Die Zukunft wartet nicht
Europa erlebt einen historischen Moment, denn 2025 werden die Weichen für Europas Zukunft gestellt. Wenn wir nicht auf dem Abstellgleis der Weltpolitik landen wollen, muss jetzt etwas passieren.

Auf den Punkt gebracht
- Krise. Europa gerät im Vergleich zu den USA und China wirtschaftlich und geopolitisch immer mehr ins Hintertreffen.
- Realität. Europas Geschäftsmodell – Sicherheit aus den USA, Energie aus Russland, Märkte und Produktion aus China – funktioniert nicht mehr.
- Orientierung. In der neuen, instabilen Weltordnung muss Europa seinen Platz erst finden und das Verhältnis zu den USA und China neu definieren.
- Aufgaben. Alternde Bevölkerung, mangelnde Verteidigungsfähigkeit und eine ideologisch verkürzte Energieproduktion erfordern dringend Maßnahmen.
Zu Beginn des Jahres 2025 erinnert Europa an die Welt von Gestern von Stefan Zweig. Der Kontinent erlebt einen langsamen Verfall – wirtschaftlich, demografisch, industriell und technologisch. „Innovationen“ wie ein standardisiertes Handy-Ladegerät oder die an Plastikflaschen fixierten Verschlüsse stehen symbolhaft für die zunehmende Armut an echten Innovationen.
Das Vertrauen in die EU-Institutionen und die Entscheidungsträger in den Mitgliedsländern ist erschüttert, populistische Bewegungen befinden sich im Aufstieg. Die politisch fragmentierte EU, vom Politikstrategen Ivan Krastev als „überinstitutionalisiert und überreguliert“ beschrieben, tut sich schwer, auf die drängenden Krisen zu reagieren.
Der Teufelskreis aus wirtschaftlichen und politischen Problemen wird immer schwerer zu durchbrechen. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten des Kontinents sind gespalten, es fehlt ein Konsens über die Gestaltung der Beziehungen zu den USA, China und Russland. Als Folge droht Europa zum Hinterhof der Weltbühne zu werden. Eine kohärente Strategie der Union für die nächsten Jahre wäre dringend nötig, ist jedoch nicht in Sicht.
Kalter Krieg 2.0
Die Rivalität zwischen den USA und dem „Drachenbären“ (China und Russland) zersplittert die internationale Ordnung. Der Westen entfernt sich immer weiter vom geopolitischen Block, der von China, Russland, dem Iran und Nordkorea angeführt wird. Europa muss sich in diesem System positionieren und das Verhältnis zu den USA und China neu definieren.
Die alte Formel – Sicherheit aus den USA, Energie aus Russland, Märkte und Produktion aus China – ist längst überholt. Die neue Realität führt Europa in eine Abhängigkeit von Amerika in allen drei Bereichen. Gleichzeitig müssen die europäischen Mächte eine pragmatische Linie gegenüber Peking entwickeln. Auch die Umsetzung der Sanktionen gegen Russland bleibt problematisch, besonders wenn es um den Import russischer Rohstoffe über Drittstaaten geht. Eine eigenständige europäische geopolitische Agenda zu entwickeln, wird zunehmend schwieriger.
Die europäischen Länder werden künftig wahrscheinlich gezwungen sein, mindestens drei Prozent ihres BIP in Verteidigungsausgaben zu investieren, eine aktivere Rolle in der Unterstützung der Ukraine zu übernehmen und ihre eigene Nachbarschaft in der Arktis, in Osteuropa und im Mittelmeerraum effektiver zu schützen.
