Unser russischer Partner
Die Schweiz arbeitet einmal mehr an einer neuen sicherheitspolitischen Strategie. In Österreich wird das Thema weiterhin sträflich vernachlässigt, obwohl das gültige Papier Russland als Partner bezeichnet. Sind wir naiv, unfähig oder beides?

Der Schweizer Bundesrat hat am 26. Juni 2024 die Erarbeitung einer neuen sicherheitspolitischen Strategie beschlossen. Zuvor hatte er im November 2021 und im September 2022 Berichte dazu verfasst. Mit dem russischen Angriff sei „die Haltung zur Neutralität etwas kritischer, jene zur internationalen Zusammenarbeit dafür offener geworden; es gibt mehr Zustimmung für eine stärkere Ausrichtung auf die Verteidigung und die Aufstockung der finanziellen Mittel für die Armee.
Mehr in den Fokus gerückt sind auch die Antizipation von Bedrohungen und Gefahren sowie der Bevölkerungsschutz, insbesondere mit Blick auf radiologische Ereignisse. Zudem hat der Krieg unmittelbare und massive Auswirkungen für Politikbereiche wie Sanktionen, Asylwesen und Versorgung mit kritischen Gütern und Leistungen, insbesondere im Energiebereich.“
Während das Thema in der Schweiz regelmäßig aufs politische Parkett kommt, bleibt Österreich bei seiner „Kopf in den Sand“-Haltung. Bedarf gäbe es allerdings zur Genüge, der letzten jährlichen Umfrage des Bundesheeres zum Thema Sicherheitspolitik zufolge erachtet „der größte Anteil (36 %)“ der Befragten die Lage in Europa als „eher unsicher“ oder „sehr unsicher“.
Während das Thema in der Schweiz regelmäßig aufs politische Parkett kommt, bleibt Österreich bei seiner „Kopf in den Sand“-Haltung.
„Sicherheit in einer neuen Dekade – Sicherheit neu gestalten“ lautet der Titel der aktuellen Österreichischen Sicherheitsstrategie. Klingt doch ganz vernünftig. Nur: Die Dekade ist mittlerweile vorbei, die Sicherheitsstrategie stammt aus dem Jahr 2013. Das merkt man ihr auch an, Cyber-Angriffe werden darin noch als „neue Gefährdungen“ (so neu sind sie mittlerweile nicht mehr) beschrieben, die Solidaritätsklausel des (damals noch relativ jungen) Lissabonner Vertrags wird ebenso als „neu“ bezeichnet wie das aus dem Jahr 2010 stammende und damit längst überholte strategische Konzept der NATO (sie hat erst 2022 ein neues angenommen).
Russland als Partner
Am schlechtesten gealtert ist freilich jener Passus, in dem Russland als „globaler Partner … im Bereich innere Sicherheit, auch in für Österreich unmittelbar relevanten Umfeldregionen“ (die Ukraine? Georgien?) beschrieben wird. Ein Jahr später folgte die Annexion der Krim und der von Russland ausgehende Krieg in der Ostukraine, drei Jahre später die gezielte Beeinflussung der Wahlen in den USA. Anlass genug für eine neue oder zumindest aktualisierte Sicherheitsstrategie.
Warum die Krym „russisch“ wurde
Allein, das ist nicht passiert. Ganz im Gegenteil, Österreich hat sich weiter und fester an Russland gebunden. 2018 war ein Schlüsseljahr, damals feierten die OMV und Gazprom zum Anlass des 50-jährigen Jubiläums des sowjetisch-österreichischen Gaslieferungsvertrags eine „Goldene Hochzeit“ in der Wiener Hofburg und unterzeichneten eine bis 2040 laufende Vertragsverlängerung für Erdgaslieferungen. OMV-Chef Rainer Seele sprach damals davon, dass man „nur auf einer Hochzeit tanzen“ soll und Putin wollte ihn mit einem Orden auszeichnen. Dazu kommen die übrigen österreichisch-russischen Verstrickungen, ob Raiffeisen (die wohl wichtigste ausländische Bank und braver Steuerzahler in Russland) oder kleinere Unternehmer, die sich für Propaganda einspannen lassen, russische Spionage und Einflussnahme.
Erst kürzlich sprach der bekannte Enthüllungsjournalist Christo Grozev in Wien bei einem seiner seltenen öffentlichen Auftritte von russischer Unterwanderung in Österreich, die von Parteien bis hin zu größeren Firmen „von strategischer Bedeutung“ reiche.
