Daran scheitert Europas Rüstungsindustrie

Europas Rüstungsindustrie wurde sträflich vernachlässigt. Nationale Eifersüchteleien machen die Kooperation oft schwierig. Die gute Nachricht: Die Kapazitäten für eine effektive Verteidigung wären vorhanden.

Illustration für einen Beitrag über Europas Ruestungsindustrie: zwei Hände drehen einen Zauberwürfel auf dem verschiedene durcheinandergemischteTeile von Rüstungsgütern wie Jets, Panzer und Kriegsschiffen zu sehen sind.
Europas Rüstungsindustrie könnte alles bieten, was der Kontinent für eine effektive Verteidigung bräuchte. © Jens Bonnke
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Auf den Punkt gebracht

  • Abgehängt. Europa hat auf dem globalen Rüstungsmarkt gegenüber den USA und China an Boden verloren.
  • Unkoordiniert. Die Produktion von Rüstungsgütern in den EU-Ländern ist stark zersplittert und bedient mehrgleisige, ineffiziente Strukturen.
  • US-Dominanz. Washington fördert ebenfalls die eigenen Rüstungsproduzenten, die Konkurrenz aus Europa skeptisch gegenüberstehen.
  • Ressourcen. Gemeinsam verfügt Europa über die gesamte Bandbreite an Kompetenzen, um eine schlagkräftige Armee auszustatten.

Nach dem Kalten Krieg begann Europa, die eigene Verteidigungsindustrie zu vernachlässigen. Jahrzehntelang gab es nicht ausreichend Geld dafür, und die Finanz- und Eurokrise nach 2008 verschlimmerte die Situation. Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine wird nun wieder investiert. Laut dem Stockholm International Peace Research Institute erhöhten sich die europäischen Militärausgaben bis 2023 auf 552 Milliarden Euro, was einem Anstieg von 16 Prozent gegenüber 2022 und plus 62 Prozent gegenüber 2014 entspricht. Reicht das für ein schlagkräftiges „Arsenal der Demokratie“?

Trotz dieser Mehrausgaben ist Europa bei grundlegenden militärischen Aufgaben nach wie vor von den Vereinigten Staaten abhängig und hat Schwierigkeiten, den Bedarf der Ukraine an Waffen und Ausrüstung zu decken. In den letzten zwanzig Jahren hat Europa auch auf dem globalen Rüstungsmarkt vor allem gegenüber den USA und China an Boden verloren. Für diese Schwächung gibt es mehrere Gründe: 

Hausgemachte Probleme bei Europas Rüstungsindustrie

Erstens bleiben EU-Investitionen in die Beschaffung trotz der jüngsten Zuwächse im internationalen Vergleich nach wie vor gering. Der Europäische Verteidigungsfonds, den die Europäische Kommission 2017 eingerichtet hat, verfügt über ein Budget von acht Milliarden Euro für den Zeitraum 2021 bis 2027. Nur um das einzuordnen: In den USA sind allein die jährlichen Mittel für Forschung im Rüstungsbereich etwa viermal so hoch.

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Zahlen & Fakten

Zum Zweiten ist es grob irreführend, von einer gemeinsamen europäischen Verteidigungsindustrie zu sprechen; eine solche existiert schlicht nicht. Vor allem die großen EU-Länder hüteten die eigene Produktion lange Zeit eifersüchtig – sowohl aus wirtschaftlichen wie auch aus geopolitischen Gründen. Diese Zersplitterung hat sich seit 2014 noch verstärkt. Steigende Militärbudgets verleiteten die EU-Mitglieder erst recht dazu, im eigenen Land zu investieren, anstatt auf europäische Kooperation zu setzen. Je mehr Geld zur Verfügung stand, desto größer war der Anreiz, die Mittel für lokale Arbeitsplätze einzusetzen, anstatt Ressourcen zu bündeln.

Die Anstrengungen der EU, eine einheitliche Flugabwehr zu schaffen, werden durch mangelnde Koordination behindert.