Eine instabile Welt
Die Schwäche der eigenen Verteidigungspolitik könnte Europa 2025 vor eine fundamentale Zerreißprobe stellen. Vor allem das Rote Meer und der Nahe Osten dürften zu den gewalttätigsten und instabilsten Regionen gehören. Dennoch legt Europa den Fokus immer noch auf Diplomatie und tut zu wenig für die militärische Abschreckung. Wie der Militärexperte Franz-Stefan Gady treffend formuliert: „Wer zu sehr auf Diplomatie setzt, läuft Gefahr, nicht ernst genommen zu werden.“ Gady spricht richtigerweise von „parasitärem Pazifismus“, da es sich Europa „unter dem Schutzschirm anderer gemütlich gemacht hat“.
Zudem üben die andauernde Krise im Roten Meer, die Entstehung eines neuen Eisernen Vorhangs entlang der Ostflanke der NATO und die schwankenden Machtverhältnisse im Nahen Osten und Nordafrika inflationären Druck auf europäische Volkswirtschaften aus. Die Notwendigkeit, in Verteidigung sowie Cyber- und Sicherheitsinfrastruktur zu investieren, wird für die politischen Eliten schwierig zu kommunizieren sein.
Geopolitische Spannungen spalten die globalen Lieferketten in zwei alternative Netzwerke und zwingen Europa, Partnerschaften mit Drittstaaten zu suchen. Besonders die wirtschaftlichen Verflechtungen mit China und die Abhängigkeit von Russland bei Rohstoffen werfen die Frage auf, wie Europa wirtschaftlich unabhängiger werden kann. Europa muss Märkte in Schwellenländern – insbesondere in Afrika, Asien und Südamerika – erschließen, um seine geoökonomische Position zu sichern.
Handels- und Finanzkriege
Gleichzeitig leidet Europa unter dem Verlust an industrieller Wettbewerbsfähigkeit, insbesondere gegenüber den USA und China. Steigende Arbeits- und Energiekosten verschärfen das Problem. Die Frage ist, wie die Union ihre Wettbewerbsfähigkeit aufrechterhalten kann, während sie die Dekarbonisierung weiter ehrgeizig vorantreibt. Besonders in den Bereichen Halbleiterproduktion, Künstliche Intelligenz (KI), digitale Infrastruktur und Cybersicherheit hinkt Europa im Wettbewerb mit Amerika und China weit hinterher.
Vor diesem Hintergrund wird die fortschreitende De-Dollarisierung – vorangetrieben von China, Russland und Indien – Europa vor die Aufgabe stellen, sich von der Dominanz des US-Dollars zu lösen und die Rolle des Euro zu stärken. Ein neuer Währungskorb der BRICS-Staaten könnte das internationale Finanzsystem grundlegend verändern. Europa muss sich demnach nicht nur als Partner der USA im Finanzsektor positionieren, sondern auch eine aktive Rolle in der Gestaltung eines multipolaren Finanzsystems übernehmen.
Entweder gelingt es, die Balance zwischen Industrie, Klimaschutz und geopolitischer Sicherheit zu finden, oder Europa wird auf lange Sicht seine Bedeutung verlieren. Doch die EU müsste gegenwärtig in Künstliche Intelligenz, Halbleiter und Verteidigung parallel investieren, um mit den USA und China gleichzuziehen – und das, während die europäische Industrie immer grüner wird. Dass diese Übung gelingen wird, scheint wenig realistisch.
Perspektiven und Chancen der EU
Ein Szenario könnte darin bestehen, die industrielle Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten von Sicherheit und Dekarbonisierung zu fördern. Europa würde sich auf seine industrielle Basis konzentrieren, unterstützt durch die EU-Institutionen, während massive Investitionen in Digitalisierung, Quantencomputing und KI fließen. Dabei würde Europa sicherheitspolitisch jedoch noch abhängiger von den USA.
Ein alternatives Szenario wäre die Priorisierung neuer europäischer Industrien in Cybersecurity, Weltraumtechnik und Verteidigung – zugunsten der europäischen Sicherheit und zulasten der Dekarbonisierung. Europa könnte sich auf den Schutz seiner Außengrenzen konzentrieren und zusätzliche Sicherheitsaufgaben übernehmen. Diese Strategie würde Europa helfen, seine geopolitische Position zu stärken und seine Handelsbeziehungen in einer fragmentierten Weltwirtschaft zu diversifizieren.
