Putins Welt – gemacht für die Ewigkeit

Seit Dezember 1999 ist Wladimir Putin der Mann an der Spitze Russlands. Sein System der Macht scheint heute so starr wie übermächtig. Doch wie viel Putin steckt wirklich im System Putin – und was erwartet Russland, wenn seine Ära zu Ende geht?

Illustration von Putin, der sein eigenes Denkmal meißelt
In Stein gemeißelt: Wladimir Putin hat ein System der Macht etabliert, das seine Präsidentschaft überdauern wird. © Pablo Vidal
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Auf den Punkt gebracht

  • Mann an der Spitze. Aus dem politischen Gefüge Russlands ist Wladimir Putin nicht mehr wegzudenken. Gestützt wird seine Macht durch drei Akteurskreise.
  • Macht des Stärkeren. Die stärkste Kraft im Kreml sind die Geheimdienste. Sie stellen rigide Sicherheitsstrukturen über die demokratische Entwicklung Russlands.
  • Vox populi. Je stärker die Repression, desto niedriger werden die Zustimmungswerte in der Bevölkerung. Die mögliche Folge: ein politischer Konkurrenzkampf im Kreml.
  • Kollektiver Putin. Formal kann Putin bis 2036 im Amt bleiben. Doch sein System wird seine Amtszeit überdauern.

Ein Blick auf die Titelseite des Eco­nomist vom 28. Oktober 2017 genügt, um die westliche Wahrnehmung von Wladimir Putin in wenigen Worten ­zusammenzufassen. „A Tsar Is Born“ steht da über Putins Kopf, der auf einer hochdekorierten Uniform prangt. Auch die russische Opposition bedient sich gerne dieses Klischees; 2018 skandierten Anhänger Alexej Nawalnys bei landesweiten Protestmärschen die Parole: „Er ist für uns kein Zar.“

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Doch die Vorstellung, Putin stehe als Präsident gleichsam über allen, ist falsch. Verfassungsrechtlich ist Putin zwar mit einer außerordentlichen Machtfülle ausgestattet, aber seine persönliche Machtbasis beruht auf einem komplexen System an Akteuren. Noch während seiner ersten Amtszeit als Präsident (2000-2004) versuchte Putin, sich von seinen ursprünglichen Förderern rund um Boris Jelzin loszulösen und rekrutierte das Rückgrat seiner Gefolgschaft aus drei Quellen:

  • den sogenannten Silowiki, Mitgliedern des KGB und den nachfolgenden Geheimdiensten (abgeleitet vom russischen Wort für Stärke oder Macht, sila – Putin war selbst von 1998 bis 1999 Direktor des Inlandgeheimdienstes FSB);
  • den Technokraten, die sich aus Juristen, Wirtschafts- und Finanzexperten aus Putins Zeit in der St. Petersburger Stadtregierung (von 1991-1994 war Putin Vorsitzender des Städtischen Komitees für Auslandsbeziehungen, von 1994-1996 Erster Stellvertreter des Bürgermeisters von Sankt Petersburg) zusammensetzen und zu denen auch Dmitri Medwedew (Russlands Präsident von 2008-2012) gehört,
  • seinem persönlichem Freundeskreis aus seiner Zeit in Petersburg, der teilweise mit dem Lager der Silowiki überlappt.

Professionalität und Expertise waren dabei stets zweitrangige Rekrutierungskriterien. Loyalität und Vertrauen standen de facto im Mittelpunkt.

Putins Hof

Während seiner ersten beiden Amtszeiten gelang es Putin, eine sorgfältige Balance zwischen den drei Akteurskreisen zu wahren. Mit den heftigen Protesten gegen Putins Kandidatur für eine dritte Amtszeit 2011/12 setzte jedoch ein Prozess der Machtverschiebung ein, der sich zu Ungunsten der liberalen Technokraten und zugunsten der Silowiki entfaltete. Auf der einen Seite wuchs die Bedeutung der Geheimdienste, des Militärs, des Innenministeriums und der Nationalgarde in Relation zum Protestpotenzial der Bevölkerung. Andererseits schädigte die Ukrainekrise von 2014 das Ansehen des liberal-technokratischen Lagers, dem im Rahmen der internationalen Sanktionspolitik gegen Russland die Argumentationsgrundlage für die Annäherung an den Westen entzogen wurde.

Für Russlands demokratische Entwicklung bedeutet das nichts Gutes: Anders als die liberalen Technokraten, die Macht und Legitimität vor allem an ökonomischem und sozialem Erfolg messen, definieren die Sicherheitsstrukturen den Machterhalt des Systems vor allem über Kontrolle und Repression der russischen Bürger. Die wachsende autoritäre Kontrolle gesellschaftlicher Regungen zählt zu ihrem Werk, darunter auch eine erhebliche Verschärfung des Demonstrations- und Verleumdungsrechts. Seit Dezember 2020 gilt auch die letzte verbliebene legale Form des spontanen Protests in Russland, die Einzel-Mahnwache, als ungenehmigte Kundgebung.

