5 Szenarien für den Ukraine-Krieg

Vor zweieinhalb Jahren startete Putin seine Invasion in der Ukraine. Wie kann dieser erbitterte Konflikt enden? Der Pragmaticus hat fünf Experten gebeten, Szenarien für den Ukraine-Krieg zu entwickeln.

Ein Soldat steiht aus einem Schützengraben vor Rauchschwaden. Das Foto illustriert eine Beitrag über fünf Szenarien für den Ukraine-Krieg.
Ukrainische Soldaten der 22. Infanteriebrigade werden im Sommer in Donezk zwischen echten Explosionen auf den taktischen ­Grabenkampf vorbereitet. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Nebel des Kriegs. Wann das Schrecken in der Ukraine enden wird hängt von vielen Faktoren ab; zudem mangelt es Analysten oft an zuverlässigen Fakten.
  • Gruppenschätzung. Der Pragmaticus bat Experten darum, fünf Szenarien für die Ukraine nach ihrer Wahrscheinlichkeit von null bis hundert Prozent zu bewerten.
  • Langes Patt. Die Chance, dass der Krieg in einen eingefroren Konflikt mündet, wurde vom Experten-Kollektiv am wahrscheinlichsten eingestuft.
  • Eskalation. Durch die Unterstützung der USA für die Ukraine und Chinas Rückhalt für Russland auf der anderen Seite, könnte der Konflikt global eskalieren.

Noch vor Sonnenaufgang, kurz vor vier Uhr morgens, fielen im Bezirk Luhansk die ersten Schüsse. Am 24. Februar 2022 griffen russische Boden- und Luftstreitkräfte die Ukraine unter Raketenbeschuss an. Der Kreml und viele Experten im Westen rechneten damals mit einem raschen Erfolg des Angreifers. Doch die tapferen Ukrainer wehren sich bis heute. Noch ist unklar, wie dieser Krieg enden wird.

Experten schätzen, dass auf beiden Seiten schon mehr als eine halbe Million Soldaten gestorben sind. Auch in der (ukrainischen) Zivilbevölkerung steigen die Opferzahlen. Laut Vereinten Nationen wurden mehr als 11.000 Menschen getötet und etwa 24.000 verletzt. Putins Überfall löste in Europa zudem die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg aus.

Szenarien für den Ukraine-Krieg 

Trotz all dieses Leids haben sich die Fronten nach dem gescheiterten Erstschlag kaum verändert. Russland hält seit über zwei Jahren knapp ein Fünftel der Ukraine besetzt. Wie kann es weitergehen? Der Pragmaticus hat fünf Top-Experten um ein Gedankenexperiment gebeten. Jeder erhielt ein zufällig zugewiesenes Szenario und skizzierte einen möglichen Weg dorthin. Anschließend bewerteten die Experten jede Variante nach ihrer Wahrscheinlichkeit (Grafik unten). Mit dem klaren Sieg einer Kriegspartei rechnen die fünf Fachleute eher nicht, für viel realistischer halten sie ein langes Patt. Auch die Gefahr einer globalen Eskalation ist – mit sieben Prozent Wahrscheinlichkeit – gegeben.

Szenario 1 – Friedensvertrag

Velina Tchakarova

Im Jahr 2024 erreicht der russische Krieg gegen die Ukraine einen kritischen Punkt, an dem beide Seiten in einem zermürbenden Patt verharren. Der Westen sieht seine Strategie scheitern. Die militärische Hilfe ist zu langsam und zu wenig entschlossen, während 14 Sanktionspakete gegen Russland ihre Wirkung aufgrund globaler wirtschaftlicher Verflechtungen und Rohstoffabhängigkeiten verfehlen.

Russland gelingt es, dank wichtiger Partner wie China, Indien und Brasilien sowie mithilfe zentralasiatischer Länder und weiterer Staaten des Globalen Südens, seine Isolation zu durchbrechen. Die USA, Deutschland und Frankreich befinden sich wegen innenpolitischer Schwierigkeiten und Wahlen in einem Führungsvakuum, wodurch sich die westliche Reaktion weiter verlangsamt. Gleichzeitig zeigt auch Russland nach drei Jahren Krieg Ermüdungserscheinungen. Russlands Partner, insbesondere China und Indien, üben mehr Druck auf Moskau aus, mit Kyjiw zu verhandeln, da die geoökonomischen Auswirkungen des Krieges ihre eigene Stabilität bedrohen.