Drittens schafften es die EU-Staaten nicht, eine innereuropäische Rangordnung der Investitionen aufzubauen. Nach dem Motto „juste retour“ – angemessene Gegenleistung – versucht jedes Land, sich möglichst viel Geld aus dem EU-Budget zu sichern. Das verhindert mögliche Vorteile einer Zusammenarbeit und erhöht insgesamt die Kosten. Als Ursula von der Leyen ihre zweite Amtszeit an der Spitze der Kommission antrat, war sie sich des Problems bewusst und versprach, „eine echte Europäische Verteidigungsunion“ zu schaffen. Die EU müsse mehr tun, um die Rüstungsproduktion des Kontinents zu koordinieren.

Die Rolle der USA 

Doch man kann nicht über Defizite in der europäischen Verteidigungsindustrie sprechen, ohne die Rolle der Vereinigten Staaten als des dominierenden Rüstungsproduzenten zu berücksichtigen. Die USA tun seit jeher alles, um die Überlegenheit ihrer militärischen Produktion zu behaupten. Es lag nie im Interesse der USA, Europa beim Aufbau eigener Kapazitäten zu unterstützen. Unter Präsident Joe Biden begann jedoch ein Umdenken; die USA zeigen sich im Vergleich zu früher offener für eine bessere Einbindung der europäischen Anbieter.

Beim Vilnius-Gipfel der NATO im Jahr 2023 wurde ein Aktionsplan für die Verteidigungsproduktion beschlossen, beim diesjährigen Gipfel in
Washington erneuerten die europäischen Bündnispartner ihren Plan, mehr Waffen und Munition herzustellen. Auch die EU hat im heurigen März festgelegt, dass 50 Prozent des militärischen Beschaffungsbudgets bis 2030 für in Europa erzeugte Produkte ausgegeben werden müssen.

Herausforderungen am Horizont

Der russische Zermürbungskrieg gegen die Ukraine macht allerdings rasche Waffenlieferungen notwendig. Für den Aufbau neuer Kooperationen in der Herstellung fehlt angesichts des enormen Bedarfs die Zeit. Das wird die Dominanz der USA bei Waffenexporten, insbesondere für den kurzfristigen Einsatz, wohl noch verstärken. 

Dennoch gibt es mittel- bis langfristig auch positive Entwicklungen: Anfang dieses Jahres wurde in Anwesenheit der Staats- und Regierungschefs Deutschlands und Dänemarks eine neue Munitionsfabrik eingeweiht – eines von vielen Beispielen für Europas Bemühungen zur Steigerung der Waffenlieferungen an die Ukraine. Das Rheinmetall-AG-Werk in Norddeutschland wird jährlich etwa 200.000 Stück Artilleriemunition sowie Sprengstoff und möglicherweise auch Sprengköpfe herstellen. Das reicht allerdings bei weitem nicht für den ukrainischen Bedarf, der nach Angaben Kyjiws bei 75.000 Artilleriegeschossen pro Monat liegt.

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Zahlen & Fakten

Auf die Frage, wie sich die innereuropäische Produktion ankurbeln ließe, gibt es noch keine klare Antwort. So werden beispielsweise die Anstrengungen der EU, eine einheitliche Flugabwehr zu schaffen, durch mangelhafte Koordination behindert. Frankreich, Deutschland und Spanien entwickeln das „Système de Combat Aérien du Futur“ (SCAF), während Großbritannien, Italien und Japan im Rahmen des Global Combat Air Programme (GCAP) am „Tempest“ arbeiten. Beide Programme verwenden den Begriff „Future Combat Air System“ (FCAS), was zur Verwirrung beiträgt.

Ein kürzlich gegründetes Joint Venture zwischen der deutschen Rheinmetall AG und dem italienischen Hersteller Leonardo könnte dazu beitragen, den europäischen Rüstungssektor zu konsolidieren und einen Markt von über 50 Milliarden Euro zu erschließen. Diese Beispiele zeigen aber auch, wie sehr die westeuropäischen Länder derzeit den Ton angeben. In Zukunft muss mehr getan werden, um die europäische Verteidigungsindustrie wirklich zu vereinheitlichen und die Zersplitterung des Marktes zu reduzieren.

Europe second?

Selbstverständlich wird auch der Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen Auswirkungen auf die europäische Verteidigungsindustrie haben. Sollte sich Donald Trump im November durchsetzen, ist schwer vorstellbar, dass die USA und die EU unter dem Motto „America First“ bei der Rüstungsproduktion zusammenarbeiten. Ebenso unwahrscheinlich ist in diesem Fall, dass die USA den Europäern Unterstützung bieten und ihre eigenen Interessen zurückschrauben.

