Schlägt uns die Stunde der Führer?

Führung ist speziell im deutschsprachigen Raum nicht gut angeschrieben. Dabei heißt Führen nicht zuletzt, Verantwortung zu übernehmen. Ein Essay.

Führung: Illustration einer stilisierten Bergsteigerszene in rot-pinken Tönen.
„Der Guide ist ein konkreter oder virtueller Führer, der Interessierte an ihr selbst gewähltes Ziel bringt.“ © Benedetto Cristofani

Ziemlich unverblümt fragte sich neulich der britische Historiker Ian Morris in einem Gespräch mit der „Neuen Zürcher Zeitung“: Ist Demokratie noch der beste Weg in eine unsichere politische Zukunft? Autokratisch geführte Gesellschaften mit digital gestützten Kontrollsystemen könnten, so die These des in den USA lehrenden Professors, Autor des Bestsellers „Wer regiert die Welt?“, auf die Probleme unserer Zeit womöglich rascher und vor allem effizienter reagieren und dadurch Anziehungskraft auch für den Westen gewinnen. Der Ruf nach dem „starken Mann“ sei selbst in scheinbar gefestigten Demokratien wie den USA immer wieder zu hören. Hoffentlich, so beeilte sich Morris hinzuzufügen, „belehrt die Putin-Erfahrung die Leute eines Besseren“.

In diesen wenigen Worten offenbart sich das aktuelle Dilemma von Führungsansprüchen. In Krisensituationen wird von Entscheidungsträgern Führungsstärke erwartet: rasches, konsequentes Handeln, hartes Durchgreifen, klare Positionierung. Der Zögerer und Zauderer bekommt schlechte Presse, Taktieren und Lavieren gilt als Zeichen von Schwäche, letztlich von politischer Untauglichkeit.

Zeigen hingegen Umfragen, dass sich die Menschen mehr starke Führungspersönlichkeiten wünschen, wird dies als besorgniserregender Rückfall in autoritäres Denken gewertet, als bedrohliches Anzeichen einer Erosion des demokratischen Konsenses, als Ausweis mangelnder politischer Reife. Ein Blick auf die vertrackten und widersprüchlichen Aspekte von Führung lohnt sich. Was bedeutet es eigentlich, wenn jemand den Anspruch erhebt, andere zu „führen“? Und was verrät der Wunsch, „geführt“ zu werden, über uns? Beleuchten wir dazu einmal das semantische Umfeld dieses umstrittenen Begriffs.

Ein obszönes Versprechen

Führen! Es gibt kaum ein Wort der deutschen Sprache, das in einem nahezu obszönen Sinn so kopulationsfreudig ist wie dieses umstrittene Verb. Es kann zwar gut alleine stehen, verbindet sich aber mit nahezu jeder Vorsilbe, die sich ihm anbietet, und eröffnet damit einen weiten, in allen Farben schillernden Bedeutungshorizont. Anführen, verführen, entführen, aufführen, zuführen, abführen, einführen, vorführen, durchführen, ausführen, fortführen, wegführen, hinführen, rückführen.

Bei all diesen Variationen geht es um Veränderung, einen lokalen und mentalen Ortswechsel, um eine Bewegung, um eine Richtung, die man einschlagen soll, um ein Verlassen des Gewohnten, um ein Aufbrechen, aber auch um das Betreten gefährlicher Zonen. Nicht umsonst hängt „führen“ etymologisch mit dem „Fahren“ zusammen, der gute alte Lokführer mag dies verdeutlichen.

Im Stillstand gibt es nichts zu führen, in diesem genügt es, zu verwalten. Führungsansprüche signalisieren stets eine Dynamik, und wer sich der Führung eines anderen überlässt, weiß vielleicht nicht, wohin die Reise geht, wohl aber, dass nichts so bleibt, wie es ist. Der semantische Reichtum, der sich aus dem Führen und seinen Vorsilben ergibt, enthält einige Tücken und sollte zur Vorsicht mahnen. Sonst kann es geschehen, dass sich so mancher Anführer zu einer falschen Handlung verführen lässt, was dazu führt, dass er zuerst vor- und dann abgeführt wird.

Ohne Führung wird es schwierig.

Die Frage nach Führungsqualitäten und Führungsansprüchen stellt sich in nahezu jedem sozialen Zusammenhang. Ob in der Wirtschaft oder in der Politik, ob in Unternehmen oder bei Vereinen, ob in Schulkassen oder bei Fußballmannschaften: Ohne Führung wird es schwierig. Umgekehrt provoziert jede Form von Führung eine Debatte darüber, ob diese denn überhaupt notwendig sei, ob es nicht zum Selbstbild freier und autonomer Menschen gehört, dass sie ohne Führung auskommen, weil sie selbst am besten wissen, was sie zu tun und wie sie zu kooperieren haben. Führung wird deshalb gleichermaßen bewundert wie gehasst, gefordert und misstrauisch beäugt.

