Globalisierung – Das Versagen der Politik
Europa hat seit den 1990er Jahren an Einfluss verloren. Ex-Banker Andreas Treichl sieht eine De-Globalisierung entstehen, die Wohlstand und Demokratie in Europa bedroht.
Kann Europa, die EU, 30 Jahre nach dem Maastricht-Vertrag 1993, in der globalen Wirtschaft noch eine politisch wie ökonomisch relevante Rolle spielen? „Die Politik hat die Risiken der Globalisierung nicht genug abgesichert“, sagt der Präsident des Europäischen Forums Alpbach, Andreas Treichl, langjähriger CEO der Erste Group.
Der Podcast
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Europa ist weder politisch noch wirtschaftlich so stark, wie es sein müsste, um Wohlstand und Demokratie zu erhalten; für China oder die USA ist Europa kein attraktiver Wirtschaftspartner mehr, so Treichl: „Vor 30 Jahren war Europa der größte Exporteur, der größte Binnenmarkt und der wohlhabendste Kontinent. Das alles sind wir nicht mehr.“
Es geht nicht um Unabhängigkeit
Da wirtschaftliche Autarkie in einer globalisierten Welt undenkbar ist, muss Europa daran arbeiten, die Risiken notwendiger Abhängigkeiten geopolitisch abzusichern, rät Treichl. „Wir sind wahrscheinlich der sozial ausgeglichenste Kontinent des Planeten. Das müssen wir unbedingt erhalten.“
Wenn wir in einer wirtschaftlich globalen Welt leben wollen, müssen wir uns sehr sicher sein, dass kein Staat Gebietsansprüche stellen kann.
Seit den 1990er Jahren sei die Globalisierung von der Wirtschaft sehr stark vorangetrieben worden, die aus Kostenerwägungen heraus ihre Produktionsstandorte aus Europa weg verlagerte. Dieser Prozess sei nicht ausreichend von der Politik abgesichert worden. Jetzt wird die Verlagerung zu einem politischen Problem, insofern die Versorgung mit Energie oder wichtigen Rohstoffen und Produkten nicht mehr gesichtert ist: „Das ist ganz klar ein Versäumnis der Politik.“
Das Ergebnis sei eine De-Globalisierung, die sich in rapidem Relevanzverlust für Europa ausdrücke. „Wir werden nie ganz unabhängig sein. Daher müssen wir zusehen, dass wir eine multipolare Welt erreichen. Aber: Europa hat nicht einmal eine eigene Verteidigung.“
Über Andreas Treichl
Andreas Treichl ist Mitbegründer und Aufsichtsratsvorsitzender der ERSTE Stiftung, die der Stärkung des europäischen Zusammenhalts und der Demokratie gewidmet ist. Er war über zwei Jahrzehnte CEO der Erste Group. Seit 2020 ist er der Präsident des Europäischen Forums Alpbach.
Für den Pragmaticus hat Treichl als Autor zum Thema Inflation und Schulden geschrieben; als Experte im Podcast prognostizierte er 2021: Diese Inflation bleibt.
Zahlen & Fakten
Europa und die Globalisierung
Globalisierung, verstanden als weltweite, sich permanent verändernde Vernetzung, ist kein Phänomen der Gegenwart. Die Rolle Europas darin war wechselvoll, und die Geschichte der Globalisierung wird zumeist aus der Perspektive Europas erzählt. Auch hier:
- „Europa“, verstanden als Landmasse westlich des heutigen Russland nimmt ab etwa 1500 durch Entdeckungsreisen und schließlich Expansion der Kolonialreiche Spanien und Portugal an der Globalisierung teil. Bereits vor dem Seeweg nach Indien 1648 (die Passage von Vasco da Gama) hatte Europa aber intensive Wirtschaftsbeziehungen innerhalb Eurasiens. In Richtung Westen, auf dem amerikanischen Kontinent, entstehen „neo-europäische Ablegergesellschaften“, wie die die Historiker Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson sagen, denn anders als Richtung Osten gab es auf dem Atlantik keine Konkurrenz aus dem arabischen oder asiatischen Raum.
- Die Bevölkerung in Süd-, Mittel- und Nordamerika hatte der Vereinnahmung nichts entgegenzusetzen. Die Europäer brachten Gewehre, Pferde, die Plantagenwirtschaft mit Sklaven und neue Krankheitserreger. Entscheidend für die Globalisierung in der Neuzeit war auch die Erfindung des Buchdrucks – er vertiefte und beschleunigte sie.
- Die weltweiten (ungleichen) Wirtschaftsbeziehungen initiierten die europäische Industrialisierung ab Mitte des 18. Jahrhunderts in Großbritannien. Es zeigen sich Fernwirkungen des Welthandels: In den in den 1840er und 1850er Jahren löst eine Pflanze der Globalisierung – die Kartoffel – Hungersnöte (wegen der Kartoffelfäule) aus, die die Revolution von 1848 anfachen. Zugleich entsteht in dieser Zeit die Westorientierung der Welt, Großbritannien gibt dabei den Ton an.
- Das gesamte 19. Jahrhundert verstärkt die Schatten der Globalisierung: Neue Technologien wie der Telegraph und das Dampfschiff und neue Infrastrukturen wie der Suezkanal oder das Eisenbahnnetz sowie Innovationen wie der Freihandel wirken global unsichtbar auf die Lebensbedingungen von Menschen ein. So wären die unter anderem vom Soziologen Mike Davis als Genozide beschriebenen Hungerkatastrophen in Indien Ende des 19. Jahrhunderts ohne die Kombination von Kolonialismus, Agrarindustrialisierung, globalen Getreidebörsen und Eisenbahnnetz nicht entstanden.