Sollte sich Donald Trump durchsetzen, wäre schwer vorstellbar, dass die USA und die EU bei der Rüstung zusammenarbeiteten.

Ein US-Präsident Donald Trump würde die politischen Hindernisse für eine transatlantische Zusammenarbeit und mehr europäische Autonomie noch vergrößern. So gibt es im US-Kongress Befürchtungen über mögliche Arbeitsplatzverluste im eigenen Land, wenn die Produktion verlagert wird oder man mehr mit europäischen Partnern zusammenarbeitet. Darüber hinaus erschweren auch die im Rüstungsbereich üblichen Exportkontrollen eine vertiefte Kooperation, da sie den Austausch von Technologien und Komponenten behindern und die Effizienz der Produktion beeinträchtigen.

Unterstützung für die Ukraine 

Die Rolle Europas als Beschaffer und Regulator ist dennoch sehr wichtig. Seit Februar 2022 hat die EU mit der „European Peace Facility“ und durch Beiträge einzelner Mitgliedstaaten 33 Milliarden Euro an Militärhilfe für die Ukraine bereitgestellt. Auch Initiativen wie die „Permanent Structured Cooperation“ (PESCO) und der Europäische Verteidigungsfonds können eine Menge bewirken – vorausgesetzt, sie sind finanziell gut ausgestattet. Bereits bestehende Instrumente der EU könnten genutzt werden, um der Rüstungsindustrie Anreize für Innovationen zu geben und westeuropäische Rüstungsunternehmen zu ermutigen, ihre Lieferketten und die Produktion nach Osteuropa auszuweiten. Dies würde die europäische Zusammenarbeit weiter vertiefen und die Nachfrage nach Rüstungsgütern ankurbeln. 

Andererseits sollte die NATO ihre Rolle bei der Definition von militärischen Standards – beispielsweise zur Frage, welches Kaliber die Armeen verwenden – und ihre Verteidigungspläne mit der EU abstimmen. Auch in der Förderung technologischer Innovationen hat sich die NATO zuletzt bewährt, etwa mit ihrem Programm DIANA, das als Schnittstelle zwischen Forschung und Wirtschaft fungiert.

Jedenfalls müssen die EU-Staaten in Zukunft besser kommunizieren, welche Bedürfnisse sie im Rüstungssektor haben. Die Industrie ist eher bereit, in zusätzliche Produktion und Forschung zu investieren, wenn sie klare Signale über den künftigen Bedarf und allfällige Risiken erhält. 

Der derzeitige Druck auf die Lieferketten zeigt, wie wichtig eine strategische Neuausrichtung in diesem Bereich ist. Die EU sollte die Regeln des Binnenmarktes durchsetzen, um staatlichen Protektionismus im Verteidigungsbereich zu unterbinden. Zugleich kann sie regulatorische Anreize für die Forschungsförderung oder Steuererleichterungen bieten.

Kräfte bündeln

Isoliert betrachtet können selbst große Länder wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien keine umfassende Aufrüstung in allen Bereichen stemmen. Gemeinsam verfügt Europa jedoch über die gesamte Bandbreite an Kompetenzen. Eine vollständige europaweite Abstimmung der Produktion bleibt unrealistisch, aber eine durchdachtere Strategie als bisher ist mit den richtigen Anreizen möglich.

Man kann nur hoffen, dass die derzeitigen Aufrüstungspläne angesichts der akuten Risiken und realen Bedrohungen, denen Europa heute ausgesetzt ist, nicht zu spät kommen.

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Conclusio

Abgehängt. Europas Rüstungsindustrie ist in den letzten zwei Jahrzehnten gegenüber den USA und China international ins Hintertreffen geraten. Investitionen wurden nach dem Ende des Kalten Krieges sträflich vernachlässigt.
Nationalismus. Der EU gelang es nicht, ihre Verteidigung zu koordinieren und eine gemeinsame Rüstungsindustrie schaffen. Die Dominanz der USA in der NATO wurde von Washington auch genutzt, um eigene Produzenten zu fördern.
Potenzial. Die gute Nachricht: Europa verfügt über die gesamte Bandbreite an Rüstungsunternehmen, um eine autonome Verteidigung zu gewährleisten, wenn die Produktion und Beschaffung ausgeweitet würden.

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