Europa im globalen Machtkampf
Während Europa auf den Krieg in der Ukraine blickt, versucht China die Weltordnung zu ändern. Um die geopolitischen Herausforderungen zu bewältigen, ist Staatskunst gefragt.
Die Spannungen zwischen den USA und China werden nicht weniger: das Weiße Haus kündigte jüngst an, amerikanische Investitionen in einigen Bereichen des chinesischen Hightech-Sektors, darunter künstlicher Intelligenz, zu verbieten. Peking reagierte erwartungsgemäß mit Empörung.
Die konfrontative Haltung der beiden Supermächte erstreckt sich auch auf direkte Begegnungen von Spitzenpolitikern: Am ersten Juniwochenende fand eine Sitzung des wichtigsten Sicherheitsgipfels in Asien, des Shangri-La-Dialogs, statt. Der chinesische Verteidigungsminister Li Shangfu und der US-amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin trafen sich dort zu Gesprächen, die neben den üblichen Schuldzuweisungen, von Warnungen eines neuen Kalten Krieges geprägt waren. Leider deuten bereits jetzt alle Anzeichen darauf hin, dass wir uns in einem Kalten Krieg mit hohem Eskalationspotenzial befinden.
Auf dem Rücken der Ukrainer
In Europa hat sich zwischen Russland und der Ukraine der schlimmste Aderlass seit 1945 ereignet. Eine Beendigung der Feindseligkeiten ist nicht absehbar und keine der beiden Seiten scheint zu wissen, wie die Nachkriegsordnung aussehen soll. Der Westen versucht in erster Linie, Russland so stark zu schwächen, dass es nie wieder eine ähnliche Aggression wagen wird. Dies dürfte jedoch den Krieg zum großen Nachteil des ukrainischen Volkes verlängern.
Zum Stand des Krieges
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schlafwandelten die europäischen Mächte, die in den vorangegangenen Jahrhunderten die Weltpolitik und den Welthandel geprägt hatten, in den Ersten Weltkrieg. Dieser Krieg beendete die europäische Vorherrschaft und führte knapp 20 Jahre später zum Zweiten Weltkrieg.
Befördert durch das demütigende Diktat des vae victis („Wehe den Besiegten“), das die Sieger den Verlierern des Ersten Weltkrieges Deutschland, Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich, auferlegten. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war geprägt von einem beispiellosen Verlust an Menschenleben, materieller Zerstörung und menschlichem Leid sowie dem Aufkommen zweier totalitärer Ideologien: dem Kommunismus und dem Nationalsozialismus.
Das Vier-Mächte-Spiel ist vorbei
Können wir noch einmal in einen ausgewachsenen Krieg hineinschlittern? Man hofft inständig, dass dies nicht der Fall sein wird. Aber die Spannungen nehmen zu und wir scheinen an kluger sowie weitsichtiger Staatskunst zu leiden. Die gleiche Schwäche hat die europäischen Mächte in den Ersten Weltkrieg geführt. Diesmal ist der Auslöser jedoch global.
Chinas dreckige Expansion
Der heutige Hauptkonflikt besteht zwischen China und den USA, nicht zwischen Russland und Europa. China fühlt sich von den USA und ihren Verbündeten eingeengt. Das Land ist frustriert, weil es seine traditionellen Hegemonialansprüche nicht durchsetzen kann und seine Marinezugänge zum Pazifischen Ozean beschnitten werden. Darüber hinaus ist die faktische Unabhängigkeit Taiwans dem Reich der Mitte ein Dorn im Auge, eine Verletzung seines Nationalstolzes.
Aber Peking geht noch weiter. Sein großes Infrastrukturbauprogramm, die Neue Seidenstraße, zielt nicht nur darauf ab, den Handel auf dem eurasischen Kontinent und im Gebiet des Indischen Ozeans zu fördern, sondern auch Chinas politische, wirtschaftliche und militärische Interessen in diesen Teilen der Welt, einschließlich Afrika, zu unterstützen. Mit dem Ausbau der Infrastruktur und dem Konzept der „Kreislaufwirtschaft“ zur Steigerung der Effizienz im eigenen Land bereitet sich China nach Ansicht von Experten auf eine Kriegswirtschaft vor.
Peking baut Einfluss aus
Peking fordert die Führungsposition Washingtons in internationalen Organisationen heraus oder schafft, Parallelstrukturen in Politik und Institutionen. Die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) ist eine neue Version der Weltbank, während die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) und die BRICS (die regionalen Wirtschaftsmächte Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) Peking große Plattformen für politischen Einfluss bieten.
So sehr wir uns auf die Situation in der Ukraine konzentrieren, laufen wir Gefahr, diese globale Herausforderung aus den Augen zu verlieren.
Neben den bereits etablierten Krisenherden im Süd- und Ostchinesischen Meer haben der chinesische Präsident Xi Jinping und seine Administration in jüngster Zeit zwei neue Fronten für potenzielle Konfrontationen eröffnet: die Arktis und den Weltraum (wo die Positionen der USA herausgefordert werden).