Teilung des Landes

Die Frontlinien verschieben sich trotz zäher Offensiven und Gegenoffensiven nur geringfügig. Beide Seiten erkennen, dass eine signifikante territoriale Änderung unrealistisch ist, was zu mehreren Friedensinitiativen führt. Eine davon ist die Friedenskonferenz in der Schweiz, organisiert durch den Westen. China und Brasilien initiieren Verhandlungsplattformen, um Russlands Teilnahme zu gewährleisten.

Der Krieg endet vorübergehend durch Verhandlungen und ein formelles Friedensabkommen. Dieses umfasst territoriale Zugeständnisse, Sicherheitsgarantien und eine internationale Friedenstruppe zur Überwachung des Abkommens in der Pufferzone zwischen russisch und ukrainisch kontrollierten Gebieten. Die Ukraine wird in zwei Hälften geteilt, ähnlich der Nachkriegsteilung von Nord- und Südkorea. Die Westukraine beginnt, sich de facto auf einen NATO-Beitritt vorzubereiten, um ihre restliche Souveränität zu sichern. 

Russland nutzt den Waffenstillstand, um seine stark ermüdeten Truppen zu erfrischen und militärisch zu modernisieren sowie sich auf künftige militärische Angriffe trotz des formellen Friedensabkommens vorzubereiten.

Illustration von Velina Tchakarova.
Velina Tchakarova ist Außenpolitik-Expertin und Gründerin des Beratungsunternehmens FACE. © Andreas Leitner

Szenario 2 – Eingefrorener Konflikt

Alexander Dubowy

Die russische Invasion der Ukraine ist in einen Stellungskrieg übergegangen. Trotz schwerer Verluste kann Russland keine bedeutenden Erfolge erzielen. Die ukrainischen Verteidigungskräfte halten die Front unter hohen Opfern, doch ihre Gegenstöße bleiben begrenzt. Dank rechtzeitig gelieferter Flugabwehrsysteme bricht Kyjiw Moskaus Lufthoheit und sichert kritische Infrastruktur ab. Eine erfolgreiche Gegenoffensive der Ukraine bleibt wegen Rekrutierungsproblemen aus.

Russland kämpft ungeachtet des größeren Rekrutierungspotenzials mit Personalmangel und verzichtet auf Mobilmachung, da die Lage aufgrund der Sanktionen sozialpolitisch zunehmend angespannter wird. Die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten entfacht Debatten über die Unterstützung der Ukraine. Washington verortet die Hauptverantwortung bei der EU und der NATO. Diese verschieben ihre Unterstützung zunehmend auf die rhetorische Ebene. Der Krieg führt in eine dreifache Pattsituation: Russlands Offensive stockt, die Ukraine kann keine besetzten Gebiete befreien, und die westliche Unterstützung schwindet. Moskau und Kyjiw vereinbaren eine lose Kontaktlinie mit einer demilitarisierten Zone. Beide Seiten bereiten sich auf ein Wiederaufflammen des Konflikts vor und verstärken ihre Verteidigungsstellungen.

Kein Frieden

Die Ukraine verhandelt zäh mit dem Westen über weitere Waffenlieferungen und Sicherheitsgarantien. Russland nutzt die Kampfpause sowie die Spannungen im westlichen Bündnis zur Wiederaufrüstung und für Säuberungen gegen die Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten. Entlang der Kontaktlinie kommt es regelmäßig zu Zwischenfällen. Sowohl in Moskau als auch in Kyjiw wächst die gesellschaftliche Unzufriedenheit über den „verkauften Sieg“. Der Kreml reagiert auf nationalistische Proteste mit Repressionen, während Wolodymyr Selenskyj scharfer Kritik der Opposition ausgesetzt ist und zunehmend in Bedrängnis gerät. 

Moskau destabilisiert die politische Lage in der Ukraine mit Propaganda, Desinformation und dem Schüren von Differenzen. Im russischen Staatsfernsehen bleibt die martialische Rhetorik bestehen, um die Gesellschaft auf einen erneuten Krieg vorzubereiten. Im Westen werden angesichts des Waffenstillstands Forderungen nach einem Dialog mit Russland und schrittweiser Aufhebung der Sanktionen laut.

Illustration von Alexander Dubowy.
Alexander Dubowy ist Analyst in internationalen Politik- und Sicherheitsfragen, Osteuropa-Forscher und Berater. © Andreas Leitner

Szenario 3 – Putins Triumph

Gerhard Mangott

Aufgrund anhaltender Mobilisierungsschwächen der ukrainischen Armee und der nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten deutlich sinkenden Militärhilfe durch den Westen gelingt es den russischen Truppen, in der Region Donezk auf Kramatorsk, Slowjansk und Pokrowsk vorzudringen und diese Städte zu erobern. Damit ist die Verteidigungslinie der Ukraine in der für Russland wichtigen Region durchbrochen. Die ukrainische Armee zieht sich auf Stellungen in der Region Dnipropetrowsk zurück.

