Putins Krieg gegen Europa

Der Unterschied zu den Jugoslawienkriegen macht die Dimension des russischen Überfalls auf die Ukraine deutlich.

Die Illustration zeigt Wladimir Wladimirowitsch Putin, der in einem prunkvollen Raum steht und in den Spiegel schaut. Das Spiegelbild zeigt Josip Broz Tito.
Josip Broz Tito herrschte von 1945 bis 1980 über Jugoslawien, zunächst als Regierungschef, ab 1953 als Staatspräsident. Wladimir Wladimirowitsch Putin ist in Russland seit 1999 an der Macht. © Pablo Vidal
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Auf den Punkt gebracht

  • Neue Weltordnung. Die Jugoslawienkriege lösten die erste militärische Intervention der NATO aus, stellten jedoch keine existenzielle Bedrohung für den Westen dar.
  • Weltpolitische Rolle. Anders als in den Jugoslawienkriegen muss der Westen im Ukrainekonflikt seine Rolle in der Weltpolitik verteidigen.
  • Putins Identitätspanik. Während die Jugoslawienkriege in erster Linie Territorialkriege waren, ist Putins Überfall vielmehr ein Krieg gegen die Identität.
  • Europäische Überlebensfrage. Der militärische Erfolg der Ukraine kann für die Stärkung der europäischen Einheit entscheidend sein.

Imperien gehen nicht plötzlich unter. Es dauert lange, bis sie sterben, und nach ihrem Tod neigen sie dazu, wieder aus dem Grab zu steigen. Was sich auf den Schlachtfeldern der Ukraine abspielt, ist der Tod des letzten europäischen Imperiums. Die Gespenster des Imperialismus, des Antiimperialismus und des Postnationalismus suchen Europa gleichzeitig heim. In diesem Zusammenhang ist es von besonderer Bedeutung, in den Spiegel Jugoslawiens zu blicken, wenn wir sehen wollen, wie der gegenwärtige Krieg die neue politische Identität der EU formt.

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Der dritte Weg

Titos Jugoslawien war ein Produkt des Kalten Krieges. Es war ein sozialistisches Land, das sich vom Sowjetblock fernhielt: eine halboffene Planwirtschaft und eine halbdemokratische Diktatur. Jugoslawien war das Aushängeschild für einen „dritten Weg“ zwischen Kommunismus und Kapitalismus und ein Beispiel für eine multiethnische Föderation. Es war ein seltsames Mini-Reich, in dem keine Republik groß genug war, um die anderen zu dominieren, aber viele fühlten sich dominiert. Und die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Republiken waren mit bloßem Auge sichtbar.

An dem Tag, als die Berliner Mauer fiel, war die Mehrheit der westlichen Analysten davon überzeugt, dass Jugoslawien jener osteuropäische Staat war, der am besten geeignet sei, der europäischen Gemeinschaft beizutreten.

Es kam anders: Jugoslawien hat das Ende des Kalten Krieges nicht überlebt. Zwischen 1991 und 1999 wurden Hunderttausende Bosnier, Kroaten, Serben und Albaner von ihren Mitbürgern getötet, vergewaltigt oder gefoltert. Millionen von Überlebenden haben die Region seitdem verlassen, und die jugoslawische Identität selbst hat nur außerhalb der Grenzen des ehemaligen Staatsgebiets überlebt.

Eine neue Weltordnung

Und während Europäer und Amerikaner schockiert waren, Zeugen eines großen militärischen Konflikts auf dem alten Kontinent zu sein, interpretierten sie die Feindseligkeiten schnell als Gespenst aus einer Vergangenheit, in der historischer Hass und barbarische Instinkte tief in der dunklen Peripherie des Kontinents verwurzelt waren.