Für Putin ist dabei klar, dass sich seine Handlungsfreiheit primär auf seine anhaltende Popularität in der Bevölkerung stützt. Nur solange Putin diesen Rückhalt genießt, sichert ihm dieses direkte Mandat auch seine Autorität über die diversen Fraktionen der Macht zu. Bröckelt aber seine Beliebtheit im Land, so bröckelt auch Putins Machtbasis innerhalb des Kremls.

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Zahlen & Fakten

Es ist auffällig, dass sich die Zusammensetzung des innersten Kreises von „Putins Hof“ über die letzten zwanzig Jahre nicht radikal geändert hat. Besonders diejenigen Silowiki, die zugleich persönliche Freunde Putins sind, üben seit 2011 einen stetigen und unerschütterten Zugang zum russischen Präsidenten aus. Dazu zählen sowohl Sergej Iwanow, ehemaliger KGB-Kollege Putins und Leiter seiner Präsidialverwaltung von 2011 bis 2016, als auch Nikolaj Patruschew, ehemaliger FSB-Direktor und seit 2008 Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation. Patruschews Ziehkind Alexander Bortnikow folgte ihm 2008 ins Amt des FSB-Direktors. Personelle Wechsel finden im System Putin also statt – aber es handelt sich überwiegend um eine Rotation auf der gleichen Ebene.

Das Problem der Elitenkontinuität vermindert das innere Erneuerungspotenzial des Systems Putin erheblich. Ein angesichts der schwierigen ökonomischen Lage notwendiger reformatorischer Befreiungsschlag, der von der Spitze des Landes ausgeht und zu einem neuen Wirtschafts- und Sozialvertrag mit der russischen Gesellschaft führt, scheint derzeit unwahrscheinlich – wenn auch nicht unmöglich. Realistischer wirkt aber eine sich weiter verschärfende repressive Steuerung der Gesellschaft bei gleichzeitig steigendem Legitimitätsverlust Putins. Zwar sind die Zustimmungswerte zu Putin noch immer recht hoch, aber das Vertrauen in Putin ist in den letzten beiden Jahren deutlich zurückgegangen. Mit jedem Tag, an dem dieser Vertrauensverlust fortschreitet, verliert Putin auch an Legitimität und riskiert einen ausufernden Rivalitätskampf zwischen den unterschiedlichen Akteuren der Macht. Noch zeigt das System ein gewisses Beharrungsvermögen, doch Repression ist keine mittel- bis langfristige Stabilisierungsstrategie.

Warten auf 2024, 2036, …?

Putins Verfassungsänderungen aus dem Jahr 2020 sind eine Reaktion auf seine schwindende Machtbasis. Die im Sommer 2020 durchgesetzte Nullifizierung seiner Amtszeiten als Präsident kann als geschickter Schachzug angesehen werden, mit dem Putin dem Risiko eines Rivalitätskampfes zumindest bis 2024 vorbeugt. Solange die Eliten im Unklaren darüber gelassen werden, ob Putin am Ende seiner vierten Amtszeit ab- oder zur Wiederwahl antritt, werden sie von internen Nachfolgekämpfen absehen. Ein Rücktritt Putins 2024 scheint derzeit zwar unwahrscheinlich, aber unmöglich ist er nicht – nicht zuletzt, weil auch zu diesem Zweck eine Gesetzesnovelle erlassen wurde. Mit der Reform des Immunitätsgesetzes von Dezember 2020 genießt der russische Präsident fortan nicht mehr nur zivil- und strafrechtliche Immunität für Handlungen während, sondern auch vor und nach seinen Amtszeiten. Zusätzlich wird er nach Amtsabtritt automatisch zu einem Mitglied des Föderationsrates – und genießt so parlamentarische Immunität. Auf Lebenszeit.

Der ‚kollektive Putin‘ lebt solange weiter, wie seine Einzelakteure ihre Führungspositionen weiter bekleiden.

Die Frage, wann Putin abtreten wird, ist ähnlich ungelöst wie die Identität seines potenziellen Nachfolgers. Zu den immer wieder zirkulierten Kandidaten für das Präsidentschaftsamt zählen der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin (der allerdings nur wenige Jahre jünger ist als Putin), der populäre Verteidigungsminister Sergej Schoigu (der aber daran scheitern dürfte, kein ethnischer Russe zu sein) und Alexej Djumin, der Gouverneur des Oblast Tula und ehemaliger Vize-Chef des Militärgeheimdienstes GRU. „Kronprinzen“ wie zu Putins zweiter Amtszeit (2004-2008), als zuerst Medwedew und dann Iwanow zum ersten stellvertretenden Regierungschef ernannt wurden, gibt es aber keine. Je länger es dauert, bis ein solcher Kandidat auftaucht, desto wahrscheinlicher wird es, dass Wladimir Putin 2024 erneut zur Präsidentschaftswahl antritt. Doch selbst wenn Putin abtritt, wird das zu keinem plötzlichen Erlösungsschlag für Russland führen. Der „kollektive Putin“, wie er durch Putins engsten Machtkreis verkörpert wird, lebt solange weiter, wie seine Einzelakteure ihre Führungspositionen weiter bekleiden.

