Zeit für ein wehrhaftes Europa

Europa hätte den Einmarsch Russlands in die Ukraine vielleicht verhindern können. Doch es ist nicht zu spät für die gemeinsame Verteidigung Europas.

Illustration von zwei Händen in einer Abwehrhaltung vor dem Sternenkreis der EU. Das Bild illustriert einen Beitrag über Europa und Verteidigung.
Wird es Europa schaffen, sich ohne Hilfe der USA verteidigen zu können? © Andreas Leitner

Rostow ist nicht weit entfernt von der ukrainischen Grenze. Bei Westwind kann man in der russischen Stadt die Bombeneinschläge von Mariupol bis Luhansk hören. In Moskau erfährt man über die Medien nur, wie „die mutige, ehrenhafte und mächtige Armee Russlands gemeinsam mit den kampfstarken Wagner-Söldnern in einem heroischen Kampf versucht, das naziverseuchte, niederträchtige ukrainische Volk auszulöschen“. In Rostow aber kann man den Kampf hören und auch ab und zu riechen; man spürt den Krieg und hofft auf eine baldige Rückkehr der Soldaten nach einem glorreich errungenen Sieg.

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Es sind keine 70 Kilometer Luftlinie ins Kriegsgebiet, in dem täglich ukrainische und russische junge Männer ihr Leben lassen, um ein bis zwei Meter Gebietsgewinn zu erreichen. Von Mariupol bis Luhansk ist fast alles zerstört, vermint, verdreckt und kaputt. Niemand kann sich dort auch nur hundert Meter bewegen, ohne sein Leben zu gefährden. Nicht nur Soldaten, sondern auch tausende Kinder, Frauen, Jugendliche und ältere Menschen müssen sterben, um einem Regime wirtschaftlicher Versager einen strategischen Erfolg zu ermöglichen.

Keine allzu guten Aussichten

Am 23. Juni, auf den Tag genau 16 Monate nach dem Einfall Russlands in der Ukraine, ziehen ein paar tausend Wagner-Söldner aus dem Kriegsgebiet ab, erreichen in knapp drei Stunden Rostow, schalten das russische Militärkommando aus und besetzen die Stadt mit etwas über einer Million Einwohnern. Sie wollen weiter nach Moskau.

Putin lässt die Stadt verbarrikadieren und versetzt das Militär in Alarmbereitschaft. 1.000 Kilometer ist Moskau von Rostow entfernt. Nach 800 Kilometern drehen die Wagner-Söldner aber plötzlich um. Hier, in Lipezk, sind sie für Putin feindliche Terroristen. In Woronesch, am Weg zurück, bietet man ihnen dann aber die Aufnahme in die russische Armee an, ihr Chef Prigoschin darf nach Belarus ausreisen. 

Ich schreibe diese Zeilen im August und habe keine Ahnung, wo dieser Krieg steht, wenn sie im September erscheinen. Wie lange wird sich Putin halten können, was passiert mit Prigoschin? Welche Rolle werden in der Zukunft die russischen Befehlshaber, Sergei Schoigu, Waleri Gerasimow und wie sie alle heißen, spielen?

Alles ist offen: Russland kann zerfallen oder auch nicht, Putins Nachfolger kann noch ärger sein als er oder auch nicht. Alles kann noch viel schlimmer kommen, als es ist, oder auch nicht. Der Einsatz von Atomwaffen ist möglich, alles ist möglich. Wir wissen nicht, wie dieser Krieg ausgeht, wo und wann er vorbei ist. Wir haben keine Ahnung, welchen Weg Russland danach einschlagen wird. Wenig deutete in den letzten Jahren darauf hin, dass er aus der Sicht Europas ein guter sein wird. 

Russland wird Europas Nachbar bleiben

Seit diesen zwei absurden Tagen des Wagner-Putsches wird eines allerdings immer offensichtlicher: Putin hat es nicht im Ansatz geschafft, aus Russland ein wirtschaftlich erfolgreiches, modernes Land zu machen, das halt ein bisschen autokratischer ist als andere, in dem die Menschen aber gerne leben und sich wohlfühlen. Ein Land, in dem es einen Prigoschin geben kann, der vom Staat finanziert wird, denselben angreift und dann damit davonkommt, mag vieles sein, aber sicher nicht gesund.

Auch in zehn, in fünfzig und in hundert Jahren wird Europa eine politische Grenze zu Russland haben.

Die kriminelle Energie in Russland ist viel zu hoch. Gemessen am immensen Reichtum seiner Bodenschätze und seines Humankapitals ist Russlands Gesamtzustand eine Katastrophe für das Land selbst – und leider auch für seine Nachbarn, weil er ihre Entwicklung bremst. (Wo stehen Polen und die Tschechische Republik heute – und wo stünden sie, wenn es 1989 und 2004 nicht gegeben hätte?)

