Darstellung von geöffneten Händen in deren Handflächen Windräder, Medikamente, Autos, Getreide-Ähren, Mikrochips, Tomaten und Fabriken liegen wie Hostien. Der Hntergrund ist blau udn die Hände sind von dem Sternenkranz der EU umgeben. Das Bild ist Teil eines Dossiers über die Frage Kann Europa sich selbst versorgen? In dem Dossier geht es um die Abhängigkeit von anderen Wirtschaften um die Versorgung in Europa sicherzustellen.

Kann sich Europa selbst versorgen?

Halbleiter, Antibiotika, Batterien, Erdgas: Erst störte Corona die Versorgung, dann zeigte Wladimir Putin den Europäern, dass Abhängigkeit erpressbar macht. Wäre es besser, das Projekt Globalisierung zu beenden und die Produktion nach Europa zurückzuholen? Welchen Preis hätte das?

Wir haben führende Wirtschaftswissenschaftler nach ihrer Einschätzung gefragt: Lisandra Flach von der LMU München hat für uns das Ausmaß der Abhängigkeit vermessen; Harald Oberhofer von der WU Wien spielt durch, was „bei uns“ produzieren eigentlich heißt (Spoiler: es geht nicht); Gabriel Felbermayr, Leiter des Wirtschaftsforschungsinstituts Wifo in Wien zeigt, dass Abhängigkeit unvermeidlich und kein Nachteil ist – vorausgesetzt, sie ist wechselseitig.

Reports

Der Politikwissenschaftler Ralph Schöllhammer sieht in den gestörten Lieferketten einen Beleg für die Innovationsfeindlichkeit und zu viel Regulation in der EU. Bleibt es so, wird die Antwort auf die Frage, ob Europa sich selbst versorgen kann, immer ein Nein sein. Muss Europa sich selbst versorgen?

Der ehemalige CEO der Erste Group und nunmehrige Präsident des Europäischen Forums Alpbach sowie der Aufsichtsratsvorsitzende der Erste Stiftung, Andreas Treichl sieht vor allem ein zu Wenig an Sicherheit. Es brauche eine gemeinsame EU-Außenpolitik und eine gemeinsame EU-Verteidigungsstrategie.

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Zahlen & Fakten

Eine große Schleuse auf einer Wasserstraße mit grünen Hügeln im Hintergrund. Auf der Schleuse stehen Annalena Baerbock, die deutsche Außenministerin und Ilya Espino, die Managerin des Panamakanals. Der Himmel ist bedeckt.
Panama am 9. Juni 2023: Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (links) lässt sich von der Managerin des Panama Kanals, Ilya Espino (rechts), die historische Schleuse Miraflores erläutern. Bei dem deutschen Staatsbesuch in Panama ging es um globalen Handel und den Klimawandel. © Getty Images

Europa und die Globalisierung

Globalisierung, verstanden als weltweite, sich permanent verändernde Vernetzung, ist kein Phänomen der Gegenwart. Die Rolle Europas darin war wechselvoll, und die Geschichte der Globalisierung wird zumeist aus der Perspektive Europas erzählt. Auch hier:

  • „Europa“, dieLandmasse westlich des heutigen Russland nimmt ab etwa 1500 durch Entdeckungsreisen und schließlich Expansion der Kolonialreiche Spanien und Portugal an der Globalisierung teil. Bereits vor dem Seeweg nach Indien 1648 (die Passage von Vasco da Gama) hatte Europa aber intensive Wirtschaftsbeziehungen innerhalb Eurasiens. In Richtung Westen, auf dem amerikanischen Kontinent, entstehen „neo-europäische Ablegergesellschaften“, wie die die Historiker Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson sagen, denn anders als Richtung Osten gab es auf dem Atlantik keine Konkurrenz aus dem arabischen oder asiatischen Raum.
  • Die Bevölkerung in Süd-, Mittel- und Nordamerika hatte der Vereinnahmung nichts entgegenzusetzen. Die Europäer brachten Gewehre, Pferde, die Plantagenwirtschaft mit Sklaven und neue Krankheitserreger. Entscheidend für die Globalisierung in der Neuzeit war auch die Erfindung des Buchdrucks – er vertiefte und beschleunigte sie.
Ein Mann mit Tropenhut, weißem Hemd und Reitstiefeln steht gestikulierend vor zweiReihen von Männern in Unterhemden und kurzen Hosen, die Eimer mit einer weißen Flüssigkeit, Kautschuk) vor sich stehen haben. Zwei Männer inspizieren die Eimer. Das Bild ist Teil eines zusammenfassenden Dossiers mit dem Titel Kann Europa sich selbst versorgen? Es zeigt die Welt des 19. Jahrhunderts. als Eurpa sich auch nicht selbst versorgen konnte, dies aber wegen der Rohstoffe aus den Kolonien nicht auffiel. Europa hatte nur den Eindruck, sich selbst versorgen zu können.
Ein französischer Kolonialbeamter begutachtet die Kautschuk-Ausbeute. Zentralafrikanische Republik (damals Ubangi-Shari) um 1900. Frankreich vergab Konzessionen an französische Unternehmen für die Ausbeutung der Rohstoffe nach dem Vorbild Belgiens. © Getty Images
  • Die weltweiten (ungleichen) Wirtschaftsbeziehungen initiierten die europäische Industrialisierung ab Mitte des 18. Jahrhunderts in Großbritannien. Es zeigen sich Fernwirkungen des Welthandels: In den in den 1840er und 1850er Jahren löst eine Pflanze der Globalisierung – die Kartoffel – Hungersnöte (wegen der Kartoffelfäule) aus, die die Revolution von 1848 anfachen. Zugleich entsteht in dieser Zeit die Westorientierung der Welt, Großbritannien gibt dabei den Ton an.
  • Das gesamte 19. Jahrhundert verstärkt die Schatten der Globalisierung: Neue Technologien wie der Telegraph und das Dampfschiff und neue Infrastrukturen wie der Suezkanal oder das Eisenbahnnetz sowie Innovationen wie der Freihandel wirken global unsichtbar auf die Lebensbedingungen von Menschen ein. So wären die unter anderem vom Soziologen Mike Davis als Genozide beschriebenen Hungerkatastrophen in Indien Ende des 19. Jahrhunderts ohne die Kombination von Kolonialismus, Agrarindustrialisierung, globalen Getreidebörsen und Eisenbahnnetz nicht entstanden.
  • Vor allem Großbritannien erzwang die Teilnahme außereuropäischer Länder am Freihandel notfalls mit Gewalt.
Eine Gruppe Männer mit weißen Mützen mit rotem Bommel geht eine Straße entlang. Im Hintergrund betrachtet ein Mann die Gruppe scheinbar irritiert.
Franzosen in Dschibuti 1976: Ein Jahr später wird der Staat am Horn von Afrika endgültig unabhängig. © Getty Images
  • Der Welthandel, der sich im Dreieck Neuseeland, USA und Europa abspielt, lässt eine globale Arbeitsteilung entstehen, aus Europa beginnt ein Massenexodus von Arbeitsmigranten; die Marktkonkurrenz wächst: Es sind Arbeitskosten, Technologien und globale Börsen, die darüber entscheiden, welche Industrien sich lohnen; im Spätsommer und Herbst 1873 brechen ausgehend vom Crash der Wiener Börse am 9. Mai 1873 die Börsen weltweit zusammen; die Märkte für Rohstoffe, von denen die westeuropäische und nordamerikanische Wirtschaft abhängig sind und die zum Gutteil aus den Kolonien kommen, wie Baumwolle, Getreide, Kaffee, Zucker, Tropenhölzer, Kautschuk oder Latex, kommen ins Trudeln.
  • Osterhammel und Petersson widersprechen der These von der De-Globalisierung in der Zeit 1880 bis 1945, obwohl die meisten Staaten Europas ab 1878 zu einer protektionistischen Zollpolitik zurückkehrten: Zum einen waren Weltwirtschaft und Welthandel, vor allem die globale Arbeitsteilung, unumkehrbar und durchdrangen den Alltag der Menschen – bis hin zur einheitlich gemessenen Uhrzeit. Auch war die Rohstoffabhängigkeit Europas verfestigt. Um 1900 brachte die Holzkrise in Europa das Thema Klima, Umwelt und Ressourcen erstmals auf's Tapet – die Globalisierung hatte offensichtlich einen Preis. Und schließlich sind die Kapitalströme international vernetzt – der Ausbau der weltweiten Infrastruktur wurde mit europäischem Kapital finanziert, ein gutes Geschäft, da die Zinsen nicht zuletzt das Handelsdefizit Europas ausglichen, der Goldstandard schützte vor Risiken von Kursschwankungen und Inflation.