Führung und Mittäterschaft

Der Guide ist ein konkreter oder virtueller Führer, der Interessierte an ihr selbst gewähltes Ziel bringt. Berg-, Stadt-, Lokal- und Fremdenführer gehorchen diesem Prinzip. Im Grunde weiß man, was man will, aber man kennt den Weg, die Topographie, die Örtlichkeit nicht und lässt sich von einer kundigen Instanz leiten. Die Souveränität über das Ziel liegt beim Auftraggeber, der Führer fungiert als kompetenter Dienstleister. Natürlich begibt man sich damit in die Hände solcher Führer, und manch ein Reiselustiger ist von einem Fremdenführer in die Irre geführt worden. Aber es wird schnell klar, wenn das Ziel verfehlt wird. Das gilt sogar für automatisierte Navigationsgeräte.

Illustration eines Luftballons in Form einer Sprechblase, der zwischen anderen Sprechblasen aufsteigt, während eine Hand versucht , den Faden zu greifen.
„Wissen, wann es Zeit ist, die Führung abzugeben oder die Gefolgschaft zu kündigen.“ © Benedetto Cristofani

Ganz anders stellen sich die Verhältnisse beim Leader und der mit ihm verbundenen Leadership dar. Der Führungsanspruch ist hier wesentlich umfassender, dieser Führer kennt das Ziel und gibt es vor, er weiß den Weg und will andere dazu bringen, ihm auf diesem zu folgen. Seine Aufgabe besteht darin, Menschen dazu zu bewegen, eine bestimmte Richtung einzuschlagen, mitzugehen, mitzutun.

Unbewusste Sehnsüchte der Geführten

Wer einen Führer anstellt und sich von ihm an das selbst gewählte Ziel bringen lässt, nimmt einen Service in Anspruch. Wer sich von einer Führungskraft überhaupt erst für eine Sache motivieren lässt, entledigt sich zumindest teilweise seiner Souveränität und überantwortet sich dem Willen eines anderen. Dieser übt eine sublime Macht aus, deren Tücke darin besteht, dass sie schwer zu durchschauen ist.

Nach einer berühmten Formel des Soziologen Max Weber besteht Macht in der Chance, in einer sozialen Beziehung „den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“. Motivationsstrategien stellen die sanfte, aber unehrliche Variante dieser Technik dar, die Androhung und Ausübung von psychischer oder physischer Gewalt ist dem gegenüber hart, aber ehrlich.

Die geschulte Führungskraft kennt die unbewussten Sehnsüchte und Ängste der Menschen.

Einzig die Psychoanalyse vermag der Motivationstechnik etwas von ihrer Infamie zu nehmen: Wenn man nämlich davon ausgeht, dass die Führungskraft zu einem Verhalten motiviert, das im Willen und Interesse der Betroffenen liegt, diese es aber noch nicht wissen. Die geschulte Führungskraft kennt die unbewussten Sehnsüchte und Ängste der Menschen. Damit gleicht sich der Motivator dem raffinierten Verführer an, der sich gerne mit dem Hinweis verteidigt, dass er seine Opfer lediglich zu dem gebracht hat, was diese im Innersten ohnehin wollten, sich aber nicht einzugestehen wagten.

Das viel diskutierte Charisma von Führungspersönlichkeiten ähnelt deshalb dem suspekt gewordenen Charme des Verführers: In beiden Fällen soll über das Spiel auf der Klaviatur der Emotionen Unwiderstehlichkeit suggeriert werden.

Führung ist Ausdruck eines Machtverhältnisses. Daran gibt es nichts zu rütteln. Führung und Gefolgschaft sind dennoch nicht deckungsgleich mit Herrschaft und Knechtschaft. Herren, also Diktatoren aller Art und jeden Geschlechts, haben es nicht nötig zu führen, es genügt, wenn sie befehlen. Dass gehorcht wird, dafür sorgt die Androhung von Gewalt, ohne die kein autoritäres System auskommt. Dagegen spricht nicht, dass es Varianten autoritärer Herrschaft gibt, bei denen die Menschen aus Überzeugung ihren „Führern“ folgen – mitunter bis in den Untergang.

