Kinder statt Karriere: Frauen fehlen im Job
Ein Rekord an offenen Stellen droht die wirtschaftliche Erholung zu bremsen. Frauen könnten den bestehenden Fachkräftemangel leicht ausgleichen – doch es fehlt an den nötigen Kinderbetreuungsangeboten, um beiden Eltern eine Karriere zu ermöglichen.
Auf den Punkt gebracht
- Wenig Fachkräfte. Vor allem Klein- und Mittelbetriebe verlieren an Umsatz, weil sie nicht genug Mitarbeiter finden.
- Wenig Frauen. Dem Arbeitsmarkt fehlen nicht weibliche Beschäftigte, sondern weibliche Arbeitskraft – rund jede zweite Frau arbeitet Teilzeit.
- Wenig Betreuung. Kinder können in Österreich selten ganztägig in Betreuungseinrichtungen gehen. Neun von zehn werden untertags abgeholt.
- Wenig Anreize. Staatliche Leistungen für Jungeltern bieten zu wenig Anreize, die Karenz ausgewogener auf beide aufzuteilen.
Passend zum Frühlingswetter herrschte dieses Jahr Aufbruchsstimmung. Die Wirtschaft erholte sich schneller als erwartet von den Folgen der Pandemie, von Woche zu Woche wurden mehr Menschen geimpft und die Geschäfte durften wieder aufsperren. Im Herbst sank die Arbeitslosigkeit unter das Vorkrisenniveau. Derzeit sind rund 330.000 Personen auf Jobsuche. Trotzdem hätte die Wirtschaft stärker wachsen können, wenn nicht ein Rekordhoch von 114.000 offenen Stellen unbesetzt blieben. Wie passt das zusammen?
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Drei von vier Unternehmen geben an, unter den Bewerbern keine qualifizierten Fachkräfte zu finden, wie eine Umfrage von EY vor dem Sommer ergab. Vor allem Klein- und Mittelbetriebe leiden darunter, keine vollständigen Teams besetzen zu können, um alle Aufträge zu bewältigen. 35 Prozent von ihnen berichten von Umsatzeinbußen deswegen.
Der Fachkräftemangel wurde durch die Pandemie verschärft, schließlich fehlt vor allem in den von Lockdowns am stärksten betroffenen Branchen eine junge Kohorte an Lehrlingen und Berufseinsteigern. Wer wollte schon Koch in einer auf ungewisse Dauer geschlossenen Küche lernen? Außerdem stieg der Bedarf nach Gesundheitspersonal, Laborassistenten und ähnlichen Berufen.
Die Politik steht vor mehreren Baustellen. Eine der wichtigsten ist die Ungleichheit der Geschlechter.
Die Verwerfungen durch die Pandemie sind aber nur ein kleiner Teil des Fachkräfte-Problems in Österreich sowie in Deutschland und der Schweiz. Die Alterung der Gesellschaft verändert das Verhältnis von aktiv Beschäftigten zu Menschen im Ruhestand. Anders ausgedrückt: Es gibt weniger Menschen, die etwas produzieren und mehr, die nur konsumieren. Wenn fehlende Ingenieure, Programmierer, Mechaniker und Köche bereits heute den Aufschwung bremsen, kaum auszudenken, wie sehr die Personallücke in zehn Jahren das Wachstum hemmen wird. Die Politik steht vor mehreren Baustellen. Eine der wichtigsten ist die Ungleichheit der Geschlechter.
Fachkräftemangel ist ungleich verteilt
Es gibt Männerberufe und es gibt Frauenberufe. Das ist kein bloßes Vorurteil, sondern eine statistische Beobachtung. Handwerkerinnen sind eine Seltenheit. Im Baugewerbe liegt der Frauenanteil unter zehn Prozent, in weiten Teilen der Industrie kommen auf drei Männer nur eine Frau. Im Gesundheitswesen ist das Verhältnis umgekehrt. Besonders rar sind Tierärzte – im Veterinärwesen kommen auf einen Mann acht Frauen. Klarerweise ist der Frauenanteil in Berufen gering, wo bereits wenige Frauen eine Ausbildung anfangen: bei technischen Lehrberufen und bei den sogenannten MINT-Fächern – also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik.
