Die Macht der Manipulation

Moderne Kriegsführung setzt nicht auf Panzer, sondern auf Täuschung, Destabilisierung und Polarisierung. List und Tücke siegen über rohe Gewalt.

Auf einer mit KI generierten fotorealistischen Illustration sitzen Menschen teils mit Kopfhörern, teils vor dem Computer in einem verglasten Raum mit Blick über eine Time-Square-ähnliche Straße. Das Bild illustriert einen Beitrag über Krieg und Frieden.
Sneaky War: Im heutigen Hyperinformationszeitalter gehören zu den Kriegswaffen Subversion, Täuschung und Desinformation. List und Tücke siegen über rohe Gewalt. Der sneaky war, also der hinterhältige Krieg, setzt sich durch. © AI-Artist / Florence Wibowo
×

Auf den Punkt gebracht

  • Moderne Kriegsführung. Kriegsparteien setzen nicht auf Panzer, sondern auf Täuschung, Destabilisierung und Polarisierung.
  • Sneaky War. Im heutigen Hyperinformationszeitalter schlagen Informationen die Feuerkraft und List und Tücke siegen über rohe Gewalt.
  • Law fare. China verwendet Kriegsführung mit juristischen Mitteln, um die regelbasierte Ordnung des Westens zu untergraben.
  • Problem Demokratie. Demokratien sind anfällig, weil sie offene Gesellschaften sind und Abwehrmaßnahmen wie Zensur zu Autoritarismus führen würden.

Der Westen weiß nicht mehr, was Krieg ist. Und wenn man nicht weiß, wie ein Krieg aussieht, kann man keine Strategie entwickeln, um ihn zu gewinnen. Auf die Frage „Was ist Krieg?“ antworten die meisten Menschen mit der Beschreibung von konventioneller Kriegsführung. Doch solche Definitionen sind falsch. Sie handeln von einer Form des Kampfes, bei der Nationen mit Streitkräften in industrieller Stärke um ihr Schicksal kämpfen.

Dabei denkt man an die beiden Weltkriege oder Generäle der napoleonischen Ära wie den Militärtheoretiker Carl von Clausewitz, dessen Buch „Vom Kriege“ immer noch an den Militärakademien gelesen wird. Er vertritt eine militärische Sicht, bei der die überlegene Feuerkraft den Sieg sichert. Der Triumph auf dem Schlachtfeld ist alles, wie bei Waterloo, und von den Bürgern wird erwartet, dass sie in Uniform mit patriotischem Eifer dienen. In einem solchen Krieg sind der Begriff Ehre oder das Kriegsrecht von Bedeutung.

Waffen sind Schrott

Es gibt nur ein Problem mit dieser Form von Kriegsführung: Keiner kämpft mehr so. Diese Art des bewaffneten Konflikts ist genauso antiquiert, wie es die Schlachtschiffe aus dem Jahre 1940 heute sind. In Vietnam und Afghanistan haben die USA gegen weit unterlegene Streitkräfte mit bescheidenster Waffentechnik verloren – im Gegensatz zu allen gängigen Theorien über militärische Kriegsführung. Denn es waren unkonventionelle Kriege.

Nur sechs Prozent aller Kriege seit dem Zweiten Weltkrieg gelten als konventionell. Dennoch ist der Westen in der Ukraine auf diese Form fixiert. Militärexperten, Journalisten und Durchschnittsbürger sehen nur Panzer und Artillerie. Wie hypnotisiert starren sie auf die Schlachten von Soledar und Bachmut, weil sie sich an Verdun und Stalingrad erinnert fühlen. Dabei ignorieren sie die viel größeren unkonventionellen Elemente des Konflikts: die ukrainische Guerillakampagne, die Russlands Blitzkrieg vereitelte, die Söldnerarmee der Wagner-Gruppe, Russlands gezielte Bombardierung der Zivilbevölkerung, um Terror nach Art von al-Qaida zu verbreiten, sowie die ausgeklügelten Desinformationskampagnen beider Seiten.

Herkömmliche Kriegswaffen sind teurer, überholter Kriegsschrott, wie die Maginot-Linie.

Zwei Staaten stehen einander bewaffnet gegenüber, das ist sozusagen der konventionelle Teil. Aber entscheidend sind die unkonventionellen Schritte. Daher wird eine traditionelle Gegenoffensive nicht den Sieg bringen.

