Mehr psychologische denn atomare Kriegsführung
Die neue russische Kernwaffendoktrin bringt den Dritten Weltkrieg nicht näher. Das erneute Schüren von Angst und Unsicherheit ist vielmehr Teil der psychologischen Kriegsführung des Kreml.
Am 19. November 2024 unterzeichnete Russlands Präsident Wladimir Putin den Erlass „Über die Verabschiedung der Grundlagen der Staatspolitik der Russischen Föderation auf dem Gebiet der nuklearen Abschreckung“. Die Reform der Kernwaffendoktrin wurde international als potenzielle Erhöhung des Risikos eines Atomwaffeneinsatzes diskutiert, stellt jedoch ein typisches Beispiel für Anlassgesetzgebung dar und lässt ungeachtet bedrohlich klingender Formulierungen nicht auf eine tatsächliche Eskalation schließen.
Mehr von Alexander Dubowy
Die Kernwaffendoktrin als Abschreckung
Im Mittelpunkt des Dokumentes stehen die Bedingungen für den Einsatz von Atomwaffen, die im Vergleich zur vorherigen Fassung um einen weiteren Punkt ergänzt und an einigen Stellen geändert wurden. Damit können Atomwaffen zum Einsatz gebracht werden,
- beim Vorliegen zuverlässiger Informationen über den Start ballistischer Raketen gegen Russland und seine Verbündete;
- beim Einsatz von Atomwaffen oder anderen Massenvernichtungswaffen gegen russisches Territorium oder das seiner Verbündeten sowie gegen militärische Objekte der Russischen Föderation, die sich außerhalb ihres Territoriums befinden;
- beim Angriff auf kritische Infrastrukturen, welche die Reaktionsfähigkeit der nuklearen Streitkräfte beeinträchtigen;
- bei kritischer Bedrohung der Souveränität und/oder territorialer Integrität Russlands und/oder der Republik Belarus durch einen konventionellen Angriff;
- beim Vorliegen zuverlässiger Informationen über einen massiven Luftangriff – unter anderem durch strategische und taktische Flugzeuge, Marschflugkörper, Drohnen, Hyperschall- und andere Waffensysteme – gegen Russland.
Die umfassendsten Änderungen betreffen das Kapitel „Das Wesen der Abschreckung“. Darin postuliert Russland, dass künftig alle Mitglieder einer Koalition als Ziel der nuklearen Abschreckung gelten, wenn eines ihrer Mitglieder Russland angreift. Dies schließt auch Staaten ein, die einem Angreifer ihr Territorium, ihre Gewässer oder ihren Luftraum für Angriffe auf Russland zur Verfügung stellen. Darunter könnten beispielsweise auch Überfluggenehmigungen beziehungsweise Waffentransporte durch neutrale Staaten wie Österreich fallen. Die Änderung ist ein weiterer Versuch, die NATO-Staaten einzuschüchtern und die westliche Unterstützung für die Ukraine zu untergraben.
Zu den zentralen Elementen zählen die Festlegungen, dass ein Grund für einen Nuklearschlag sowohl eine „Aggression gegen Russland und seine Verbündeten durch einen nicht-nuklearen Staat mit Unterstützung eines nuklearen Staates“ als auch ein „massiver Luftangriff mit nichtnuklearen Mitteln“, etwa durch Drohnen, sein kann.
Mit diesen martialischen Formulierungen suggeriert Russland ein Herabsenken der Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen und signalisiert die Bereitschaft, Atomwaffen auch gegen nicht-nukleare Staaten einzusetzen. Das Ziel ist, durch die Drohung eines nuklearen Erstschlags in einem konventionellen Konflikt die Ukraine von weiteren Angriffen auf russisches Territorium abzuhalten und zugleich die westlichen Atommächte – Frankreich, Großbritannien und die USA – einzuschüchtern, damit sie ihre Militärhilfen für die Ukraine überdenken.