Die blutige Auflösung Jugoslawiens wurde mit der „samtenen Scheidung“ der Tschechoslowakei verglichen. Es gebe keinen Grund für eine europäische Panik, so das Argument, denn was auf dem Balkan geschehe, habe seinen Ursprung in der Geschichte des Balkans und werde auf dem Balkan bleiben. Die Jugoslawienkriege lösten die erste militärische Intervention der NATO in der Geschichte des Bündnisses aus, aber die Kriege stellten nie eine existenzielle Bedrohung für den Westen dar. Die Lehre, die Amerikaner und Europäer aus diesem Konflikt gezogen haben, ist die Notwendigkeit einer europäischen Ordnung für die Ära nach dem Kalten Krieg – als globale Ordnung, die auf anderen Grundsätzen basiert.

Die Zerstörung ebendieser internationalen Ordnung, getragen von der amerikanischen Militärmacht und der Attraktivität der EU, ist eines der Hauptziele von Putins Krieg in der Ukraine. Der russische Außenminister Sergej Lawrow erklärte bei seinem Besuch in der Türkei im April: „Friedensverhandlungen über die Ukraine sind nur möglich, wenn sie auf die Schaffung einer ‚neuen Weltordnung‘ ohne US-Vorherrschaft abzielen.“

In Putins Augen sollte die auf dem Balkan geborene liberale, internationale Ordnung, in der die Rechte des Einzelnen über die Rechte des souveränen Staates gestellt werden, in der Ukraine begraben werden.

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Zahlen & Fakten

Zerfallene Imperien

Aus der ehemaligen Sowjetunion sind fünfzehn Staaten hervorgegangen. Das Gebiet von Titos Jugoslawien teilen sich nach blutigen Kriegen heute sieben Länder.

Sowjetunion

1992 entstanden auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion fünfzehn neue unabhängige Staaten. Zwölf davon haben sich in der GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) zu einem gemeinsamen Wirtschafts- und Sicherheitsraum zusammengeschlossen. Estland, Lettland und Litauen traten 2004 der EU bei.

Die illustrierte Karte zeigt zwölf GUS Staaten, die auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion entstanden sind.
Auf der Karte: Die zwölf GUS Staaten, die auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion entstanden sind. © Der Pragmaticus

Jugoslawien

Die Jugoslawienkriege in den 1990er-Jahren zogen sich über das ganze Jahrzehnt. Sie forderten rund 200.000 Tote, mehrere Millionen Menschen wurden vertrieben. Seit 2008 gelten alle Nachfolgestaaten Jugoslawiens als EUBeitrittskandidaten, Slowenien und Kroatien haben diesen Schritt bereits vollzogen.

Die illustrierte Karte zeigt die Nachfolgestaaten Jugoslawiens.
Auf der Karte: Die Nachfolgestaaten Jugoslawiens. © Der Pragmaticus

Krieg gegen Europa

Um zu verstehen, warum der Krieg in der Ukraine kein Krieg in Europa, sondern ein Krieg gegen Europa ist, ist es hilfreich, die Unterschiede zu den Jugoslawienkriegen in den 1990er-Jahren zu skizzieren.

Sicherlich sind beide Kriege große menschliche Tragödien, und beide haben das Selbstverständnis und die politische Identität der EU neu geprägt, aber ihre jeweiligen Auswirkungen sind sehr unterschiedlich. Sie unterscheiden sich durch ihr Ausmaß, ihren politischen Charakter und ihre Auswirkungen auf die Zukunft Europas.

Die Jugoslawienkriege waren lokale Kriege, das heißt, es bestand nicht die Gefahr eines gefährlichen Übergreifens. Während die Befürchtung, dass sich das jugoslawische Szenario im postsowjetischen Raum wiederholen könnte Anfang der 1990er-Jahre in den Köpfen der westlichen Staats- und Regierungschefs stets präsent war, war diese Befürchtung am Ende des Jahrhunderts, zum Zeitpunkt des NATO-Kriegs im Kosovo, weitgehend verflogen.