Trotz all dieser Herausforderungen gibt es für Europa auch Chancen, seine globale Rolle zu festigen. Ein wichtiger Schritt wäre die Intensivierung strategischer Partnerschaften mit Ländern im Globalen Süden, besonders in Afrika, Asien und Lateinamerika. Ähnlich wie mit Mercosur sollte die EU neue Freihandelsabkommen mit Ländern und Regionen wie Indien, den Golfstaaten, der ASEAN-Gruppe und der Afrikanischen Union abschließen.
Ein weiteres Schlüsselprojekt für Europas Zukunft ist das Vorantreiben strategischer Infrastrukturprojekte wie der Drei-Meere-Initiative (eines Projekts zur verstärkten Zusammenarbeit von dreizehn mittel- und ostmitteleuropäischen Staaten der EU) und von IMEC (2023 vereinbarter Wirtschaftskorridor Indien–Naher Osten–Europa für den Waren- und Energietransport).
Europa braucht nicht nur Wind und Sonne, sondern auch Kernenergie, eine eigene Gasproduktion und langfristige Gasverträge mit Drittländern.
Die Erweiterung des Binnenmarkts um Länder am Balkan und in Osteuropa bietet eine weitere Chance. Diese Regionen bilden eine Brücke zwischen der EU, Asien, Afrika und dem Nahen Osten, eine engere Zusammenarbeit mit ihnen könnte Europa geopolitisch stärken. Die Ostexpansion des Binnenmarkts würde nicht nur die wirtschaftliche Vernetzung und den Handel innerhalb der EU fördern, sondern auch als Bollwerk gegen die wachsende russische und chinesische Präsenz in der Region wirken.
Jetzt oder nie
Damit Europa weiterhin als industrielle Großmacht im internationalen Wettbewerb mit China und den USA bestehen kann, müssen mehrere miteinander verflochtene Problemfelder gleichzeitig angepackt werden: Da wäre einmal die Alterung der Bevölkerung, der mit gezielten Maßnahmen in den Bereichen Migration, Familienpolitik, Bildung und Produktivität zu begegnen ist.
Die europäische Energieproduktion muss gestärkt werden, um die Versorgung sicherzustellen und die Abhängigkeit von anderen Ländern zu verringern. Dazu braucht es nicht nur Wind und Sonne, sondern auch Kernenergie, eine eigene Gasproduktion und langfristige Gasverträge mit Drittländern. Schließlich muss Europa auf die wachsenden Sicherheitsbedrohungen in seinen südlichen und östlichen Nachbarregionen und auf die zunehmenden Sabotageakte von China und Russland im Norden aktiv reagieren.
Insgesamt steht Europa 2025 vor einer der größten Herausforderungen seiner Geschichte. Nur wenn die EU es schafft, sich in der neuen Weltordnung zu behaupten, wird der Kontinent als globaler Akteur eine erfolgreiche Zukunft haben.
Conclusio
Selbstfindung. Europa muss seine Rolle in einer fragmentierten Weltordnung definieren. Sonst wird es zwischen den USA und einem von China, Russland, dem Iran und Nordkorea angeführten Block aufgerieben und an Autonomie verlieren.
Innovationsdruck. Die europäische Wirtschaft leidet unter steigenden Kosten, schwindender Wettbewerbsfähigkeit und technologischer Rückständigkeit, während sie gleichzeitig Strategien zur Dekarbonisierung entwickeln muss.
Chancen. Strategische Allianzen mit Schwellenländern, ambitionierte Infrastrukturprojekte und die Integration osteuropäischer Länder bieten Europa die Möglichkeit, seine wirtschaftliche und geopolitische Position zu stärken.
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