Gesucht: eine XX-Person

Quoten machen Frauen zu gesichtslosen Vertretern ihres Geschlechterkollektivs. Das schadet den Frauen.

17. September 2024, Frankreich, Straßburg: Ursula von der Leyen stellt die neue Kommission ihrer zweiten Präsidentschaft vor. Das Bild illustriert einen Artikel darüber, warum die Frauenquote vor allem Frauen schadet.
17. September 2024, Frankreich, Straßburg: Ursula von der Leyen stellt die neue Kommission ihrer zweiten Präsidentschaft vor. © Getty Images

„Wir brauchen eine Frau“: Jeder, der schon einmal in einem Gremium saß, das Kandidaten für politische Ämter oder Mandate aufstellen soll, kennt diese Aussage. Auf den vorderen Plätzen gab es noch viele starke Kandidaten aus eigener Kraft, Frauen und Männer, da spielte das Geschlecht kaum eine Rolle. Auch eben, als es um Platz 17 der Liste für die kommunale Kammer ging, wurde noch über die Vorzüge einzelner Persönlichkeiten gesprochen; ob Alex, der schon seit vielen Jahren im Gemeinderat sitzt, kompetenter ist oder ob Stefan wegen seiner Bekanntheit als Vorsitzender eines Sportvereins vielleicht eher gewählt wird. Aber jetzt sind wir bei Platz 18, der aufgrund der paritätischen Quote einer Kandidatin zusteht, und plötzlich heißt es nur noch: Wir brauchen eine Frau.

Und da nach einer solchen oft händeringend gesucht wird, kommt es dann auf Persönlichkeit, Kompetenz oder Erfahrung nicht mehr allzu sehr an. Frausein reicht. Dass dies so ist, notwendigerweise so sein muss, liegt in banalen statistischen Gesetzmäßigkeiten begründet: Frauen engagieren sich seltener in Parteien, bis auf wenige Ausnahmen ist dies ein weltweites Phänomen in Demokratien.

50-Prozent-Quoten führen daher dazu, dass Kandidaten aus wesentlich größeren Pools ausgewählt werden können als Kandidatinnen. Dies bedeutet automatisch, dass die Anforderungen an Frauen wegen der geringeren Konkurrenz niedriger sind. Und jedes Mal, wenn ich ein solches Auswahlverfahren miterlebe, frage ich mich, ob wir Frauen ernsthaft glauben, uns damit einen Gefallen zu tun.

Die Frauenquote in der EU-Kommission

Bei der EU-Kommission scheint es ähnlich abgelaufen zu sein. Eine paritätisch besetzte Kommission hatte Ursula von der Leyen nach ihrer Wahl zur Präsidentin kraftvoll angekündigt. In der derzeitigen anspruchsvollen weltpolitischen Lage hätte man ja auch auf die Idee kommen können, die Mitgliedsländer zu bitten, möglichst ökonomisch oder geopolitisch erfahrene Kandidaten zu nominieren. Aber wieder wurde ein Merkmal, dessen Bedeutung wir doch angeblich überwinden wollen, zum entscheidenden gemacht – das Geschlecht.

Die europäische Öffentlichkeit ließ sich bereitwillig auf die Logik ein, und so wurden in der Berichterstattung die Kandidatinnen für die neue Kommission zu gesichtslosen Trägerinnen ihrer XX-Geschlechtschromosomen (so progressiv wie Österreich, wo das Bundes-Gleichbehandlungsgesetz jetzt so geändert wurde, dass neben dem biologischen Geschlecht genauso die „innerlich gefühlte Geschlechtsidentität“ zählt, ist man auf EU-Ebene noch nicht), während die Männer für Inhalte stehen durften: „Fünf Frauen, ein Liberaler und ein extrem Rechter“, titelte etwa der Spiegel zur Besetzung des Präsidiums der Kommission, „Starke Frauen und Mammutaufgabe Migration für Österreich“, schrieb der Kurier und „40 Prozent Frauen und Italiener Fitto: Von der Leyen präsentiert designierte EU-Kommissare“, die Berliner Zeitung.