Sicherheit 2024
Aber zurück zum Thema. Man kann natürlich einwenden, dass eine Sicherheitsstrategie letzten Endes auch nur ein Stück Papier, eine Art Lippenbekenntnis ist. Taten sprechen lauter als Worte. Was zählt, sind Investitionen in die Sicherheit, allen voran Budgeterhöhungen für Bundesheer und Polizei, von Personal bis hin zu Gerätschaften.
So wurde im Oktober 2022 eine Aufstockung des Budgets verlautbart, 16 Milliarden Euro bis 2027, von „Verbesserung der Mobilität der Einsatzkräfte“, „Erhöhung des Schutzes und der Wirkung für unsere Soldatinnen und Soldaten“ und „Autarkie zur Stärkung der Verteidigungsbereitschaft“ ist im „Aufbauplan Bundesheer 2032“ die Rede. Außerdem erarbeitet das Bundesheer jährlich ein „Risikobild“, das zuletzt von einer „drastischen Verschlechterung des sicherheitspolitischen Umfelds Europas und damit auch Österreichs“ sprach.
Und dennoch: Ein ernstzunehmender aktueller und ministerien-, institutionen- ja gesellschaftsübergreifender Rahmen fehlt. Österreich ist eines von nur fünf Ländern mit einer Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2013 oder davor, wie der Innsbrucker Politologe Martin Senn betont: Dabei brauchen gerade kleinere Staaten aufgrund ihrer geringeren Ressourcen und ihrer Verletzlichkeit Gesamtstrategien. Sicherheit ist zwar ein Primat von Innen- und Verteidigungsministerium, aber eben nicht deren exklusive Angelegenheit. Sie betrifft die gesamte Regierung, Unternehmen, den Bildungsbereich und letztlich jeden einzelnen.
Neben der militärischen gibt es auch eine „geistige“, „zivile“ und „wirtschaftliche“ Landesverteidigung (Artikel 9a Bundes-Verfassungsgesetz): „das Zusammenwirken aller relevanten Akteure, Mittel und Instrumente, durch deren Ineinandergreifen die Sicherheit unseres Landes umfassend erhalten und gegen Bedrohungen von außen gestärkt wird“, wie es in der deutschen (!) Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2023 heißt.
Wer sicherheitspolitisch denkt, sollte kein hoffnungsloser Optimist sein, sondern mögliche Gefahren so früh erkennen, dass sie keine tatsächlichen werden.
Anders gesagt: Eine Sicherheitsstrategie ist eine Art Kodifizierung, wo Österreich verankert, wie es seine Sicherheit gewährleisten will, mit wem es zusammenarbeiten möchte (und mit wem nicht) und wie (und wie nicht). Die darin behandelten Themen können von der Ausstattung des Bundesheeres über die Kooperation innerhalb der EU oder mit der NATO bis hin zu Migration, dem Umgang mit (Umwelt-)Katastrophen, Energieversorgung und Cybersecurity reichen. Über alledem steht die simple Erkenntnis, dass nahezu jedes größere Ereignis zu einer Bedrohung werden kann.
Wer sicherheitspolitisch denkt, sollte kein hoffnungsloser Optimist sein, sondern mögliche Gefahren so früh erkennen, dass sie keine tatsächlichen werden. „Die fetten Jahre sind vorbei“ (Politikwissenschaftler Herfried Münkler) und gerade Militärs sind daher „zu äußerster Ehrlichkeit und Objektivität angehalten“, sie versuchen (oder sollten versuchen), „der Bevölkerung diese schwere Zeit – eine historische Zeit – zu erklären“ (Oberst Markus Reisner), um nur zwei insbesondere seit Februar 2022 besonders prominent gewordene Stimmen aus den Reihen der Politikwissenschaft und des Militärs zu zitieren.
Eine Zeit, in der Österreich bis auf Weiteres eine aktuelle Sicherheitsstrategie fehlt. Am Willen mangelte es nicht; im April 2023 wurde im Ministerrat der Antrag gestellt, „eine Weiterentwicklung der österreichischen Sicherheitsstrategie unter Federführung des Bundeskanzleramtes“ einzuleiten „und das Ergebnis dem Nationalrat bis Ende 2023 zur Debatte“ zuzuleiten.
Danach wurde viel geredet, Kaffee getrunken und Kuchen gegessen (an dieser Stelle sei kurz erwähnt, dass der Autor dieser Zeilen Mitglied der „Steuerungsgruppe“ zur Erstellung dieser Sicherheitsstrategie war), aber eben keine österreichische Sicherheitsstrategie angenommen – weil man sich beim Thema Energieversorgung, wo die Grünen und die ÖVP sich beim Thema russisches Gas (nahezu alle österreichischen Gasimporte stammen aus Russland), von dem die Grünen sich lossagen wollen, nicht einigen können. Das ist keine Detailfrage, solche gibt es beim Thema Sicherheit nicht.