- Vor allem Großbritannien erzwang die Teilnahme außereuropäischer Länder am Freihandel notfalls mit Gewalt.
- Der Welthandel, der sich im Dreieck Neuseeland, USA und Europa abspielt, lässt eine globale Arbeitsteilung entstehen, aus Europa beginnt ein Massenexodus von Arbeitsmigranten; die Marktkonkurrenz wächst: Es sind Arbeitskosten, Technologien und globale Börsen, die darüber entscheiden, welche Industrien sich lohnen; im Spätsommer und Herbst 1873 brechen ausgehend vom Crash der Wiener Börse am 9. Mai 1873 die Börsen weltweit zusammen; die Märkte für Rohstoffe, von denen die westeuropäische und nordamerikanische Wirtschaft abhängig sind und die zum Gutteil aus den Kolonien kommen, wie Baumwolle, Getreide, Kaffee, Zucker, Tropenhölzer, Kautschuk oder Latex, kommen ins Trudeln.
- Osterhammel und Petersson widersprechen der These von der De-Globalisierung in der Zeit 1880 bis 1945, obwohl die meisten Staaten Europas ab 1878 zu einer protektionistischen Zollpolitik zurückkehrten: Zum einen waren Weltwirtschaft und Welthandel, vor allem die globale Arbeitsteilung, unumkehrbar und durchdriangen den Alltag der Menschen – bis hin zur einheitlich gemessenen Uhrzeit. Auch war die Rohstoffabhängigkeit Europas verfestigt. Um 1900 brachte die Holzkrise in Europa das Thema Klima, Umwelt und Ressourcen erstmals auf’s Tapet – die Globalisierung hatte offensichtlich einen Preis. Und schließlich sind die Kapitalströme international vernetzt – der Ausbau der weltweiten Infrastruktur wurde mit europäischem Kapital finanziert, ein gutes Geschäft, da die Zinsen nicht zuletzt das Handelsdefizit Europas ausglichen, der Goldstandard schützte vor Risiken von Kursschwankungen und Inflation.
- Als die Titanic 1912 sinkt, ist außer Äthiopien und Liberia der ganze afrikanische Kontinent eine europäische Kolonie. Die weltweite Vernetzung wird im Ersten Weltkrieg kriegsentscheidend für die Alliierten, die über Soldaten (aus den afrikanischen Kolonien) und Rohstoffe wie etwa Kautschuk (Autoreifen) verfügten.
- Die multilaterale Welt vor dem Krieg ließ sich nach 1918 nicht mehr wiederherstellen: Hohe Kriegsschulden gegenüber den USA, Zölle, unausgelastete Produktionskapazitäten und ein Einbruch der Binnennachfrage charakterisieren diese Phase. Die Globalisierung bleibt, aber Europa spielt nicht mehr die zentrale Rolle. Nach dem Börsencrash 1929 schrumpft aufgrund der bestehenden Vernetzung und Abhängigkeit der Welthandel um zwei Drittel. Maßnahmen zur Eindämmung der Wirtschaftskrise orientieren sich an den jeweiligen nationalen Binnenmärkten.
- Nach 1945 entstehen die Strukturen, die die heutige Globalisierung prägen: die Aufteilung der Welt in zunächst zwei Machtblöcke, Massenproduktion und -konsum. Dekolonialisierung und Kalter Krieg bestimmen die Wirtschaft. Die umfassenden Aufbauhilfen der USA verhalfen der europäischen Wirtschaft zu schnellem Wachstum.
- 1952 wurde die Kohle- und Stahlgemeinschaft (Montanunion) gegründet, 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Der florierende Welthandel bringt schließlich das Bretton Woods-System (feste Wechselkurse zum Dollar; freier Waren- und Katpitalverkehr; nationalstaatliche Wirtschaftspolitik) zum Scheitern; die Ölkrise bremst das Wachstum und ist der Auftakt einer anhaltenden Wirtschaftskrise.
- Das Offshoring, die Verlagerung von Produktionsstätten aus Europa, setzt bereits gegen Ende der 1970er Jahre ein. China, das bis eine Politik der Autarkie verfolgt hatte, öffnet sich mit der sogenannten Reform- und Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping ab 1978 gegenüber dem Westen. Die Unternehmen Europas begannen, in China produzieren zu lassen – für Europa leitete dies den Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft oder Wissensgesellschaft ein.
- Wieder ist es Großbritannien, von dem ein Globalisierungsschub für Europa ausgeht: Die Liberalisierung der Märkte, der Abbau von Regulationen, Steuersenkungen für Unternehmen und vor allem die Privatisierung und ab 1986 die Deregulierung der Finanzmärkte begünstigen die Entstehung von transnationalen Unternehmen, die sich nationalstaatlicher Regulierung entziehen.
- Doch es sind ab dann nicht nur Unternehmen für Autos, Textilien, Spielzeug, Handys, Mikrochips & Co., die abwandern, sondern auch strategisch bedeutsame Industrien wie die Schiffsindustrie: Großwerften zum Beispiel, die für den internationalen Handel entscheidend sind, gibt es nur noch in China und in Südkorea. China setzte schon in den 1980er Jahren ganz gezielt auf den Ausbau von Häfen und den Aufbau einer Werftindustrie, so der Historiker Philipp Ther, weil damit auch eine bedeutende Zulieferindustrie verbunden ist. Eine EU-Industriepolitik fehlt in diesem Bereich, kritisiert der Historiker, ein Manko, das nach Hannes Androsch, Finanzminister der Kreisky-Jahre in Österreich, alle Industrien betrifft und in eine Deindustrialisierung Europas münden kann.