Zahlen & Fakten
Genau in diesen Branchen mit Männerüberhang ist der Fachkräftemangel akuter, es gibt viele offene Stellen und wenige Jobsucher, wie ein Blick in die Daten zeigt. Zum Beispiel gibt es im Maschinenbau lediglich 1,7 Arbeitssuchende pro ausgeschriebener Stelle. Der Frauenanteil in der Branche beträgt nur 16 Prozent.
Die Gesellschaft müsste daher mehr Frauen dazu bringen, eine Karriere als Technikerin, Informatikerin, Chemikerin oder Tischlerin einzugehen. Das ist nicht einfach durch höhere Löhne zu schaffen, denn abgesehen von der Pflege und der Gastronomie zahlen die Branchen mit Personalmangel überdurchschnittlich gut.
Kinder als Zäsur
Was hält Frauen vom Arbeitsmarkt fern? Oftmals gar nichts. Vielerorts mangelt es nicht an weiblichen Arbeitskräften, sondern an weiblicher Arbeitsleistung. In den letzten Jahrzehnten ist die Beschäftigung stetig gestiegen, hauptsächlich weil der Frauenanteil in der Arbeitswelt zunimmt. Fast die gesamte zusätzliche Beschäftigung der letzten 25 Jahre entfällt jedoch auf Teilzeit.
Wäre der Anteil von Frauen, die Vollzeit arbeiten, so hoch wie bei den Männern, entspricht das einem Arbeitspensum von 750.000 Vollzeitstellen. Würde jede Frau in Teilzeit zehn Stunden mehr arbeiten, brächte das etwa 7,5 Millionen Arbeitsstunden im Jahr mehr. Rein rechnerisch könnten bereits aktive weibliche Arbeitskräfte die Fachkräftelücke füllen.
Zahlen & Fakten
Die Entscheidung, in Teilzeit zu arbeiten, hängt vor allem mit der Kinderbetreuung zusammen. Zu einer überwiegenden Mehrheit übernimmt das die Frau. Engagierten sich Männer mehr bei der Kinderbetreuung, verbesserte das zwar die Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, aber den Fachkräftemangel würde das vermutlich verschärfen, da es den erwähnten Männerüberhang in den betroffenen Branchen gibt.
Betreuung als Engpass
Ob und wie viele Wochenstunden Eltern arbeiten, ist eine Entscheidung, die auch mit dem vorhandenen Betreuungsangebot und dessen Kosten zusammenhängt. Außerhalb von Wien und dem Burgenland müssen Eltern für den Kindergarten zahlen. In Tirol entfallen immerhin die Beiträge ab dem dritten Lebensalter.
Vor allem in ländlichen Regionen gibt es kaum Angebote an Ganztagsbetreuung für Kleinkinder. In Oberösterreich, Heimat vieler Industriebetriebe, die unter Fachkräftemangel ächzen, bietet nur einer von fünf Kindergärten eine volle Nachmittagsbetreuung. Das Resultat ist klar: Österreichweit waren im Jahr 2020 nur 21 Prozent der Unter-Dreijährigen in Betreuung, im EU-Schnitt waren es 36 Prozent. Von den betroffenen Kindern waren nur acht Prozent für 30 Stunden oder mehr pro Woche in Betreuung.
Zahlen & Fakten
Für Eltern stellt sich somit selten die Frage, ob beide eine Karriere mit 30 Wochenstunden oder mehr verfolgen wollen, sondern nur, wer von beiden das macht.
Dabei hätte der Ausbau von Kindergärten und anderen Betreuungseinrichtungen positive wirtschaftliche Folgen. Daten aus Deutschland zeigen, dass zehn Prozent zusätzliche Betreuungsplätze die Erwerbsquote von Frauen um gut drei Prozentpunkte erhöhten. Großteils arbeiteten Frauen dann 30 Wochenstunden oder mehr. Längere Öffnungszeiten führten auch dazu, dass mehr Frauen länger arbeiteten.