Geschlecht ist nicht alles

Egal wie man im Detail Quoten begründet: Man wird eine Sichtweise, die das einzelne Individuum primär als Vertreter seines Geschlechtskollektivs wahrnimmt, nicht los. Und man muss, um wenigstens einigermaßen schlüssig zu argumentieren, unterschiedliche Präferenzen der Geschlechter leugnen. Denn nur so lassen sich paritätische 50:50-Quoten begründen; man muss behaupten, dass die Geschlechter in ihren Kompetenzen und Präferenzen „eigentlich“ gleich seien.

Bedauerlicherweise halten sich in der Realität aber doch recht hartnäckig deutliche Unterschiede im Verhalten der Geschlechter – sei es bei den Kriterien der Berufs- oder Partnerwahl, bei den Prioritäten, die beruflichen und familiären Erfordernissen eingeräumt werden, oder eben beim Engagement in Parteien. Dies wird in dieser Denke, die sich einfach nicht vorstellen mag, dass Frauen und Männer unterschiedliche Vorstellungen von einem guten Leben haben könnten, regelmäßig auf gesellschaftliche Strukturen zurückgeführt. Das sind dann die berühmten „veralteten Denkmuster“, „gläsernen Decken“ und „strukturellen Barrieren“, die Männer und Frauen davon abhielten, „Rollenklischees aufzusprengen“, gleichermaßen Führungspositionen anzustreben oder ihr Familienleben „partnerschaftlich“ zu organisieren.

Warum hört man eigentlich keine Forderungen nach Geschlechterparität bei Kanalarbeitern oder bei der Müllabfuhr?

Dabei ist auffällig, dass der Blick auf ungleiche Geschlechterverhältnisse seine ausgeprägten blinden Flecken hat. In politischen und ökonomischen Führungspositionen gehört die Forderung nach einer paritätischen Besetzung inzwischen zum guten Ton des sich fortschrittlich wähnenden Manufactum-Bürgertums, aber warum nicht auch unter den Kanalarbeitern oder bei der Müllabfuhr?

Mehr als 90 Prozent der tödlichen Arbeitsunfälle in Deutschland ereilen Männer. Zu solchen Geschlechterungerechtigkeiten höre ich aus feministischen Kreisen fast nichts. Auch die Überzeugung, dass das Geschlecht die alles dominierende Kategorie sei, scheint mir im Feminismus extrem wirkmächtig zu sein. Sonst ließe sich eine Quote, die ausschließlich auf dieses Merkmal rekurriert, kaum erklären.

Wählen und wählen lassen

Meiner Lebenswirklichkeit entspricht das nicht. Mich verbindet mit einem Mann, der kleine Kinder und einen ähnlichen akademischen Hintergrund hat, wesentlich mehr als mit der ungelernten Gelegenheitsjobberin oder der kinderlosen Professorin für Genderforschung. Sollten alle drei für ein Mandat kandidieren, würde ich, ohne mit der Wimper zu zucken, den oben erwähnten Mann wählen, weil ich bei ihm am ehesten die Hoffnung hätte, dass er meine Interessen vertritt. Denn Geschlecht ist nicht alles, es gibt andere soziale Merkmale, die die Sicht auf die Welt mindestens ebenso beeinflussen, Bildung und Alter natürlich, aber auch der ethnische oder religiöse Hintergrund. Wollte man eine angemessene Repräsentanz all dieser Merkmale in unseren politischen Gremien erreichen, könnten wir uns freie Wahlen komplett schenken.

Daher gehen demokratische Staatswesen einen anderen Weg: Sie überlassen die Frage, welche sozialen Gruppen in unseren Parlamenten wie vertreten sein sollen, dem mündigen Bürger. Er kann wählen und sich wählen lassen. Eine höhere Form demokratischer Legitimität gibt es nicht.

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