So sehr wir uns auf die Situation in der Ukraine konzentrieren, laufen wir Gefahr, diese globale Herausforderung aus den Augen zu verlieren.
Aus großer Kraft folgt große Verantwortung
Russland in der Ukraine so stark und so lange wie möglich zu schwächen, ist gefährlich kurzsichtig und mit ziemlicher Sicherheit kontraproduktiv. Diese Lehre hat uns schon die Geschichte gezeigt. Tragischerweise liegt das Lernen nicht in der DNA der heutigen Politik.
Wie der Versuch Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg in die Knie zu zwingen, wird eine Auszehrung Russlands keinen Frieden bringen, sondern Rache. Der einzig richtige Ansatz ist es, Europa aus eigener Kraft zu stärken.
Nur das Schreckgespenst einer militärischen Niederlage kann Russland an den Verhandlungstisch bringen.
Im Fall der Ukraine besteht der Weg zur Abwendung einer geopolitischen Tragödie darin, Kiew zu einem Sieg auf dem Schlachtfeld zu verhelfen. Das Schreckgespenst einer militärischen Niederlage, und nur das, kann Russland früh genug an den Verhandlungstisch bringen. In der jetzigen Situation, in der der Westen seine Lieferungen effektiver militärischer Ausrüstung zögerlich erhöht und keine Strategie verfolgt, könnte die Zeit für Russland günstig sein.
Damit die Kämpfe wirklich beendet werden können, ist ein gerechter Frieden erforderlich. Dazu muss eine umfassende europäische Sicherheitsarchitektur geschaffen werden, die auch Georgien und die Ukraine mit einschließt. Es muss auch eine Strategie für die notwendige künftige Zusammenarbeit mit Russland geben. Und die Grundlage für eine solche Architektur kann nur eine glaubwürdige europäische militärische Abschreckung sein.
Höchste Zeit für eine EU-Armee?
Alternativ dazu wird die derzeitige Konzentration auf die Demütigung Russlands zwei nachteilige Folgen haben. Das riesige Land mit all seinen Ressourcen wird noch abhängiger von China werden, was Pekings globale Position stärkt. Außerdem werden dadurch noch stärkere antiwestliche Stimmungen genährt.
Globaler Süden geht eigenen Weg
Die wirklich neue und wichtigste Herausforderung ist in vollem Gange. Sie widersetzt sich Europas bisherigen politischen und wirtschaftlichen Konzepten und untergräbt Washingtons Anspruch auf globale Führung. Der zunehmend selbstbewusste Globale Süden lehnt das westliche Narrativ von Demokratie gegen Autoritarismus ab und geht in der geteilten Welt seinen eigenen Weg.
Am ersten Jahrestag des Krieges erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskij, die Ukraine habe „die Welt geeint“. Er hätte sich nicht mehr irren können. Das Ziel, der Ukraine zu helfen, hat die NATO gestärkt und die transatlantische Partnerschaft gefestigt, aber global gesehen hat es leider nicht funktioniert. Während sich die Strategen im Westen immer noch bemühen, den Anschein zu erwecken, eine auf Regeln basierende, von den USA gesteuerte und geschützte Weltordnung zu verteidigen, sind die Bemühungen, die größeren Mächte der Dritten Welt in die antirussische Front einzubinden, gescheitert.
Nur China kann Putin stoppen
Die Weltordnung, die heute im Sterben liegt, ist ein Überbleibsel des Vier-Mächte-Spiels zwischen den USA und China in der ersten Reihe und Europa und Russland in der zweiten Reihe. Die naive Behauptung des Westens, der globale Süden habe die moralische Pflicht, sich in den Konflikt mit Russland Position zu beziehen, bestärkt die Überzeugung in Neu-Delhi, Pretoria, Ankara und Brasilia sowie in vielen anderen Hauptstädten, ihren eigenen Weg zu gehen. Warum sollten sie sich einmischen? Die demographischen und wirtschaftlichen Veränderungen sind tiefgreifend.
Neue Weltordnung
Infolgedessen sind wir Zeugen der Entstehung einer neuen, multipolaren internationalen Ordnung mit vielen Akteuren und unterschiedlichen Interessen. Dieser Wandel bringt Bedrohungen mit sich, schafft aber gleichzeitig neue Möglichkeiten für Europa. Kleinere Länder sind in solchen Zeiten verletzlicher, da das Völkerrecht tendenziell ignoriert wird. Leider schikanieren größere Staaten bereits kleinere Staaten, wenn regionale Vereinbarungen sie nicht schützen.
Die Länder des Südens wollen die Freiheit haben, ihre Regierungssysteme, ihre regionale Ordnung und ihre globalen Positionen zu gestalten, ohne in einen so genannten „Systemkonflikt“ verwickelt zu werden. Diese Länder sind es leid, von den westlichen Demokratien belehrt und zu Aktivitäten oder Vereinbarungen gedrängt zu werden, die nicht in ihrem Interesse liegen.