Friede braucht Geduld

Das Sterben auf dem Schlachtfeld soll möglichst rasch enden. Doch übereilte Friedensverhandlungen können den Grundstein für weitere Kriege legen.

Auf einer mit KI generierten fotorealistischen Illustration zeigt sich gegenübersitzende Staatsmänner an einem Tisch. Das Bild illustriert einen Beitrag über Krieg und Frieden.
Wenn Kriegsparteien keine Möglichkeit zur Durchsetzung ihres politischen Willens mehr sehen, müssen sie nach einem Kompromiss suchen. Dabei müssen sie, um einen Waffenstillstand aushandeln zu können, Abstriche machen, die sie ihrer Bevölkerung und ihren Soldaten nicht erklären können. © AI-Artist / Florence Wibowo
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Auf den Punkt gebracht

  • Kein Blitzkrieg. Der Ukrainekrieg ist ein Abnutzungs- und Erschöpfungskrieg, in dem am Ende Ressourcen und Opferbereitschaft den Ausschlag geben werden.
  • Parallele Welten. Friedensverhandlungen und anhaltende Kämpfe sind keine Gegensätze, sondern können durchaus Hand in Hand gehen.
  • Game-Changer. Russland und die Ukraine sind auf die Vermittlung eines Dritten angewiesen, der bislang neutral war.
  • Wendepunkt US-Wahlen. Verhandlungen werden erst nach den US-Wahlen möglich sein, da vorher nicht feststeht, ob die USA weiterhin zur Ukraine stehen werden.

Als der russische Präsident Putin am 24. Februar 2022 die Ukraine angreifen ließ, ging kaum einer der Kommentatoren des Geschehens davon aus, dass der Krieg lange dauern würde. Und das nicht nur, weil man die Fähigkeiten der russischen Streitkräfte für deutlich höher einschätzte, als sie tatsächlich waren. Es konnte sich auch keiner vorstellen, dass in Europa noch einmal ein klassischer, zwischenstaatlicher Krieg stattfinden würde. 

Inzwischen hat sich das militärische Kräftemessen zu einem aus Elementen des Ersten und Zweiten Weltkriegs gemischten Krieg entwickelt: Der Kampf an der Front ähnelt dem Ersten, der in der Luft dem Zweiten Weltkrieg. Statt eines nach den Vorgaben der Niederwerfungsstrategie geführten „Blitzkriegs“, wie ihn die russische Führung wohl geplant hatte, entwickelte sich ein Abnutzungs- und Erschöpfungskrieg, in dem am Schluss die Verfügbarkeit von Ressourcen und der Durchhaltewille mitsamt Opferbereitschaft der Bevölkerung den Ausschlag geben werden.

Im Prinzip wäre Russland in einem solchen Erschöpfungskrieg eindeutig überlegen gewesen. Vermutlich hätte Russland die Ukraine auch längst zur Kapitulation gezwungen, wenn nicht „der Westen“, insbesondere die USA und die Europäer, der Ukraine zu Hilfe gekommen wäre und sie mit wirtschaftlicher und finanzieller Unterstützung, vor allem aber mit massiven Waffen- und Munitionslieferungen über Wasser gehalten hätte. 

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Zahlen & Fakten

In den ersten Wochen des Krieges durchkreuzten das Militär und die Bevölkerung der Ukraine die Pläne des Kremls und dessen Erwartung eines schnellen Sieges. Anschließend sorgte dafür die NATO, indem sie den erklärten Willen der ukrainischen Bevölkerung zur politischen Selbstbehauptung mit den dafür erforderlichen Fähigkeiten ausstattete. Zunächst war das getragen von der Vorstellung, Putin zum baldigen Einlenken zwingen oder die Ukraine zur Rückeroberung des von den Russen besetzten ukrainischen Gebiets befähigen zu können, um dann Verhandlungen „auf Augenhöhe“ zu ermöglichen. 

Auch daraus ist nichts geworden: Weder hat Putin eingelenkt, noch konnte die ukrainische Gegenoffensive bisher durchschlagende Erfolge erzielen. An der Front ist eine Pattsituation entstanden, während die russische Militärführung ihre Luftüberlegenheit nutzt, um die Infrastruktur der Ukraine und deren wirtschaftliche Potenziale zu zerstören. Ist das der Augenblick, in dem Verhandlungen über einen Waffenstillstand politisch erfolgversprechend wären?