Russlands vollwertiger Krieg in der Ukraine ist ein militärischer Zusammenstoß zwischen einer der Supermächte des Kalten Krieges, einem ständigen Mitglied des UN-Sicherheitsrates, das mit Atomwaffen ausgestattet ist, und einem großen europäischen Staat wie der Ukraine, die der Welt bewiesen hat, dass sie über eine der besten Armeen des Kontinents verfügt. Der Beschuss der Ukraine hat heute die Größenordnung von 1942, doch das Land hält stand. 15 Millionen Ukrainer leben heute nicht mehr dort, wo sie zu Beginn des Krieges gelebt haben. Die europäischen Regierungen haben 65 Milliarden Euro für die Unterstützung der Ukraine und 700 Milliarden Euro für die Entschädigung ihrer eigenen Bevölkerung für die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges (Energie- und andere Subventionen) ausgegeben.

Wille und Fähigkeit

Die Jugoslawienkriege brachen zu einer Zeit aus, als die militärische Macht sowie die politische und wirtschaftliche Überlegenheit des Westens unbestritten waren. Der Krieg war ein Test für den Willen des Westens, Ordnung in das Chaos zu bringen, und nicht für seine Fähigkeit, es zu tun. Die Invasion Russlands in die Ukraine erfolgt zu einer Zeit, in der die Macht des Westens sowohl von China als auch von Russland – aber auch innerhalb des Westens selbst – angefochten wird und in der viele Länder des globalen Südens das Entstehen einer postliberalen, multipolaren Welt begrüßen.

Die Herausforderung für den Westen in diesem Konflikt ist nicht so sehr ein Test seines Willens, sondern der Fähigkeit, seine Prinzipien und seine Rolle in der Weltpolitik zu verteidigen.

Putins Identitätspanik

Die Jugoslawienkriege waren in erster Linie Territorialkriege. Die Führer der Balkanstaaten hegten Träume aus dem neunzehnten Jahrhundert. Slobodan Milošević stellte sich ein Großserbien und die Vereinigung von mehrheitlich von Serben bewohnten Gebieten vor. Der kroatische Präsident Franjo Tuđman träumte von einem Großkroatien. „Warum soll ich in deinem Land eine Minderheit sein, wenn du eine Minderheit in meinem sein kannst“, war die gängige Logik der meisten Politiker in der Region. Ethnische Säuberungen bildeten die zentralen Kriegsstrategien der gegnerischen Parteien. Der Krieg Russlands in der Ukraine ist kein Territorialkrieg. Er ist kein Krieg der Identitäten, sondern ein Krieg gegen die Identität. „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“, der berüchtigte Aufsatz Putins, der im Sommer 2021 veröffentlicht wurde und in dem er behauptet, dass Russen und Ukrainer ein und dasselbe Volk seien, macht deutlich, dass der Kreml die bloße Existenz einer ukrainischen Nation und einer ukrainischen Identität ablehnt. Für Putin sind die Ukrainer Russen, die gezwungen werden sollen, sich als Russen zu sehen. Putins Krieg zielt nicht auf Ausschluss, sondern auf völkermörderischen Einschluss einer Nation.

Ethnische Säuberungen bildeten in Jugoslawien die zentralen Kriegsstrategien der gegnerischen Parteien.

Russlands Krieg in der Ukraine ist ein Beispiel für die Identitätspanik, die in einer Welt entsteht, in der die Menschen ihre eigene Identität frei wählen können und keine Identität als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Es ist eine Welt, in der die Ukrainer entscheiden können, keine Russen zu sein oder mehr noch, antirussisch zu sein. Wer kann – nach Putins Logik – in einer solchen Welt garantieren, dass es im nächsten Jahrhundert überhaupt noch Russen geben wird?

Explosive Mischung

Die russische Invasion ist an einer explosiven Mischung aus demografischen Ängsten und kulturellen Unsicherheiten entflammt. Russlands Krieg hat die Identitätspolitik zum Mittelpunkt der internationalen Beziehungen erhöht und nicht nur die ukrainische und russische Identität, sondern auch die Identität der EU neu gestaltet.