Weil in Folge Einkommen steigen und gleichzeitig weniger Sozialleistungen beansprucht werden müssen, finanziert sich der Ausbau zu mindestens zwei Drittel selbst. Die reine Erweiterung der Öffnungszeiten ohne zusätzliche Plätze finanziert sich fast gänzlich selbst. Längerfristig wächst der gesellschaftliche Wohlstand, weil sich freigespielte Eltern besser ausbilden und mehr arbeiten.
Rein rechnerisch könnten bereits aktive weibliche Arbeitskräfte die Fachkräftelücke füllen.
Klassische Rollenbilder und die Ablehnung von Fremdbetreuung sind in Österreich stärker ausgeprägt als in Ländern wie Dänemark und Frankreich, aber auch in Deutschland. Gleichzeitig gibt es aus rein finanzieller Sicht für junge Familien mitunter gute Gründe dafür, wenn die Frau nach der Geburt ihre Arbeitszeit reduziert oder den Job aufgibt – zumal es häufiger Männer sind, die besser verdienen. Die Gender-Pay-Gap wird durch Mutterschaft einzementiert. Je mehr Frauen ihre Arbeitszeit reduzieren und je länger sie in Karenz sind, desto weniger Gehalt und Beförderungen erhalten sie.
Neues Karenzmodell
Um die Kalkulationen von Jungeltern zu beeinflussen, könnte das jetzige System des Kinderbetreuungsgeldes adaptiert werden. Derzeit müssen sich Eltern während der Kinderbetreuung zwischen einem Betrag, der sich am jeweiligen Gehalt bemisst (bis 14 Monate Karenz möglich) und einem Pauschalbetrag (ab 14 Monaten Karenz möglich) entscheiden. Außerdem gibt es eine niedrige Zuverdienstgrenze während der Karenz. Wie wirkt sich das aus?
Ein hypothetisches Beispiel: Hannes ist 33 Jahre alt und soeben stolzer Papa geworden, stolze Mama Marie ist 28. Beide sind im Informatikbereich tätig. Hannes arbeitet schon länger in seinem Betrieb und verdient besser als seine Partnerin. Eigentlich will das junge Paar nach 18 Monaten ihr Kind in den Kindergarten geben und davor die Karenzzeit gleich aufteilen. Das würde aber bedeuten, dass dem Haushalt in jedem Monat, den Hannes in Karenz ist, doppelt so viel Einkommen entgeht, wie bei Marie.
Außerdem ist es für die Karriere von Nachteil, über ein halbes Jahr gar nicht in der Firma zu sein, Hannes steht kurz vor einer Beförderung. Also entscheidet sich das Paar, dass Marie die volle Karenzzeit beim Kind bleibt und danach mit ihrer Karriere erst richtig beginnt. Knapp vor Ende der Karenz wurde Hannes zum Teamleiter befördert, er verdient mehr, muss aber lange Stunden arbeiten. Weil nun die Familie finanziell abgesichert ist und ihr Partner seltener zu Hause sein kann, entschließt sich Marie für eine Teilzeitstelle. Der Wirtschaft entgeht eine halbe Informatikerin und die Pay Gap wurde einzementiert.
Angenommen, Hannes hätte das gehaltsabhängige Kinderbetreuungsgeld in den neun Monaten seiner Karenz beziehen dürfen und Marie hätte in ihren neun Monaten den Pauschalbetrag erhalten, und angenommen, Hannes hätte auch während der Karenz zehn Stunden im Betrieb arbeiten dürfen, während Marie zunächst mit 30 Stunden wieder in den Beruf eingestiegen wäre – in dem Fall wäre das Paar viel besser über die Runden gekommen. Der Einschnitt in Hannes‘ Karriere wäre durch die regelmäßige Präsenz im Büro weniger gravierend und Marie hätte ihre Karriere weniger als ein Jahr ausgesetzt. Nach der Karenzzeit arbeiten beide Vollzeit.