Möglich wurde dies auch durch die Androhung des Einsatzes von taktischen Nuklearwaffen durch die russische Armee. Die Drohung wurde glaubwürdig, weil Russland eine nukleare Testexplosion in der Atmosphäre durchgeführt hat. Die westlichen Unterstützer der Ukraine haben der ukrainischen Führung mitgeteilt, dass sie auf solche Einsätze militärisch nicht reagieren werden.

Nukleare Drohung

Mit den anhaltenden Drohungen einer nuklearen Eskalation durch Russland und den wegen der hohen Zahl an gefallenen und verwundeten Soldaten ausgedünnten Reihen in der ukrainischen Armee stoßen die russischen Truppen in der Folge bis nach Kyjiw vor. Als Russland androht, die Stadt mit Flächenbombardements zu überziehen, kapituliert die Regierung Selenskyj, und der Präsident wird mithilfe der USA außer Landes gebracht. Interimistischer Präsident wird der Putin-Getreue Viktor Medwedtschuk. 

Die ukrainische Armee beugt sich der neuen Situation und legt die Waffen nieder. Mit der neuen Führung stabilisiert sich die Ostregion, aber anhaltende Partisanentätigkeit und ziviler Ungehorsam machen die Besatzungsbedingungen für die russischen Streitkräfte in der Westukraine schwierig.

Die faktische Kontrolle über das ukrainische Territorium bleibt daher auf lange Zeit angefochten. Die Exilregierung unter Selenskyj wird von den westlichen Staaten als einzige legitime Führung der Ukraine betrachtet. Das ändert aber nichts an der sinkenden Relevanz der Exilregierung für die Geschicke innerhalb der Ukraine. Aufrufe zu zivilem Ungehorsam und zur Partisanentätigkeit werden im Laufe der Jahre weniger; der Widerstand im Land wird durch russische Repression und Vergeltungsakte immer schwieriger.

Illustration von Gerhard Mangott.
Gerhard Mangott ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt postsowjetischer Raum an der Universität Innsbruck. © Andreas Leitner

Szenario 4 – Sieg der Ukraine

Stefan Hedlund

Die Ukraine erringt einen Sieg dank vier wesentlicher Komponenten: Die erste ist die Lieferung einer relevanten Anzahl von F-16-Kampfjets, die mit modernem Radar und Raketen bestückt sind. Da die russische Flugabwehr bereits geschwächt ist, kann die Ukraine dadurch die Luftüberlegenheit erlangen, was den Bodenkrieg grundlegend verändert. Zweitens erlaubt der Westen, dass mit den gelieferten Waffen Ziele tief in Russland angegriffen werden. Da die russischen Luftstreit-kräfte normalerweise in offenem Gelände stehen und die Ukraine genau weiß, wo sie zuschlagen muss, werden umfangreiche Raketenangriffe die stationierte russische Luftwaffe lahmlegen. 

Drittens wird durch die Lieferung von ausreichend Patriot- und NASAMS-Flugabwehrraketen der Himmel über der Ukraine geschlossen, sodass Städte und kritische Infrastruktur vor russischen Raketenangriffen geschützt werden. Und – viertens – stellt Deutschland endlich Taurus-Marschflugkörper bereit, die es der Ukraine ermöglichen, die Brücke von Kertsch auf die Krim zu zerstören. Mit ukrainischen Seedrohnen, die Nachschubwege vom Meer aus unterbrechen, und den amerikanischen Kurzstreckenraketen ATACMS, die Straßen- und Eisenbahnverbindungen entlang der Küste des Asowschen Meeres unterbrechen, wird es für Russland unmöglich, die Krim zu halten.

Putins Regime kollabiert

Indem die Ukraine diese Schritte in einer konzertierten Schock-Kampagne durchführt, erzielt sie den größtmöglichen politischen Effekt und bringt das russische Regime zum Kollaps. Der Verlust der Krim ist eine massive Demütigung. Da der Nachschub an Rekruten für Angriffe der „Fleischwelle“ versiegt, brechen Teile der Frontlinien zusammen. Da seine ballistischen Raketen gegen die Patriot- und NASAMS-Flugabwehr unwirksam sind, hat Russland nicht mehr die Möglichkeit, die Ukraine durch Terror zum Aufgeben zu zwingen. Der entscheidende Schlag erfolgt mit der Drohung, die russischen Ölexportterminals in Noworossijsk und St. Petersburg anzugreifen, die 90 Prozent der russischen Ölexporte ausmachen. Angesichts dieser Drohung, die seine Wirtschaft lahmlegen würde, fordert Russland ein Ende der Kampfhandlungen und beginnt, sich aus der Ukraine zurückzuziehen.