Herkömmliche Kriegswaffen sind teurer, überholter Kriegsschrott, wie die Maginot-Linie. Zum Beispiel der F‑35-Kampfjet: Das Programm kostet den amerikanischen Steuerzahler 1,7 Billionen Dollar. Das ist mehr als das gesamte BIP Russlands – für ein einsitziges Flugzeug, das bezeichnenderweise in zwanzig Jahren verschiedener Konflikte keinen einzigen Kampfeinsatz flog. Dennoch kaufen die USA, Deutschland, das Vereinigte Königreich und Finnland hunderte weitere Maschinen. 

Inzwischen hat das Pentagon die F-35 bereits für veraltet erklärt und will ein Kampfflugzeug der sechsten Generation. Das ist die klassische Definition von Wahnsinn: immer wieder das Gleiche zu tun und ein anderes Ergebnis zu erwarten. Der Westen ist strategisch wahnsinnig. 

×

Zahlen & Fakten

Im heutigen Hyperinformationszeitalter schlagen Informationen die Feuerkraft. Wen interessiert schon das Schwert, wenn man den Verstand desjenigen manipulieren kann, der es führt? Im Zweiten Weltkrieg gewann man, indem man blitzartig mit einem riesigen Heer in ein anderes Land einmarschierte. Heute gewinnt man, indem man eine Gesellschaft unmerklich von innen heraus zerstört. Zu den Waffen der Wahl gehören Subversion, Täuschung und Desinformation – Bedrohungen, die eine F-35 nicht abschießen kann. List und Tücke siegen über rohe Gewalt. Der sneaky war, also der hinterhältige Krieg, setzt sich durch. 

Täuschung wirkt

Um zu siegen, tarnt man den Krieg als Frieden. Der Gegner kann sich nicht verteidigen, wenn er nicht einmal weiß, dass er angegriffen wird. Deshalb bevorzugen Russland, China und andere Mächte nichtmilitärische Mittel. Auf solche reagiert die NATO nicht, denn sie bringt sie nicht mit Krieg in Verbindung. Dennoch werden mit dieser Strategie konventionelle Kriegsziele erreicht. Cyberangriffe sind ein beliebtes Instrument, aber das Arsenal ist sehr viel größer. So benutzt Russland gerne Flüchtlinge als Waffen, steuert die Energieversorgung und setzt Söldner ein, um im Geheimen Krieg zu führen. 

China wiederum verwendet „Law-fare“, die Kriegsführung mit juristischen Mitteln, um die regelbasierte Ordnung des Westens zu untergraben. Und bei der Initiative zur Neuen Seidenstraße agiert Peking wie ein Mafiaboss, um Ländern ihren Besitz abzupressen. Als Sri Lanka im Jahr 2015 seine Schulden nicht bezahlen konnte, übergab es seinen wichtigsten Hafen, Hambantota, für 99 Jahre an China. Das ist, als würde Europa Rotterdam an China abtreten. Doch westliche Traditionalisten sehen das nicht; für sie herrscht nur Krieg, wenn Kugeln fliegen. 

Warum noch einmarschieren?

Erkenntnistheorie lässt sich als Waffe nutzen. Warum in ein Land einmarschieren, wenn man es mit einem Trick dazu bringen kann, sich selbst die Kehle durchzuschneiden? Was einst auf Schlachtfeldern erkämpft wurde, wird heute erreicht, indem man die öffentliche Aufmerksamkeit lenkt, Zweifel und gegenseitige Verdächtigungen streut, Zwiespalt sät. Und so funktioniert es: Finden Sie erstens eine real existierende Spaltung in der Gesellschaft des Gegners, wie zum Beispiel den Kulturkrieg in den USA zwischen Demokraten und Republikanern. Befeuern Sie zweitens den Konflikt, wenn möglich bis hin zum Bürgerkrieg, indem Sie beide Seiten verdeckt mit Desinformationen aufpeitschen. Nun holen Sie sich drittens Popcorn – und Sie sehen zu, wie Ihr Gegner Harakiri begeht.

Im Jahr 2022 glaubten laut einer NBC-Umfrage 80 Prozent der Republikaner und Demokraten, dass der jeweilige politische Kontrahent eine Bedrohung darstelle, die Amerika zerstören werde, wenn sie nicht gestoppt wird. Wahrscheinlich werden diese Zahlen im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen 2024 noch steigen. Parteilichkeit ist in der Demokratie nichts Neues. Doch anders als früher vertiefen heute ausländische Mächte im Verborgenen die gesellschaftlichen Gräben.