In der Praxis gibt es etliche Gründe, warum sich junge Paare für das ein oder andere Karenzmodell entscheiden. Aber die bestehenden finanziellen Anreize könnten dahingehend verbessert werden, dass sich beide Partner die Betreuungszeit gleichmäßiger aufteilen. Das würde die Beschäftigung von Frauen fördern und den Fachkräftemangel lindern.
Karriere als Geschmackssache
Neben dem institutionellen Rahmen, der es allen Menschen ermöglicht, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, müssten Frauen auch motiviert sein, in jene Branchen einzusteigen, wo Fachkräfte dringend gebraucht werden. Die Präferenzen gehen bei den Geschlechtern auseinander. Frauen entscheiden sich schon bei der Ausbildung gegen technische Berufe und Handwerk. Weniger als ein Viertel der MINT-Studierenden in Österreich sind weiblich. Unter Handwerkslehrlingen sind nur ein Fünftel Mädchen.
Bei der Berufswahl stößt die Forschung auf ein Paradox: In Ländern wie dem Iran oder Ägypten, aber auch in Osteuropa ist der Anteil von Frauen in MINT-Berufen und im Handwerk höher als in Ländern Westeuropas mit ausgeprägtem Wohlfahrtsstaat und stärker verankerter Gleichberechtigung. Beispielsweise schneidet die Türkei im Gleichberechtigungsindex des World Economic Forum als eines der Schlusslichter ab. Von den Türkinnen, die studieren, schließen immerhin 35 Prozent ein MINT-Fach ab, einer der Spitzenwerte. Umgekehrt, im egalitären Finnland oder Norwegen, sind es gut 20 Prozent der Studentinnen, die ein MINT-Fach beenden.
Affinitäten für Studienfächer sind nicht in Stein gemeißelt.
Die Hypothese lautet, dass Frauen in Ländern mit geringerem sozialen Sicherheitsnetz eher ein Studium wählen müssen, das ihnen ein besseres Einkommen verspricht. Im Vergleich dazu ist es in Österreich oder Deutschland weniger riskant, etwa Kulturwissenschaften zu studieren, auch wenn Informatiker bessere Jobperspektiven haben.
Der Befund spricht auch dafür, dass Frauen sich schlicht weniger für den MINT-Bereich und Handwerk interessieren als für andere Fächer. Affinitäten für Studienfächer sind aber nicht in Stein gemeißelt. Einfluss haben etwa positive Rollenbilder. Studien zeigen, dass Mädchen, die Mathelehrerinnen hatten, auch häufiger Mathematik studieren. Pionierinnen haben es immer schwer; ausgetretenen Pfaden zu folgen fällt leichter.
Doch junge Frauen für ein Handwerk oder MINT-Fächer zu begeistern kann an der Gesamtsituation wenig ändern, solange Beruf und Familie nicht für beide Partner vereinbar sind. Die Familienpolitik ist gefragt.
Conclusio
Länder wie Österreich, Deutschland und die Schweiz beklagen seit Jahren den akuter werdenden Fachkräftemangel. Problematisch ist, dass Branchen mit Männerüberhang stärker betroffen sind. Dabei werden viele Talente in der Gesellschaft nicht voll ausgeschöpft: Wäre der Anteil von Frauen, die Vollzeit arbeiten, so hoch wie bei den Männern, entspräche das einem zusätzlichen Arbeitspensum von 750.000 Vollzeitstellen – ein Vielfaches der derzeit ausgeschriebenen Jobs. Die hohe Teilzeitquote unter Frauen liegt vor allem daran, dass in Jungfamilien vielerorts nicht beide Eltern eine Karriere mit 30 Stunden oder mehr pro Woche verfolgen können, weil das Betreuungsangebot für den Nachwuchs fehlt. Ein Ausbau der Kindergärten würde sich gesamtwirtschaftlich betrachtet selbst finanzieren.