Putin erfordert Europas volle Schlagkraft

Europa kann nur vereint und mit der Bündelung aller Kräfte den Vormarsch Russlands in der Ukraine stoppen. Wenn der Kontinent nach außen zersplittert auftritt, wird er von den anderen Großmächten zerrieben.

Das Bild zeigt im Vordergrund die Europa-Flagge und links daneben die Flaggen der Mitgliedsländer vor dem Louise-Weiss-Gebäude des Europäischen Parlaments in Straßburg. Das Bild illustriert einen Kommentar über Europas Schlagkraft.
Europa braucht eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und muss geeint auftreten, wenn es sich nicht von den anderen Großen zerreiben lassen will. © Getty Images

Geopolitik steht wieder auf der politischen Agenda: Russland bedroht Europa; China erhebt Anspruch auf die Vorherrschaft im asiatischen Raum; die USA überlegen sich, wo in der Welt sie noch Verantwortung übernehmen wollen; der Iran demonstriert seine Macht im Nahen Osten; die Türkei unterstreicht ihren Anspruch als Regionalmacht zwischen Ost und West – um nur einige Beispiele zu nennen. 

Für die EU ist dies eine riesige Herausforderung – vermutlich sogar die größte seit ihrem Bestehen überhaupt. Sie muss sich – in direktem Gegensatz zu jenen Ländern und Imperien, die sich auf ihre Vergangenheit berufen und das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen – in die Zukunft projizieren. Und dazu müssen die europäischen Länder ihre jeweils eigene Geschichte überwinden, einmal mehr. Europa steht damit vor dem massivsten Kraftakt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. 

Wie schwer dies ist, zeigt sich nicht erst seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Ob im Verhältnis zu den USA oder zu China: Stets hatten die europäischen Mitgliedstaaten in erster Linie ihre eigene Geschichte im Blick. Bereits unter der Präsidentschaft Donald Trumps (2017–2021) hätte sich Europa viel stärker auf seine eigene Verteidigungsfähigkeit besinnen sollen. Deutschland schreckte davor zurück, aufzurüsten und sich damit auch nur potenziell in eine Logik des Kriegs zu begeben – mit Blick auf seine Geschichte. Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte zwar die Debatte mit dem Begriff der „strategischen Autonomie“ befeuert, war letztlich jedoch ebenfalls der historischen Linie seines Landes gefolgt, das seit Charles de Gaulle mit der NATO ein Wechselspiel von Nähe und Distanz betreibt.

Stets hatten maßgebliche EU-Länder ihre eigene Geschichte im Blick.

Großbritannien löste sich von der Europäischen Union, weil sich konservative Kräfte auf das alte Empire beriefen, ja sogar den Mythos des Commonwealth bemühten – als würde dieser Zusammenschluss der ehemaligen Kolonialländer unter britischer Leitung heute noch irgendeine Rolle spielen. Und vielleicht schwelgte Italien gar in Erinnerung an jene Zeit, als Venedig noch den Seehandel beherrschte, als es sich auf die Zusammenarbeit mit Chinas Seidenstraßenprojekt einließ.

Viele EU-Länder, viele Stimmen

Diese unterschiedlichen Auffassungen und Herangehensweisen setzen sich heute, wo es darum ginge, die demokratische Ukraine in ihrem Kampf gegen den Übergriff des russischen Autokraten zu unterstützen, fort. Abgesehen von den Sanktionsbeschlüssen tun sich die Staatschefs schwer, mit einer Stimme zu sprechen. Immerhin schließen die einzelnen Mitgliedstaaten Verträge mit der Ukraine, sie schrecken aber davor zurück, gemeinsam und entschlossen zu handeln. Die Union müsste den Mut haben, eine Industrie anzuschieben, die auch ihrer eigenen Verteidigung dient: heute in der Ukraine, morgen vielleicht im eigenen Land.

Leider zeugt dieses Zögern von taktischer Kurzsichtigkeit, denn es ist schwerlich vorstellbar, dass China oder Russland sich „beruhigen“. Und es ist schlicht abzusehen, dass die USA über kurz oder lang ihren Schutzschirm über dem Kontinent wieder einklappen – und zwar unabhängig davon, wer dort die nächste Präsidentschaft innehat. 

Die Welt ist in Aufruhr, und es deutet sich eine mögliche Neuordnung an. Strategische Weitsicht hieße deshalb gerade auch für die europäischen Staatschefs, sich auf eine Welt einzustellen, in der Europa nur als geeinter Kontinent eine ernst zu nehmende politische Existenz haben kann. In seinem kürzlich erschienenen Buch Welt in Aufruhr entwickelt der deutsche Politikwissenschaftler Herfried Münkler ein Szenario, wonach sich verschiedene regionale Pole herausbilden werden, genauer: deren fünf. Demnach entstünde ein Gleichgewicht der Mächte, das sich in der Geschichte offenbar immer wieder bewährt hat und besser funktioniert als uni- oder bipolare Ordnungen.

Gemeinsame Außenpolitik nur auf dem Papier

In Zukunft wären dies, so seine Vermutung: weiterhin die USA und – hoffentlich – Europa im demokratischen Lager, China sowie Russland im Lager der Autokratien sowie, gleichsam als Zünglein an der Waage, Indien. In einer solchen Welt müsste Europa geeint auftreten, wenn es sich nicht von den anderen Großen zerreiben lassen will. 

Autokraten müssen niemanden nach seiner Meinung fragen.

Voraussetzung dafür wäre eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Diese gibt es zwar auf dem Papier, in der Realität aber hat sie sich noch nicht durchsetzen können. Der Grund dafür liegt auch in der demokratischen Verfassung der europäischen Länder. Bereits der Historiker und Politiker Alexis de Tocqueville hatte bei seinem Studium der noch jungen Demokratie Amerikas die Außenpolitik als potenzielle Schwachstelle ausgemacht. Bei aller Begeisterung über die hohe Gemeindeautonomie – die „gewöhnliche Regierung“ für die Dinge des Alltags, wie er sie nannte – brauche eine Demokratie, so der republikanische Analytiker, unbedingt eine „außergewöhnliche Regierung“ für die allgemeinen Interessen des Landes, will heißen: die geeinten Interessen nach außen.

Bis heute stellt die Außenpolitik die größte Schwierigkeit auch im demokratischen Europa dar. Die Regierungen der Mitgliedstaaten sind auf die Unterstützung ihrer Wähler angewiesen, und deren eigene Interessen gehen vor. Autokraten hingegen müssen niemanden nach seiner Meinung fragen. Mehr noch: Sie können durch die Demonstration von Härte nach außen, sprich Kriege, von inneren Problemen ablenken. 

Was braucht Europa, um nach außen eins zu sein? Keine Ablenkung, sondern einzig die Einsicht, dass es sich bei Putin um einen gemeinsamen äußeren Feind handelt, dessen Abwehr nur mit vereinten Kräften gelingen kann. 

Europa muss seine historischen Gräben überwinden

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es die Vereinigten Staaten von Amerika, die den Zusammenschluss der Erzfeinde Deutschland und Frankreich und anderer kriegsgebeutelter Staaten in der „Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ beförderten. Sie ist der Ursprung des prosperierenden europäischen Binnenmarkts. Heute ist es an Europa selbst, einen nächsten Schritt zu tun, um seine Errungenschaften zu verteidigen. Auch dazu können sich die verschiedenen Länder auf ihre Geschichte berufen, denn diese zeigt, dass die verschiedensten Gräben sukzessive überwunden werden konnten.

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