Döp dödö döp! Muhaha! Und sonst?
Wenigstens in den letzten Tagen vor der EU-Wahl könnte man sich darauf besinnen, dass Europa andere Probleme hat als grölende Sylt-Touristen und eine verhaltensauffällige Spitzenkandidatin.
Lässt man die mehr oder weniger unterhaltsamen Aufreger beiseite, stach in den letzten Wochen vor allem ins Auge, wie sehr Medien und Parteien Europas globales Gewicht und damit ihren eigenen Einfluss überschätzen. Der reale Bedeutungsverlust des Kontinents – politisch, wirtschaftlich und militärisch – steht im diametralen Gegensatz zu den vollmundigen Plänen einer Union, die ihren Mangel an politischer Vision durch bürokratische Umtriebigkeit zu ersetzen versucht.
Mehr von Thomas Eppinger
Die Währung, in der man auf geopolitischen Einfluss einzahlt, ist wirtschaftliche und/oder militärische Stärke. Militärisch ist die EU weder willens noch fähig, ihre Interessen durchzusetzen. Wirtschaftlich steht und fällt ihr Einfluss mit der Bedeutung des Binnenmarktes für Drittstaaten: Wer zu diesem Markt Zutritt haben will, muss sich an dessen Regeln halten.
Abgehängt
Kürzlich machte die Meldung die Runde, dass der US-Chiphersteller Nvidia mehr wert sei als alle deutschen DAX-Unternehmen zusammen. Zur Einordnung: Der Index misst die Wertentwicklung der 40 größten börsennotierten Unternehmen in Deutschland und repräsentiert rund 80 Prozent der Marktkapitalisierung aller börsennotierten Aktiengesellschaften des Landes. Nvidia ist aktuell nur das drittgrößte Unternehmen der USA hinter Microsoft und Apple.
Das Beispiel steht symbolhaft für den schleichenden Abstieg Europas. Die EU hat es nicht fertiggebracht, den Binnenmarkt um einen gemeinsamen Kapitalmarkt zu vertiefen und um Freihandelszonen zu erweitern.
TTIP ist tot, das EU-kanadische Freihandelsabkommen CETA ist noch immer nicht von allen Mitgliedsstaaten ratifiziert und über das Abkommen mit den lateinamerikanischen Mercosur-Ländern wird seit einem Vierteljahrhundert verhandelt. Was der NEOS-Abgeordnete Gerald Loacker im Parlament unlängst dem österreichischen Bauernbund empört entgegengeschleudert hat, ließe sich sinngemäß dem ganzen Kontinent zurufen: „Mit wem wollt ihr eigentlich Handel treiben? Dann tauscht doch eure Ziegen und Kühe untereinander!“
Der Versuch, politische Einheit durch die kleinzellige Reglementierung von Unternehmen und privaten Lebensbereichen bürokratisch zu erzwingen, bewirkt das Gegenteil.
Wie so vieles andere auch scheitern Freihandelsabkommen an den Partikularinteressen der einzelnen Mitgliedsstaaten. Als Folge haben uns dynamischere Wirtschaftsräume längst überholt. Trug die Europäische Union 1980 noch mehr als ein Viertel zum kaufkraftbereinigten globalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei, sank dieser Anteil bis 2023 auf rund 14 Prozent, Tendenz fallend. Die größte Freihandelszone der Welt ist der indopazifische Raum, wo sich Länder wie China, Japan, Korea, Australien und Neuseeland zur „Umfassenden Regionalen Wirtschaftspartnerschaft“ (RCEP) zusammengeschlossen haben, auf die inzwischen 31,6 Prozent des globalen BIP entfallen.
Der Kaiser ist nackt
Im Gegensatz zu den USA, wo jeder stolze Grieche ein stolzer Amerikaner werden kann, hat Europa keine eigene Identität. So positiv es ist, dass wir uns gegenseitig nicht mehr die Köpfe einschlagen: Frieden als einziger Wesenskern der Europäischen Union ist für die Identitätsbildung zu wenig. Solange es nicht so etwas wie einen „European Dream“ gibt, wird die EU immer nur die Bühne zur Durchsetzung nationaler Interessen auf europäischer Ebene bleiben.