Die Philosophin Hannah Arendt hat darin eine Differenz zwischen klassischen Diktaturen und totalitären Systemen erkannt: Im Totalitarismus können sich die Machthaber auf die Komplizenschaft der Unterworfenen verlassen. Ausgenommen sind jene Gruppen, die dezidiert zu Feinden des Volkes oder des Staates oder der Partei erklärt und brutal verfolgt werden – wie die Juden im „Dritten Reich“ oder die Kulaken in der frühen Sowjetunion.

Vertragen sich Führung und Demokratie?

In offenen Gesellschaften funktioniert Führung anders. Zum einen muss sich Führung immer wieder aufs Neue legitimieren, sei es dem Wähler, sei es den Aktionären und Stakeholdern, aber auch den Abhängigen gegenüber.

Dass Führungspositionen in Politik und Wirtschaft auf Zeit vergeben werden, ist ein entscheidendes Merkmal von demokratischen Verfassungen, die Formen der Machtkontrolle und des Machtwechsels festschreiben. Wer diese aushebeln möchte, stellt vorab einmal diese Zeitordnung zur Disposition. Russlands Weg in die Diktatur begann mit der trickreichen Ausdehnung der Funktionsperiode des Staatspräsidenten.

Führen hingegen setzt etwas in Bewegung, verspricht Veränderung; für revolutionäre Bewegungen sind Führungspersönlichkeiten deshalb wichtiger als für stabile Systeme. Erbmonarchien brauchen keine Führer, sondern Kronprinzen, staatstragende Parteien präferieren Funktionäre, nicht Rebellen.

Nur dort, wo in demokratischen Ordnungen Parteilandschaften erodieren und sich „Bewegungen“ bilden, benötigen diese als Kristallisationspunkte Persönlichkeiten mit Führungseigenschaften. Emmanuel Macron hat dies paradigmatisch vorgeführt, Sebastian Kurz ist mit dem Versuch, eine traditionsreiche Partei in eine Bewegung zu verwandeln, gescheitert. Generell gilt: Es gibt Bewegungen, die sich einen Führer, und Führer, die sich eine Bewegung suchen.

Die Lust, ein Follower zu sein

Autokratische Systeme kennen als Gegenpol zur Herrschaft die Knechtschaft: die Untertanen, das Stimmvieh, das unterdrückte, ausgebeutete Volk. Führung hingegen erfordert Gefolgschaft. Selbstredend kann diese mit mehr oder weniger Druck erzwungen werden.

In liberalen Gesellschaften gilt es jedoch als besondere Qualität, politische Gefolgschaft auf der Basis von Freiwilligkeit zu generieren. Dies ist nur unter der Voraussetzung möglich, dass Menschen ihre Interessen am besten bei einer Person aufgehoben sehen, der sie ihr Schicksal anvertrauen können.

In offenen Systemen funktioniert Führung in hohem Maße über Vertrauensverhältnisse. Eine Kultur des Misstrauens, wie sie sich aktuell nach diversen Skandalen aus guten Gründen entwickelt, ist stets Anzeichen einer Führungskrise, auch wenn überzeugte Anhänger dazu tendieren, ihren Führern sehr viel zu verzeihen. Niemand gibt gern zu, auf das falsche Pferd gesetzt zu haben.

Zu den eher selten gestellten Fragen, wenn von Führungsqualitäten und Führungsansprüchen die Rede ist, gehört die nach dem Wesen von Gefolgschaft. Die psychologisch inspirierte Ratgeberliteratur zum Thema „Führen, aber richtig“ füllt Regale, Bücher mit Titeln wie „Folgen, aber richtig“ findet man kaum.

Und doch bilden Führungskräfte und ihre Mitarbeiter, politische Anführer und ihre Getreuen, Sektenführer und ihre Jünger, Influencer und ihre Follower zwei Seiten einer Medaille. Führen ergibt dann einen Sinn, wenn es Menschen gibt, die sich auch ohne direkte und indirekte Gewaltmaßnahmen führen lassen wollen. Es muss reizvoll sein, geführt zu werden, es muss Lust bereiten, nicht Leader, sondern Follower zu sein.

Der virtuelle Raum verschärft die Problemlagen der analogen Realität.

In den sozialen Medien kennen wir seit geraumer Zeit den neuen Typus des Influencers: Menschen, denen es über diverse Plattformen gelingt, Aspekte ihres eigenen Lebensstils, ihrer Kleidung, Ernährungsgewohnheiten, ihres Freizeitverhaltens, mitunter ihre Ansichten und Meinungen in einer Weise zu positionieren, die nicht nur Zustimmung oder Bewunderung erlaubt, sondern Nachahmer findet, also Gefolgschaft erzeugt.