Wladimir Putin kündigte diese Änderungen parallel zu den Debatten innerhalb der US-Regierung über die Einsatzfreigabe von ATACMS-Raketen für die Ukraine an. Diese Formulierungen stehen also in direktem Zusammenhang mit der Entscheidung der USA, der Ukraine den Einsatz US-amerikanischer Präzisionsraketen gegen Militärziele auf russischem Territorium zu ermöglichen.
Eine Scheinreform als Déjà-vu
Interessanterweise entlarven gerade diese von den internationalen Medien mit Schrecken vernommenen Ankündigungen den Scheincharakter der Reform. Was zunächst wie eine deutliche Ausweitung der Handlungsspielräume des Kremls wirkt, erweist sich bei genauerer Betrachtung als eine bloße Präzisierung bestehender Positionen. Denn Russland behält sich das Recht auf einen Erstschlag gegen nicht-nukleare Staaten bereits seit 1993 vor.
Der Scheincharakter der Reform gelangt auch an zahlreichen weiteren Stellen zum Ausdruck. So stellt die Änderung der vagen Formulierung einer „existenziellen Bedrohung des Staates“ hin zu einer „kritischen Bedrohung der Souveränität und/oder territorialen Integrität“ keine neue Eskalationsstufe dar, sondern bildet lediglich eine sinngemäße Rückkehr zur Formulierung aus der Militärdoktrin des Jahres 2000. Die ausdrückliche Erwähnung der Republik Belarus erstreckt die nukleare Abschreckung nur scheinbar auf dieses Land. Denn schließlich war Belarus auch von der früheren Formulierung „die Verbündeten Russlands“ stets mitumfasst.
Was zunächst wie eine Ausweitung der Handlungsspielräume des Kremls wirkt, erweist sich als eine bloße Präzisierung bestehender Positionen.
Die Analyse des Dokuments vermittelt unweigerlich ein Déjà-vu: Die Reform der Kernwaffendoktrin 2024 erinnert auffallend an die Verfassungsreform von 2020. Wie damals handelt es sich auch diesmal um marginale Präzisierungen, verpackt in blumige Formulierungen und eine Fülle von Satzzeichen, ohne nennenswerte praktische Relevanz.
Während die Verfassungsreform primär der Legitimierung einer erneuten Präsidentschaft Wladimir Putins diente und weniger den offiziell verkündeten Zielen, verfolgt die Reform der Kernwaffendoktrin keine Klarstellung strategischer Absichten. Stattdessen zielt sie darauf ab, die Taktik unklarer Drohungen und flexibel interpretierbarer roter Linien gegenüber dem Westen weiter zu verstärken.
Putins Wille ist Russlands einzige Doktrin
Nachdem die doktrinären Bestimmungen Russlands verfassungsrechtlich, vor allem aber machtpolitisch der Deutungshoheit des Präsidenten unterliegen, bieten diese keine verlässliche Grundlage zur Bewertung der Einsatzwahrscheinlichkeit von Kernwaffen an. Auch eine präzisere Begriffswahl ändert daran nichts. Ob von einer „existenziellen Bedrohung“ oder einer „kritischen Bedrohung der Souveränität Russlands“ die Rede ist, bleibt unerheblich. Die Auslegung dieser Begriffe und letztlich die Entscheidung über einen Kernwaffeneinsatz liegt allein bei Wladimir Putin.
Denn eines kann mit Gewissheit gesagt werden: Würde Putin seit Beginn der vollumfänglichen russischen Invasion in die Ukraine im Einsatz von Kernwaffen einen klaren Vorteil erblicken, ohne dabei unkontrollierbare Konsequenzen zu riskieren, hätte er den Atomwaffeneinsatz – unabhängig von doktrinären Vorgaben – längst befohlen. Doch wie berechtigt ist eigentlich die Sorge vor einem Atomwaffeneinsatz durch Russland?