„Mehr Europa“ ist jedoch keine Einbahnstraße, sondern ein verschlungener Pfad, der manchmal auch ein Stück in die andere Richtung führt. Der Versuch, politische Einheit durch die kleinzellige Reglementierung von Unternehmen und privaten Lebensbereichen bürokratisch zu erzwingen, bewirkt das Gegenteil.
Eine in die Planwirtschaft abgleitende EU – Stichwort Taxonomie – wird in Forschung, Wirtschaftsentwicklung und Infrastruktur weiter zurückfallen. Und das Scheitern an konkreten Aufgaben wie Sicherheit und Migration lässt sich nicht kompensieren, indem man sich wahlweise zu Rettern der Welt oder des Klimas aufbläst. Die Bürger sehen, wenn der Kaiser nackt ist, und die anderen Kaiser dieser Welt sehen es sogar noch früher.
Trotzdem bei der EU-Wahl wählen
Die provinzielle Selbstüberschätzung des Kontinents spiegelt sich in den Wahlkampfslogans der Parteien wider. Nach der Europawahl wird Österreich mit 20 von 720 Abgeordneten im Europäischen Parlament vertreten sein. Der tatsächliche Einfluss unserer Kandidaten auf Europa dürfte also eher überschaubar sein. Weder werden sie „den EU-Wahnsinn stoppen“ (sprich uns an Putin ausliefern), noch „vor Trump schützen“ können. Und „KlimaKlimaKlimaSchutzSchutzSchutz“-Rufe haben genauso wenig Einfluss auf das Weltklima wie acht Kilometer Autobahn unter der Lobau.
Wer wäre legitimiert, portugiesische, belgische oder österreichische Soldaten in den Krieg zu schicken?
Das Ende des Wahlkampfs wäre ein geeigneter Anfang für eine Diskussion über Schritte zur Demokratisierung der EU, ohne die es keine gemeinsame europäische Politik geben kann. Jede Partei kann im EU-Parlament nur über ihre Fraktion einen gewissen Einfluss ausüben. Aber was wissen wir über die Programme der anderen Parteien in den Fraktionen von EPP, S&D, Renew Europe, ID oder Die Grünen/EFA, um nur jene zu nennen, in denen die österreichischen Parteien derzeit organisiert sind? Die Kandidatur von europaweiten Listen mit einem gemeinsamen Programm und nationalen Spitzenkandidaten wäre ein erster Schritt.
Ein zweiter wäre die institutionelle Antwort auf die Frage, wie man Frau Von der Leyen abwählen kann. Die Kommissionspräsidenten, quasi die Regierungschefin Europas, wurde von keinem Bürger gewählt; sie stand nicht einmal zur Wahl. Und wir träumen von einer gemeinsamen Armee. Wer wäre denn legitimiert, portugiesische, belgische oder österreichische Soldaten in den Krieg zu schicken?
Wenn es je eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik geben soll, führt kein Weg daran vorbei, die Regierungsspitze wie in den USA von allen Bürgern wählen zu lassen oder in geheimer Abstimmung durch ein von allen Bürgern gewähltes Parlament zu ernennen. „Mehr Europa“ bedeutet zugleich weniger Macht für die Mitgliedsstaaten – ohne ein Mehr an demokratischer Legitimation sollte man sich das besser nicht wünschen.
Es gibt keine vernünftige Alternative zur EU. Aber wenn sie Bestand haben soll, muss sie sich weiterentwickeln, sonst war der Brexit erst der Anfang ihres Zerfalls. Dem Philosophen Rudolf Burger wird das Bonmot zugeschrieben, alles, was er sich von der EU wünsche, sei ein Schweizer Pass. Ich wünsche mir eine EU, in der dieser Wunsch nicht mehr aufkommt. Und natürlich werde ich wählen, wenn auch nicht gerade in freudiger Erwartung. Zumal weder der Wahlkampf noch die Politik der letzten Jahre ernsthafte Ansätze erkennen lassen, den wirtschaftlichen, technologischen, geopolitischen und militärischen Abstieg der Union zu stoppen oder gar einen Aufstieg einzuleiten.