Illustration von Stefan Hedlund.
Stefan Hedlund ist Professor an der schwedischen Universität Uppsala mit den Schwerpunkten Zentralasien und postsowjetische Angelegenheiten. © Andreas Leitner

Szenario 5 – Globale Eskalation

Lukas Bittner

Der Krieg in der Ukraine intensiviert sich weiter und droht, die Welt in eine tiefe Krise zu stürzen. Trotz internationaler Bemühungen geraten die Ukraine und Russland in eine Spirale der Eskalation. Die Ukraine greift mit weitreichenden Präzisionswaffen wiederholt strategische Ziele in der Tiefe Russlands an. Im Zuge dieser Angriffe wird auch der Kreml in Moskau getroffen und teilweise massiv beschädigt. Für Russland ist damit eine rote Linie überschritten.

Der russische Präsident stellt klar, dass dieser Angriff auf das politische Herz Russlands nur mit westlicher Unterstützung möglich war und kündigt daher eine militärische Reaktion gegen die NATO an. Diplomatische Bemühungen scheitern an den verhärteten Fronten. Die Gefahr eines großflächigen Krieges in Europa wird immer realer, da die NATO auf die russische Drohung reagiert und Truppen mobilisiert.

Peking nutzt die Chance

Ein entscheidender Faktor in dieser eskalierenden Entwicklung ist China. Viele Beobachter vermuten, dass China an einer weiteren Eskalation kein Interesse hat und mäßigend auf Russland einwirken würde, doch zeigt sich das Gegenteil: China unterstützt aktiv die Seite Russlands. Gleichzeitig nutzt China die instabile Lage, um seine eige-nen strategischen Ziele zu verfolgen. Marinekräfte der chinesischen Volksbefreiungsarmee errichten eine Blockade um Taiwan, und Aufklärungsbilder zeigen die Mobilisierung von Land- und Luftstreitkräften. Die Invasion steht unmittelbar bevor.

Die USA sind so mit zwei parallelen möglichen Kriegsschauplätzen konfrontiert und stehen vor einem strategischen Dilemma. Die verfügbaren militärischen Kräfte reichen nicht für beide Konflikte gleichzeitig aus. Da von einer Invasion Taiwans auch amerikanische Stützpunkte im Pazifik betroffen wären, entschließt sich die US-Administration zu einem Präventivschlag gegen China. Gleichzeitig mit dem chinesischen Gegenschlag greift auch Russland US-Basen in Europa an.

Die Eskalationsdynamik führt zu einer militärischen Konfrontation, die nahezu alle Kontinente erfasst. Der ursprünglich regionale Krieg in der Ukraine entwickelt sich zu einem Katalysator für einen Weltkrieg.

Illustration von Lukas Bittner.
Lukas Bittner ist Militärstratege im Bundesministerium für Landesverteidigung. © Andreas Leitner

Wahrscheinlich ein Patt

Die fünf Schätzungen der Experten, wie Wahrscheinlich jedes Szenario – gemäß Überschrift – eintritt, brachte ein klares Ergebnis: Ein Patt in Form eines eingefrorenen Konflikts, oder ein Friedensvertrag, bei dem das Land geteilt bleibt, erachten sie für das wahrscheinlichste Ergebnis des Krieges. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Ukraine siegt, kommt in der Gruppenschätzung auf 15 Prozent, genau wie ein Sieg Russlands. Die Gefahr, dass sich der Krieg zu einem globalen Konflikt ausdehnt, sehen die Experten zusammengefasst eher gering, aber mit sieben Prozent klar im Reich der Möglichkeiten. Die Schätzungen schwankten hier jedoch zwischen fünf und 15 Prozent. Bleibt zu hoffen, dass es nicht so weit kommt.

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Zahlen & Fakten

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Conclusio

Am 24. Februar 2022 begann Russland mit einem groß angelegten Angriff auf die Ukraine, der sich wider Erwarten als langwierig und verlustreich erwies. Trotz erheblicher Opferzahlen auf beiden Seiten und großer ziviler Leidensgeschichte ist ein Ende des Konflikts nicht in Sicht. Experten analysierten verschiedene Szenarien für den Kriegsverlauf, wobei sie ein langes Patt oder einen Friedensvertrag mit Teilung des Landes für am wahrscheinlichsten halten. Die Möglichkeit einer globalen Eskalation des Konflikts wird als gering eingestuft, aber nicht ausgeschlossen.

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