Die Urangst des Westens
Am Beginn der sogenannten „Spezialmilitäroperation“ am 24. Februar 2022 warnte Wladimir Putin die internationale Gemeinschaft vor einer „Einmischung in den Konflikt“. Alle Versuche Russland zu bedrohen, würden eine sofortige, nie dagewesene Reaktion zur Folge haben, lautete die martialische Ankündigung des Kremlchefs.
Mit seiner kaum verhohlenen Drohung, Atomwaffen in einem konventionellen Konflikt einzusetzen, führte Putin eine faktische Ausweitung der offiziellen Nukleardoktrin Russlands herbei und überschritt damit rhetorisch die roten Linien konventioneller Kriegsführung. Seit dieser Drohung hat der Westen die Ukraine unter anderem mit weitreichenden Raketensystemen, schweren Kampfpanzern und auch mit F-16-Kampfflugzeugen ausgestattet. Die westlichen Waffenlieferungen erfolgen allerdings unter teilweise monatelangen langwierigen Diskussionen und bei Weitem nicht im erforderlichen Ausmaß. Denn die Angst vor einer Konflikteskalation mit Russland ist des Westens ständiger Begleiter.
Naheliegenderweise sollte die Möglichkeit einer potenziellen Eskalation in einem laufenden Konflikt unter direkter Beteiligung einer Atommacht nicht einfach ignoriert werden. Schließlich verfügt Russland nach Informationen der Federation of American Scientists (FAS) mit rund 5.600 nuklearen Sprengköpfen über das weltweit größte Atomwaffenarsenal. Theoretisch wäre damit auch eine mehrmalige Zerstörung der gesamten Welt möglich.
Neben den sogenannten strategischen Atomwaffen, welche aufgrund ihrer enormen Reichweite und Zerstörungskraft zu Recht als die Waffen des Jüngsten Tages gelten, besitzt Russland auch die im Vergleich dazu deutlich kleiner dimensionierten Sprengköpfe, sogenannte taktische Atomwaffen. Diese können je nach Größe ähnlich wie konventionelle Waffen zur gezielten Bekämpfung gegnerischer Streitkräfte im Kampfgebiet in relativer Nähe zu den eigenen Truppen eingesetzt werden.
Bei den Diskussionen über den potenziellen Einsatz russischer Atomwaffen ist aber besonderes Augenmaß geboten. Durch das Zünden einer einzelnen nuklearen Waffe kann der Krieg wohl kaum zu Gunsten Moskaus entschieden werden. Allerdings wird bereits der Einsatz einer in ihrer Sprengkraft und Reichweite kleineren taktischen Atomwaffe die Russische Föderation selbst in den Augen ihrer gegenwärtigen Sympathisanten zu einem Pariastaat machen, zu einer erdrückenden Verschärfung des Sanktionsregimes führen und eine konventionelle militärische Antwort der internationalen Gemeinschaft provozieren. Damit wäre ein Atomwaffeneinsatz für Russland nicht nur militärisch kaum ertragreich, sondern würde auch die Handlungsoptionen Wladimir Putins enorm einschränken.
Natürlich muss dieses Szenario nicht eins zu eins Realität werden, dennoch bleibt das Risiko für den Kreml unkalkulierbar hoch. Und solange nicht alle, ungleich risikoärmere Möglichkeiten ausgeschöpft sind, wird Putin von einem Atomwaffeneinsatz absehen. Denn schließlich sieht sich Russland in einen komplexen politisch-militärischen Konflikt mit dem Westen verwickelt. Um aus diesem Konflikt als Sieger hervorzugehen, ist der Einsatz von Atomwaffen nur wenig zielführend. Immerhin verbindet Russlands langjähriger Staatschef strategische Absurdität und taktischen Pragmatismus. An Instrumenten hybrider Kriegsführung mangelt es dem Kreml wahrlich nicht. Damit fügt sich die aktuelle Kernwaffendoktrin nahtlos in die äußerst erfolgreiche psychologische Kriegsführung Russlands gegen den Westen ein.