Kaum Chancen für Friedensverhandlungen

Um diese Frage zu beantworten, hilft ein Blick in die Geschichte. Wie wurden frühere Kriege beendet, und wie lange hatte ein Frieden Bestand? Der Blick zurück wurde seitens der einschlägigen akademischen Disziplinen während der letzten Jahrzehnte kaum geübt. Dementsprechend stochert die Politik jetzt mit der Stange im Nebel. Das zeigt sich vorzugsweise darin, dass vor allem moralisch oder völkerrechtlich argumentiert wird, wenn es um die Beendigung des Krieges geht. Aber bislang haben diese Appelle den Mann im Kreml nicht erreicht. Und es spricht alles dafür, dass sie auch zukünftig an ihm abprallen werden.

Lässt man die letzten Jahrhunderte der Kriegsgeschichte Revue passieren, so ist zu unterscheiden zwischen einem Kriegsende auf der Grundlage von Sieg und Niederlage und einem, bei dem beide Seiten keine Möglichkeit zur Durchsetzung ihres politischen Willens mehr gesehen haben und deswegen nach einem Kompromiss zu suchen bereit waren. 

Als Faustregel lässt sich festhalten, dass so vereinbarte Waffenstillstände, die dann in Friedensverhandlungen überführt wurden, umso leichter möglich waren, je kürzer der vorherige Krieg gedauert hatte und je geringer die von beiden Seiten gebrachten Opfer waren. Dagegen stehen vermeintlich greifbare Siege und hohe Opferzahlen der Aufnahme von Friedensverhandlungen meist im Weg. Die militärische (und oft auch die politische) Führung verspricht in solchen Fällen gerne, dass es nur darum gehe, noch ein wenig durchzuhalten, dann werde sich der militärische Erfolg schon noch einstellen; jetzt seien Geduld und Zuversicht gefordert. Und natürlich gibt es auch den Verweis auf die bis dahin im Krieg Gefallenen, deren Opfer nicht vergebens gewesen sein dürfe; ihr Opfer wird zur Pflicht stilisiert, bis zum Sieg weiterzukämpfen. Dieses Argument kommt meist aus der Gesellschaft und spricht ebenfalls gegen ein Verhandlungsangebot. Beides zeigt sich zurzeit auf russischer, aber auch auf ukrainischer Seite, für die ein politisch aussichtsreiches Verhandlungsangebot vorerst auf territoriale Verzichte hinauslaufen würde.

Friedensschluss als Ursache neuer Kriege

Über die Beendigung von Kriegen, die nach einer kurzen Zeit der Kämpfe einen eindeutigen Sieger kennen, muss man nicht lange nachdenken: Der Sieger diktiert hier die Bedingungen, und wenn er keine großen Verluste hinnehmen musste, kann er sich einen Frieden leisten, der dem Verlierer keine allzu großen Zugeständnisse abverlangt. Bismarck war in Europa der letzte Kriegsherr, der seine Politik auf solche Friedensschlüsse gründen konnte.

Auch der Erste Weltkrieg hätte im Oktober/November 1914, als die Offensivstrategien aller beteiligten Mächte gescheitert waren, auf diese Art beendet werden können. Der deutsche Generalstabschef Erich von Falkenhayn erklärte damals gegenüber Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, das Beste, was für die Mittelmächte herauskommen könne, sei eine Partie remise – aber er wusste nicht, wie man die Gegenseite zur Einwilligung in ein solches „Unentschieden“ bewegen könne. 

Die Gegenseite, Frankreich, Russland und Großbritannien, setzte hingegen weiterhin auf Sieg, weil sie davon überzeugt war, dass ihr auf längere Sicht die größeren Reserven zur Verfügung stünden. Und der deutsche Reichskanzler wiederum hatte keine Antwort auf die Frage, wie er der deutschen Öffentlichkeit erklären sollte, warum man in ein Patt einwilligte, wo doch die eigenen Truppen tief in Feindesland standen. Also ging der Krieg vier endlose Jahre lang weiter. Als er beendet wurde, war das Ergebnis eine politische Ordnung mit einer Reihe von revisionistischen Mächten, und so wurde der Friedensschluss zur Ursache neuer Kriege, die schließlich in den Zweiten Weltkrieg führten. Die Pariser Friedensordnung ist das Paradigma eines gescheiterten Friedensschlusses.