Bei all der Unsicherheit, in der wir derzeit leben, haben wir eine Gewissheit: Auch in zehn, in fünfzig und in hundert Jahren wird Europa eine politische Grenze zu Russland haben. Wenn Europa nicht in der Lage sein wird, diese Grenze eigenständig, ohne Hilfe der USA zu sichern, dann wird es auf dieser Welt langfristig keine Rolle mehr spielen. Nichts gegen die NATO, aber alles gegen eine Verteidigungsstrategie, mit der sich Europa auf Gedeih und Verderb einem Partner ausliefert, der selbst nicht Europa ist. Und alles für eine europäische Verteidigungsallianz, die innereuropäische Konflikte eigenständig lösen kann, ohne dass wir alle vier Jahre nervös nach Washington schauen, ob wohl ein Präsident kommt, für den die NATO noch wichtig ist.

Klares Bekenntnis notwendig

Es wird nicht leicht sein, Polen, das Baltikum, Finnland und Schweden davon zu überzeugen, dass Europa sich in seiner Verteidigungskapazität nicht ausschließlich auf die NATO verlassen darf, sondern seine Grenzen auch eigenständig schützen können sollte. Wenn nicht zumindest Frankreich, Deutschland, Spanien, die Niederlande und Italien ein klares Bekenntnis dazu abgeben, wird es nicht funktionieren. Und es wird den Aufbau einer europäischen Verteidigungsindustrie benötigen, zu der die Partner in Zentral- und Osteuropa sowie hoffentlich auch das Vereinigte Königreich beitragen, um diesen Ansatz zu untermauern.

Aber wenn das passiert, dann könnte Europa vielleicht schon hundert Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges aus einer bipolaren Welt wieder eine multipolare machen, in der dann hoffentlich zumindest zwei Blöcke der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verbunden sind. Es wäre ein großer Gewinn für die ganze Welt.

Nichts aus Jugoslawien-Kriegen gelernt

Anfang der 1990er, nicht einmal zwanzig Jahre nach der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in der man sich auf die Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa geeinigt hatte, begannen die Kriege im zerfallenden Jugoslawien. Hätten wir damals auf unsere Unfähigkeit, einen innereuropäischen Konflikt selbst zu lösen, reagiert und eine starke europäische Verteidigungsallianz aufgebaut, hätten wir vergangenes Jahr den Einfall Russlands in die Ukraine vielleicht verhindern können.

25. Juni 1991: Im kroatischen Pakrac beobachtet eine Frau einen Truppenpanzer der jugoslawischen Armee, die den Ort angreift.
25. Juni 1991: Im kroatischen Pakrac beobachtet eine Frau einen Truppenpanzer der jugoslawischen Armee, die den Ort angreift. © Getty Images

Jetzt haben wir wieder eine Chance, aus dem wachsenden Bewusstsein unserer Verletzlichkeit heraus das zu tun, was die geopolitische Situation von uns erfordert: Europa könnte seine eigenständige Verteidigungsunfähigkeit bis 2045 beseitigen. Viele der Ressourcen, die dafür benötigt werden, haben wir. Die traditionellen Industrien dafür sind vorhanden, die „intellectual property“-Industrien können wir aufbauen, das Talent dafür haben wir, aber leider nicht das Kapital. 

Wir haben die Mittel, wir brauchen den Mut

Und nein, wir müssen die medizinische Versorgung deswegen nicht runterfahren, wir müssen nicht bei Bildung und Infrastruktur sparen, weil wir aufrüsten und kriegslüstern werden. Wir geben schon jetzt fast dreimal so viel für Verteidigung aus wie Russland, aber wir machen es nicht effizient genug. Und nein, der Aufbau einer Verteidigungsallianz hat auch nichts mit Kriegstreiberei zu tun. Sie ist schlicht und einfach eine Grundbedingung, um sicherzustellen, dass die Zeiten, in denen die Grenzen europäischer Nationalstaaten durch Aggression verändert werden können, ein für alle Mal vorbei sind.

Wenn wir es schaffen, darüber Einigkeit zu erzielen, dann werden wir nicht nur den wesentlichen Schritt gehen, um mit Russland langfristig in friedlicher Nachbarschaft zu leben. Wir würden Europa auch dazu zwingen, die Themen, die wir in den vergangenen Jahrzehnten vernachlässigt haben, endlich anzugehen. Eine Verteidigungsallianz braucht eine Daten-, Netzwerk- und Kommunikationsunion. Diese wiederum benötigen eine Banken- und Kapitalmarktunion.

Geopolitisch unabhängig

Und die Vertiefung der Europäischen Union ist nicht nur eine wesentliche Voraussetzung, um geopolitisch unabhängiger zu werden, sondern auch wirtschaftlich. Wir sehen heute fast täglich, wie China und die USA strategisch wichtige Zukunftsfelder besetzen, bei denen Europa kläglich hinterherhinkt. Das gilt für die künstliche Intelligenz genauso wie für die Produktion von Batterien und Computerchips und zieht sich hin zur Sicherung der Rohstoffe, die für die Energiewende nötig sind. In all diesen Bereichen hat und hatte Europa gute Voraussetzungen, aber nicht den Mut und die regulatorischen und finanziellen Mittel, selbst etwas Großes damit aufzubauen. 

Wenn es uns gelingt, das zu ändern, wird Europa wieder auf Augenhöhe mit den USA und China verhandeln können und Wohlstand schaffen. Und irgendwann einmal ist Russland hoffentlich wieder als friedlicher Partner dabei.

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