×

Zahlen & Fakten

Noch ein Beispiel: TikTok ist mit einer Milliarde Nutzern die am häufigsten heruntergeladene App der Welt. Die Muttergesellschaft ByteDance untersteht der Kommunistischen Partei Chinas. Nur wenige wissen, dass es zwei TikToks gibt. Die chinesische Inlandsversion füttert Jugendliche mit Lehrvideos und patriotischen Clips und begrenzt die Nutzung der App für unter Vierzehnjährige auf vierzig Minuten pro Tag zwischen sechs Uhr morgens und zehn Uhr abends. Die Exportversion fesselt die Kinder stundenlang. Sie sammelt die Nutzerdaten, ihre Algorithmen verstärken polarisierende Nachrichten und fördern dem FBI zufolge die Kriminalität. Indien hat TikTok verboten, aber Demokratien tun sich schwer damit, weil dies auf Zensur hinausliefe, eine zutiefst undemokratische Maßnahme.

Leugnen hilft immer

Smartphones und Social Media machen jeden überall zum Zeugen, Journalisten, Videofilmer und Verleger. Niemand kann sich mehr verstecken. Massaker und Verstöße gegen das Völkerrecht erregen internationales Aufsehen, und die Täter werden bloßgestellt. Also errichten die Putins dieser Welt einen Puffer einigermaßen plausibler Bestreitbarkeit zwischen sich und ihren Schergen, um sich der Verantwortung zu entziehen. Wenn die Dinge schlecht laufen, streiten sie einfach alles ab. Die Krieger sind maskiert, und es sind die verdeckten Einsätze, auf die es ankommt. 

Auf einer mit KI generierten fotorealistischen Illustration ist eine Frau, die auf ein Tablet schaut inmitten einer menschenbelebten Straße. Das Bild illustriert einen Beitrag über Krieg und Frieden.
Cyberwar: Im Informationskrieg werden Smartphones zu Waffen und Nachrichten zu Munition. © AI-Artist / Florence Wibowo

Demokratien sind für einen sneaky war besonders anfällig, weil sie offene Gesellschaften sind und Abwehrmaßnahmen wie Zensur zu Autoritarismus führen würden. Für die Feinde der Demokratie ist das eine Win-win-Situation. Wir werden nicht verschwinden wie Berlin im Jahre 1945. Stattdessen geht uns einfach die Luft aus. Der schleichende Krieg zerfrisst uns von innen heraus, sodass wir schließlich zu einer Ersten Welt ohne Weltmacht werden.

China hat sich vorgenommen, den Konflikt mit dem Westen bis 2049 zu gewinnen – und kann das schaffen, ohne eine einzige Schlacht zu schlagen. So wie der Westen den Kalten Krieg gewonnen und einen konventionellen Krieg mit den Sowjets vermieden hat. Es ist beunruhigend, dass wir unsere eigene Geschichte vergessen haben.

Was tun?

Es ist an der Zeit, selbst heimtückisch zu werden. Es gibt auch einen demokratischen sneaky war; er funktioniert nur ein wenig anders. Offene Gesellschaften sind verwundbar, aber dafür auch belastbar. Autokratien können den heimtückischen Krieg zwar leichter führen, aber sie sind brüchig. Auf genau diese Schwäche muss der sneaky war der Demokratien zielen, und es gibt eine Fülle von Strategien, die sich dafür eignen. Moralisch ist das umstritten. Doch am Ende geht es nur um eine Frage: Ist es besser, ehrenhaft zu verlieren, als unehrenhaft zu gewinnen?

×

Conclusio

Im Krieg des 21. Jahrhunderts sind Informationen mächtiger als Panzer und Kampfjets. Die meisten Menschen im Westen haben ein veraltetes Bild vom Krieg, das nur einen Ausschnitt der neuen Realität widerspiegelt. Heute setzen Kriegsparteien auf Täuschungen, Destabilisierung und Polarisierung. Wo früher rohe Gewalt auf den Schlachtfeldern herrschte, dominieren heute sneaky wars, also hinterhältige Kriege, sei es in Form von Cyberangriffen, Kriegsführung mit juristischen Mitteln („Lawfare“) oder die Spaltung der Gesellschaft durch bewusste Desinformation via Social Media. Offene Gesellschaften sind hier besonders anfällig, weil Abwehrmaßnahmen wie Zensur zu Autoritarismus führen würden. Jedoch gibt es auch einen – moralisch umstrittenen – demokratischen sneaky war. Dessen Strategien setzen auf die Belastbarkeit offener Gesellschaften und die Brüchigkeit von Autokratien.

Mehr zum Thema

Unser Newsletter