In dem Augenblick, als Russland seinen Überfall auf Kiew startete, wurden die wichtigsten Prämissen angegriffen, auf denen die Europäer ihre Sicherheit aufgebaut hatten. Über Nacht verwandelte sich die wirtschaftliche Verflechtung von einer Quelle der Sicherheit in eine Quelle der Unsicherheit. Dass Europa den größten Teil seines Gases aus Russland bezog, tat Moskaus imperialen Ambitionen nicht nur keinen Abbruch, sondern ermöglichte Putin, Druck auf die europäischen Volkswirtschaften auszuüben.

Überlebt die europäische Einheit?

Konfrontiert mit Russlands Aggression, wurden die Europäer zur Erkenntnis gezwungen, dass ihr jahrelanger Unwillen, in ihre militärischen Möglichkeiten zu investieren, sie gefährdet hat und dass Europa in Bezug auf seine Sicherheit völlig abhängig von den USA geworden ist. Am Tag des Kriegsbeginns hatten die Ukrainer Artilleriegranaten für sechs Wochen – Deutschland für zwei Tage.

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat zumindest vorübergehend dazu beigetragen, die postimperiale Identität des europäischen Westens und die antiimperiale Identität des europäischen Ostens miteinander zu versöhnen. Um die Souveränität und die Werte der EU zu verteidigen, identifizierten sich die Deutschen und die Franzosen mit der nationalen Befreiungsbewegung der Ukrainer, während die polnischen Nationalisten ihrer Besessenheit von ethnischer Homogenität den Rücken kehrten und die Grenzen für Millionen ukrainischer Flüchtlinge öffneten. Mehr noch, der heldenhafte Widerstand der Ukraine hat die Europäer gezwungen, ihre Romanze mit postheroischen Gesellschaften zu hinterfragen. Ein Erbe der Jugoslawienkriege war die europäische Überzeugung, dass der Nationalismus in der europäischen Zukunft keine positive Rolle zu spielen hat. Die meisten Europäer neigen dazu, dem deutschen Dichter Bertolt Brecht zuzustimmen, der Mitleid mit Nationen hatte, die Helden brauchen.

Der militärische Erfolg der Ukraine kann für die Stärkung der europäischen Einheit entscheidend sein.

Die Magie, die in der Mobilisierung der ukrainischen Zivilgesellschaft liegt, hat viele Europäer gezwungen, ihre Ansichten zu ändern, und das Augenmerk auf die trüben Flecken in Brechts Heiligenschein gelenkt. War Kiew in den Tagen der Maidan-Revolution mit EUFlaggen überflutet, so waren Anfang März 2022 die europäischen Hauptstädte in das Blau und Gold der ukrainischen Flagge gekleidet.

Die Frage ist: Kann die europäische Einheit den ukrainischen Moment überdauern, wenn man bedenkt, dass dieser gleichzeitig sowohl ein europäischer Moment als auch ein Moment der Eigenstaatlichkeit ist? Der militärische Erfolg der Ukraine kann für die Stärkung der europäischen Einheit entscheidend sein. Doch an einem Sieg von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen 2024 würde sie höchstwahrscheinlich zerbrechen.

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Conclusio

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist kein Krieg in Europa, sondern ein Krieg gegen Europa. Der Blick auf den Zerfall Jugoslawiens hilft zu verstehen, warum. Putin will die liberale internationale Ordnung, in der die Rechte des Einzelnen über die Rechte des souveränen Staates gestellt werden, in der Ukraine begraben. Waren die Jugoslawienkriege noch ein Test für den Willen des Westens, ist der Krieg in der Ukraine ein Test seiner militärischen Kraft. Mit dem Überfall auf Kiew sind die Säulen der bisherigen europäischen Sicherheitspolitik zerbrochen. Die Sicherheit Europas ist völlig von den USA abhängig. Das Selbstverständnis der Europäer als postheroische Gesellschaften gerät ins Wanken. Auf den Schlachtfeldern der Ukraine entscheidet sich, ob Europa gestärkt aus diesem Krieg hervorgeht oder daran zerbricht.

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