das Abbild der Welt hält, unterliegt einer verzerrten Wahrnehmung. Daraus nun den Schluss zu ziehen, auf Nachrichten besser ganz zu verzichten, ist hingegen welt- und, mehr noch, lebensfremd.

Wir müssen unser Zusammenleben gestalten

Zum einen sind wir Teil dieser Welt, ob wir wollen oder nicht. Selbst wenn wir uns in unseren noch so kleinen, unbedeutenden Alltag zurückziehen, sind wir angewiesen darauf, dass wir diesen einigermaßen reibungslos bestehen können. Dazu gehören funktionierende Lieferketten für Nahrung, Kleider und Wohnen ebenso wie Straßen und öffentlicher Verkehr, von den Möglichkeiten der Telekommunikation ganz zu schweigen. Dass dies alles funktioniert, hat nicht nur mit ehrgeizigen Unternehmern und fleißigen Angestellten zu tun, die noch nicht zum eigentlichen Sinn des Lebens vorgedrungen sind, sondern auch mit einem System, das derartige Produkte und Dienstleistungen überhaupt hervorbringen kann.

Dafür wiederum braucht es Rechtsgrundlagen, die eine demokratisch verfasste Gesellschaft über klar definierte politische Prozesse über eine lange Zeit geschaffen hat. Weisen sie Mängel auf oder fallen sie aus der Zeit, können sie, wiederum durch institutionelle Prozesse, laufend an die wichtigen Veränderungen angepasst werden. Die Ergebnisse dieser Prozesse wiederum beruhen auf Überzeugungen und Entscheidungen demokratischer Gesellschaften, in denen alle, die über ein Bürgerrecht verfügen, eine Stimme haben.

Nicht wissen zu wollen, was in der Welt geschieht, ist vor allem eine Ausrede.

Ja, wir leben in einer Demokratie. Wir haben nicht nur die Möglichkeit, unser Zusammenleben so zu gestalten, wie wir es für richtig halten. Vielmehr sind wir dazu aufgefordert. Und die Grundlage dafür, dass wir uns auf eine verantwortungsvolle Weise einbringen können, sind: Nachrichten. Es sind Informationen darüber, was in der Welt geschieht, was in welchen Ländern funktioniert und was nicht, was welche Menschen bewegt und warum.

Stündlich neue Erregungsvorschläge

Von Peter Sloterdijk stammt die Beobachtung, dass die Funktion der Medien darin besteht, in einer „Multi-Milieu-Gesellschaft … Kollektive als solche zu evozieren, indem sie ihnen täglich und stündlich neue Erregungsvorschläge unterbreiten“. Anders gesagt: In unserer Pluralität und Diversität – wer wir sind, was wir tun und wie wir fühlen – sind es nicht zuletzt Nachrichten, die uns ein Gefühl von Gemeinschaft vermitteln. Sie geben uns eine Ahnung davon, dass wir zumindest dann zusammengehören, wenn wir bedroht sind oder gemeinsam ein Problem bewältigen müssen.

Nicht wissen zu wollen, was in der Welt geschieht, ist damit vor allem eine Ausrede, um sich jeglichen Engagements zu entbinden. Wer das Weltgeschehen ignoriert, überlässt die Zuständigkeit für das eigene Leben – mit allem Wohlstand, den Bequemlichkeiten und auch der Sicherheit, die man darin genießt – allen anderen. Die Konsequenz: Wer seine eigene Verantwortung preisgibt, macht sich abhängig.

Verzicht auf Mitbestimmung

Gemäß dem „Digital News Report“ 2023 des Reuters Institute for the Study of Journalism sind es inzwischen 36 Prozent der Menschen (weltweit), die angeben, Nachrichten zu vermeiden. Die Zahlen in der Schweiz liegen gemäß dem Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich sogar noch leicht höher, bei den 16- bis 29-Jährigen sind es gar 56 Prozent. Für Demokratien sind diese Zahlen besorgniserregend. Wenn immer mehr Menschen sich nicht mehr informieren und sich damit auch nicht am Geschehen beteiligen wollen, verzichten sie auf ihr demokratisches Privileg, ihre Lebensumstände mitzubestimmen.

Sie verfehlen damit nicht nur ihr politisches Recht, sondern auch das, was den Menschen ausmacht: die Fähigkeit, auf die Umwelt nicht nur zu reagieren, sondern sie zu gestalten. Eine Gesellschaft, die es nicht für nötig hält, sich mit der Welt zu befassen und zu handeln, befördert das Ende der Demokratie. Wer seine eigene Möglichkeit zu entscheiden nicht wahrnimmt, überlässt die Entscheidung anderen. Was das für die Menschen bedeuten kann, versteht, wer sich etwa über den Zustand der Gesellschaften in Russland, im Iran oder in China informiert. Es ist kein erstrebenswertes Ziel.

Es mag also sinnvoll sein, sich für eine gewisse Zeit – in den Ferien, am Wochenende – vom Weltgeschehen ab- und einem Buch oder Musikstück zuzuwenden. Allerdings sollte diese Form der Erholung vor allem eines bezwecken: eine gestärkte Rückkehr in die Welt und das eigene Leben, um dort seine Verantwortung wieder wahrnehmen zu können.

Kommentare & Kolumnen

Unser Newsletter