  • Als die Titanic 1912 sinkt, ist außer Äthiopien und Liberia der ganze afrikanische Kontinent eine europäische Kolonie. Die weltweite Vernetzung wird im Ersten Weltkrieg kriegsentscheidend für die Alliierten, die über Soldaten (aus den afrikanischen Kolonien) und Rohstoffe wie etwa Kautschuk (Autoreifen) verfügten.
er sowjetische Präsident Michail Gorbatschow und die britische Premierministerin Margaret Thatcher sitzen nebeneinander auf einem Sofa mit einem roten Brokat. Michael Gorbatschow blickt auf seine Uhr während Margaret Thatcher mit Personen außerhalb des Bildes spricht. Das Bild ist Teil eines zusammenfassenden Dossiers mit dem Titel Kann Europa sich selbst versorgen? und nimmt Bezug auf die Zeit um 1990. als die Weichen für die aktuelle Globalisierung gestellt wurden.
Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow und die britische Premierministerin Margaret Thatcher während eines Sicherheitsgipfels in Paris am 21. November 1990. © Getty Images
  • Die multilaterale Welt vor dem Krieg ließ sich nach 1918 nicht mehr wiederherstellen: Hohe Kriegsschulden gegenüber den USA, Zölle, nicht ausgelastete Produktionskapazitäten und ein Einbruch der Binnennachfrage charakterisieren diese Phase. Die Globalisierung bleibt, aber Europa spielt nicht mehr die zentrale Rolle. Nach dem Börsencrash 1929 schrumpft aufgrund der bestehenden Vernetzung und Abhängigkeit der Welthandel um zwei Drittel. Maßnahmen zur Eindämmung der Wirtschaftskrise orientieren sich an den jeweiligen nationalen Binnenmärkten.
  • Nach 1945 entstehen die Strukturen, die die heutige Globalisierung prägen: die Aufteilung der Welt in zunächst zwei Machtblöcke, Massenproduktion und -konsum. Dekolonialisierung und Kalter Krieg bestimmen die Wirtschaft. Die umfassenden Aufbauhilfen der USA verhalfen der europäischen Wirtschaft zu schnellem Wachstum.
  • 1952 wurde die Kohle- und Stahlgemeinschaft (Montanunion) gegründet, 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Der florierende Welthandel bringt schließlich das Bretton Woods-System (feste Wechselkurse zum Dollar; freier Waren- und Katpitalverkehr; nationalstaatliche Wirtschaftspolitik) zum Scheitern; die Ölkrise bremst das Wachstum und ist der Auftakt einer anhaltenden Wirtschaftskrise.
  • Das Offshoring, die Verlagerung von Produktionsstätten aus Europa, setzt bereits gegen Ende der 1970er Jahre ein. China, das bis eine Politik der Autarkie verfolgt hatte, öffnet sich mit der sogenannten Reform- und Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping ab 1978 gegenüber dem Westen. Die Unternehmen Europas begannen, in China produzieren zu lassen – für Europa leitete dies den Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft oder Wissensgesellschaft ein.
  • Wieder ist es Großbritannien, von dem ein Globalisierungsschub für Europa ausgeht: Die Liberalisierung der Märkte, der Abbau von Regulationen, Steuersenkungen für Unternehmen und vor allem die Privatisierung und ab 1986 die Deregulierung der Finanzmärkte begünstigen die Entstehung von transnationalen Unternehmen, die sich nationalstaatlicher Regulierung entziehen.
Männer verlassen ein Fabriksgelände auf dessen Tor der Schriftzug Uljanik zu lesen ist. Das Bild ist Teil eines zusammenfassenden Dossiers mit dem Titel Kann Europa sich selbst versorgen?
Die Uljanik-Werft in Pula, Koratien, 2019: Kroatien musste die staatlichen Anteile an der Werft vor dem EU-Beitritt 2013 verkaufen und konnte sie aus Wettbewerbsgründen nicht subventionieren, als sie ins Straucheln geriet. Die Werft stand 2022 vor einer Übernahme durch China. © Getty Images
  • Doch es sind ab dann nicht nur Unternehmen für Autos, Textilien, Spielzeug, Handys, Mikrochips & Co., die abwandern, sondern auch strategisch bedeutsame Industrien wie die Schiffsindustrie: Großwerften zum Beispiel, die für den internationalen Handel entscheidend sind, gibt es nur noch in China und in Südkorea. China setzte schon in den 1980er Jahren ganz gezielt auf den Ausbau von Häfen und den Aufbau einer Werftindustrie, so der Historiker Philipp Ther, weil damit auch eine bedeutende Zulieferindustrie verbunden ist. Eine EU-Industriepolitik fehlt in diesem Bereich, kritisiert der Historiker, ein Manko, das nach Hannes Androsch, Finanzminister der Kreisky-Jahre in Österreich, alle Industrien betrifft und in eine Deindustrialisierung Europas münden kann.

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