Russland ohne Putin

Und die Opposition? Auch sie gibt wenig Anlass zur Hoffnung auf einen Richtungswechsel. Putins prominentester Gegenspieler Alexej Nawalny, dessen Namen nur in Ausnahmefällen vom Kreml ausgesprochen wird, mag in der westlichen Wahrnehmung zum neuen Gesicht des russischen Dissidententums geworden sein. Doch ein Andrej Sacharow oder ein Alexander Solschenizyn ist er ebenso wenig, wie eine vereinigende Figur für die russische Opposition. Als fähiger Organisator beherrscht er wie niemand anderer die Kommunikation über soziale Medien und das Internet, aber laut Angaben des Lewada-Zentrums, Russlands größtem Meinungsforschungsinstitut, sind seine Zustimmungswerte seit September 2020 auf 14 Prozent gesunken. Zuvor lagen sie gleichbleibend bei etwa 20 Prozent. Die Ablehnung seiner Tätigkeit ist indessen von 50 auf 62 Prozent gestiegen.

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Zahlen & Fakten

Selbst wenn Nawalny nach Ende seiner Haftstrafe 2024 in die Politik zurückkehren sollte, wird er weiterhin pola­risieren – nicht nur innerhalb der russischen Bevölkerung, sondern auch innerhalb der Opposition. Das liegt zum einen daran, dass Nawalny bis auf die Grundidee eines „Rossija bez Putina“ (Russland ohne Putin) keine konstruktive Neuausrichtung bietet. Mit Hinblick auf Reallöhne, Pensionen und eine Strafsteuer für die Günstlinge der Privatisierung der 1990er-Jahre gibt er sich linkspopulistisch; Nawalnys Ansichten zu Immigration und einer möglichen Visapflicht für Zentralasiaten sind hingegen dem rechtsnationalistischen Spektrum zuzuordnen. Was genau Nawalny mit einem Russland ohne Putin anfangen würde, bleibt auch rund zehn Jahre nach seiner Profilierung als Russlands erster Oppositioneller unklar.

Zum anderen inszeniert Nawalny seine Oppositionstätigkeit als Duell zwischen ihm und Wladimir Putin – ohne in diesem Wahrnehmungsduell mit besonderer Glaubhaftigkeit auftrumpfen zu können. Auch Nawalny vertritt kein grundlegend anderes Machtverständnis als Putin. Er denkt nicht im Rahmen von Institutionen (was Russland so dringend nötig hätte), sondern primär im Kontext seiner eigenen Transformationsfähigkeit. Dieses Denken belastet Russland seit seiner staatlichen Unabhängigkeit 1991: Bereits Boris Jelzin war eine Art Volkstribun, der dachte, er habe eine historische Mission zu erfüllen, in der Institutionen wie Parlamente, Gerichte und Parteien weniger ausschlaggebend seien, als die Fähigkeit, den eigenen Willen gegen jeglichen Widerstand durchzusetzen. Das ist bei Putin nicht anders – und würde sich auch unter Nawalny nicht ändern.

Ein Nawalny Graffiti in Sankt Petersburg wird übermalt
Ginge es nach der Regierung, würde Alexej Nawalny gänzlich aus dem öffentlichen Diskurs gelöscht. © Getty Images

Es ist derzeit nicht absehbar, wann eine Person in der russischen Politik erscheinen wird, die ein weniger stark personalisiertes Machtverständnis aufweist. Dazu hat sich der Prozess der Selbstreflexion, wie er noch für die Menschenrechtsbewegung der spätsowjetischen Zeit charakteristisch war, in Russland seit 1991 zu sehr abgenutzt. Es sollte zwar keineswegs unterschätzt werden, wie sehr sich in den großen Städten Russlands langsam eine ganze Generation vom System Putin distanziert – aber um zu einem politischen Faktor zu werden, braucht dieser jugendliche Protest eine Führungsfigur, der eine größere demokratische Qualität attestiert werden kann als Nawalny. Bis dahin aber ist Nawalnys Angriff auf die finanziellen Interessen der Führung des Landes hilfreich. Darauf kann ein demokratischer Gegner des kollektiven Putin in Zukunft aufbauen.

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Conclusio

Wladimir Putin sitzt fest im Sattel. Seine Machtbasis ist weniger die Verfassung als vielmehr seine Gefolgschaft, die er seit seiner Machtergreifung sorgfältig ­auf­gebaut und gepflegt hat. Allerdings: Unter diesen Gefolgsleuten ist es im letzten Jahrzehnt zu Machtverschiebungen gekommen, die als Reaktion auf Putins schwindende Legitimität in der Bevöl­kerung zu lesen sind. Die entscheidende ­Frage ist, wer von Putins Vertrauten sein Nachfolger werden könnte. Die Opposi­tion – darunter der inhaftierte Alexej ­Nawalny – hat jedenfalls zu wenig eigenständiges Profil entwickeln können, um ein ernst­haftes Gegengewicht zu werden. Ob Nawalny nach seiner Ent­haftung ein mehrheits­fähiges politisches Profil ent­wickeln kann, bleibt abzuwarten, ist aber fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass Putin 2024 neuerlich zur Wahl antreten wird.