Kämpfen und Friedensverhandlungen

Anders lief es Mitte des 17. Jahrhunderts in Münster und Osnabrück, wo man in vierjährigen Verhandlungen den Dreißigjährigen Krieg beendete. Eigentlich dauerten die Verhandlungen sogar länger als vier Jahre, denn die Gespräche über einen Präliminarfrieden hatten bereits 1640 in Hamburg stattgefunden, aber dann dauerte es zunächst vier Jahre, um sich auf den Ort der Verhandlungen und die Anzahl der Einzuladenden zu einigen. Einen landesweiten Waffenstillstand hatte man für die Phase der Verhandlungen nicht vereinbart, sondern nur eine Waffenruhe im Raum von Münster und Osnabrück. Demgemäß schauten die Verhandler dort immer wieder auf die Schlachtfelder, von wo sie Signale der Stärke erhofften, die sie bei den Verhandlungen ausspielen wollten. Erst nach den schweren Niederlagen von Jankau und Zusmarshausen und dem erfolgreichen Vorstoß der Schweden auf Prag war die kaiserliche Seite zur Unterschrift bereit. 

Auf einer mit KI generierten fotorealistischen Illustration sind Soldaten auf einem Schlachtfeld zu sehen. Das Bild illustriert einen Beitrag über Krieg und Frieden.
Anhaltende Kämpfe auf dem Schlachtfeld und Friedensverhandlungen können durchaus Hand in Hand gehen. So geschehen Mitte des 17. Jahrhunderts in Münster und Osnabrück, wo man in Verhandlungen den Dreißigjährigen Krieg beendete. Einen landesweiten Waffenstillstand hatte man für die Phase der Verhandlungen nicht vereinbart. © AI-Artist / Florence Wibowo

Verhandeln und Kämpfen sind also keineswegs Gegensätze, wie einige mit Blick auf den Ukrainekrieg meinen, sondern können bei der Beendigung von Kriegen durchaus Hand in Hand gehen. Das war auch Anfang der 1970er-Jahre beim Vietnamkrieg so. Einiges spricht dafür, dass es beim Krieg in der Ukraine ebenso sein wird.

Putin und Selenskyj stecken in demselben Dilemma, in dem sich die Teilnehmer des Ersten Weltkriegs zum Jahreswechsel 1914/15 befanden: Sie müssten, um einen Waffenstillstand aushandeln zu können, Abstriche machen, die sie ihrer Bevölkerung und ihren Soldaten nicht erklären können. Kaum denkbar, dass der russische Präsident ein Zurückweichen auf die Grenzen der Ukraine vor dem 24. Februar 2022 politisch überleben würde. Und auch umgekehrt ist schwer vorstellbar, wie der ukrainische Präsident einen Friedensschluss ohne Rückzug der Russen auf die Grenzen vor Beginn des Angriffs akzeptieren könnte.

Der Krieg wird weitergehen

Beide Seiten sind im Prinzip auf die Vermittlung eines mächtigen Dritten angewiesen, auf eine Macht, die bislang neutral war und deren Eingreifen zum Game-Changer werden könnte. Doch diesen „Dritten“ gibt es nicht, weil alle potenziellen „Dritten“ bereits Partei sind. Das alles spricht dafür, dass der Krieg in der Ukraine vorerst weitergehen wird – jedenfalls so lange, wie keine der beiden Seiten aus Gründen der Erschöpfung nicht mehr weiterkämpfen kann. Man darf davon ausgehen, dass aussichtsreiche Waffenstillstandsverhandlungen erst nach den US-Präsidentschaftswahlen möglich sind. Erst dann nämlich weiß Putin, ob die USA als Vormacht des Westens weiterhin zur Ukraine stehen werden.

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Conclusio

Kriege enden durch Sieg und Niederlage oder einen Kompromiss von beiden Seiten. Friedensverhandlungen und anhaltende Kämpfe schließen einander nicht aus, sondern können bei der Beendigung von Kriegen durchaus Hand in Hand gehen. Und einiges spricht dafür, dass es beim Krieg in der Ukraine ebenso sein wird. Allerdings stecken Putin und Selenskyj im selben Dilemma: Sie müssten für einen schnellen Waffenstillstand Abstriche machen, die sie ihrer Bevölkerung und ihren Soldaten nicht erklären können. Beide Seiten sind auf die Vermittlung eines mächtigen, neutralen Dritten angewiesen. Doch diesen „Dritten“ gibt es nicht, weil alle potenziellen „Dritten“ bereits Partei sind. Das alles spricht dafür, dass der Krieg in der Ukraine vorerst weitergehen wird.

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