Der Führungsanspruch resultiert dabei allein aus der Präsentation eines Ich. Influencer kommunizieren ihr Leben als ein Modell, das von möglichst vielen imitiert werden soll. Wie dabei ein finanzielles Einkommen lukriert wird, interessiert uns an dieser Stelle nicht. Reizvoller ist die Frage, worin ein Follower seinem Influencer eigentlich folgt.

Natürlich gibt es Plattformen, auf denen einfach Erfahrungen ausgetauscht und Anregungen gegeben werden, Ideen entwickelt und zur Diskussion gestellt werden. Geht es um politische Konzepte, verschärft der virtuelle Raum die Problemlagen der analogen Realität. Dem lebensstilprägenden Influencer geht es hingegen um die Beeinflussung des Konsumverhaltens seiner Gemeinde.

Innere Führung und die Macht über das Denken

Der Kulturtheoretiker Wolfgang Ullrich hat darauf aufmerksam gemacht, dass im modernen Kapitalismus der Konsum selbst zu einer Form von Arbeit geworden ist. Es ist anstrengend, aufwendig und ziemlich mühsam, all die ökologischen, sozialen, ethischen und politischen Aspekte zu berücksichtigen, die noch ein Konsumieren mit reinem Gewissen erlauben.

Influencer nehmen den meist jungen Konsumenten diese Arbeit ab. Man wird zum Follower, weil dies das Leben erleichtert. Man weiß, was man zu tun hat, weil ein anderer es tut. Ähnliches gilt für die Follower, die Meinungsführer auf Twitter um sich versammeln. Eine oft auf ein Emoji verkürzte Zustimmung definiert dabei diese neue Form von Gefolgschaft. Und nicht selten gilt dabei, wie auch in politischen Kontexten, die Devise: Sie folgen, also sind sie folgsam – denn Meinungsführer beanspruchen die Macht über das Denken der Menschen.

Illustration des Like-Buttons von Facebook, der eine Frau mit Smartphine umklammert.
„Und man kann sich auch Gesellschaften vorstellen, in denen jeder an der Meinungsbildung gleichermaßen beteiligt ist.“ © Benedetto Cristofani

Étienne de la Boétie, der jung verstorbene Freund des großen Michel de Montaigne, sprach schon im 16. Jahrhundert vom fatalen Hang des Menschen zu einer „freiwilligen Knechtschaft“. Und Immanuel Kant, der große Aufklärer des 18. Jahrhunderts, mutmaßte, dass es in erster Linie „Faulheit und Feigheit“ seien, die viele Menschen dazu brächten, andere für sich denken und entscheiden zu lassen und so im Zustand der Unmündigkeit zu verharren.

Geht man vom Ideal des souveränen, autonomen Individuums aus, sind diese kritischen Einwände berechtigt. Bedenkt man, dass Menschen immer in Gemeinschaften leben wollen und leben müssen, verändert sich die Perspektive. Die Idee von Führung stellt in ihren unterschiedlichen Varianten offenbar ein höchst erfolgreiches Konzept dar, um Kollektive zu einem zielgerichteten, abgestimmten und koordinierten Handeln zu bringen.

Führung und Verantwortung

Wohl stimmt es: Führung ist kein Naturgesetz. Und man kann sich auch Gesellschaften vorstellen, in denen jeder an der Meinungsbildung gleichermaßen beteiligt ist und dann die gemeinsam gefällten Entscheidungen aus Überzeugung mitträgt. Die Urdemokratie der antiken Polis war von diesem Ideal gekennzeichnet. Die Geschichte lehrt jedoch, dass das Versprechen, geführt zu werden, oftmals verführerischer wirkt als der Anspruch, für sich und sein Handeln selbst die Verantwortung zu übernehmen.

Das aber bedeutet: Wer führt, übernimmt damit, ob er dies will oder nicht, die Verantwortung für andere. Dies gilt für den Bergführer genauso wie für die Führungskraft eines Unternehmens, für den Spitzenpolitiker genauso wie für den Leiter einer Jugendgruppe. Wer sich dieser Verantwortung nicht bewusst ist oder sich ihr nicht gewachsen zeigt, sollte abgelöst werden. Entwickelte Gesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie für diesen Fall verbindliche Regeln und Verfahren des Machtwechsels vorgesehen haben.

Wer sich vom verführerischen Duft des Führens nicht betören lassen will, sollte wissen, wann es Zeit ist, die Führung abzugeben oder die Gefolgschaft zu kündigen.