Frau sein ganz ohne Lasten
In der Modemetropole Paris gockeln irritierend viele Burschen in Make-up, Mieder und Rock herum. Ist das nun „kulturelle Aneignung“?
Ich schreibe diese Zeilen kurz nach einem Besuch in Paris, wo zeitgleich die Fashion Week lief. In der Stadt wimmelte es nur so von Kamerateams, die in den nach wie vor atemberaubenden Kulissen des Palais Royal und an den angesagtesten Straßenecken die neuesten Kollektionen ablichteten. Massen von sorgfältig gestylten jungen Frauen bewegten sich wie auf dem Catwalk, stolzierten mit laszivem Blick durch die Straßen, als warteten sie nur darauf, auf den Laufsteg zu springen.
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Besonders auffällig aber waren die vielen jungen Männer, die wahlweise in langen wallenden Röcken, mit straffem Mieder, aufgetürmten Frisuren, schwarz umrandeten Augen oder signalrotem Kussmund die Frau mimten.
Eher überrascht nahm ich wahr, dass mich diese männlichen Weibswesen oder weiblichen Mannswesen allmählich zu nerven begannen. Unabhängig davon, welches Frauenbild sie transportieren, empfinde ich diesen leisen Widerwillen, eine Ablehnung, die mir sagen will: Diese Männer nehmen sich etwas heraus, was ihnen gar nicht zusteht: sich wie eine Frau zu benehmen, sich wie eine Frau zu bewegen, eine Frau zu sein.
Männer nehmen sich etwas heraus, was ihnen gar nicht zusteht.
Neugierig meinen Gedanken folgend frage ich mich: Ist das nun „kulturelle Aneignung“? Ist dieses Verhalten eine Spielart jenes Kampfbegriffes des Gender-Hypes, dem ich ohnehin kaum mehr folgen kann? Und wenn dem so wäre: Warum fühle ich mich dann betroffen? Hat es mit diesem Begriff, den ich intuitiv ablehne, also doch etwas auf sich?
Ich durchlaufe damit – und dessen bin ich mir sehr wohl bewusst – sämtliche Gefühlsstadien, mit denen jene argumentieren, die in nahezu allen Handlungen kulturelle Hegemonie wittern und dagegen auf die Barrikaden gehen. Ich spüre: Es kann tatsächlich übergriffig wirken, wenn andere die eigene Identität kopieren, in sie schlüpfen, sie selbst interpretieren. Man – in diesem Fall frau – fühlt sich angegriffen, ausgenommen – oder eben: auf ungebührliche Weise angeeignet.
Ich trage diese Gedanken mit mir, bis ich mich daran erinnere, dass auch meine Vorfahrinnen, denen ich so viele meiner heutigen Freiheiten zu verdanken habe, sich als Männer verkleidet hatten, um in die dem männlichen Geschlecht vorbehaltenen Sphären einzudringen und Bildung, Macht und Geld zu erlangen. Hatten auch sie „kulturelle Aneignung“ betrieben? War es der einzige Weg, um sich aus den Fesseln der vorgegebenen Geschlechterrollen zu lösen und ein freies, den eigenen Vorstellungen und Wünschen entsprechendes Leben zu führen?
Der kulturellen Aneignung auf der Spur
Ich muss also recherchieren und werde fündig: etwa beim deutschen Ethnologen Hans Peter Hahn – einem Mann! Seine Forschung zeigt auf, dass der Begriff der kulturellen Aneignung nicht nur den heute dominanten Gebrauch der Ausbeutung von Schwächeren, sondern vice versa auch das subversive Unterlaufen der Kultur von Mächtigen durch die Schwachen meint.
Historisch ist Letzteres sogar die frühere, zumindest innerhalb der ethnologischen Forschung dokumentierte und analysierte Form der kulturellen Aneignung. Beispielhaft werden die kulturellen Beziehungen auf den Missionsstationen in Südafrika im viktorianischen Zeitalter beschrieben, wo die lokale Bevölkerung die Kleidungsvorschriften ihrer Kolonialherren zwar befolgte, aber auch leicht abänderte, um ihre Abgrenzung zu signalisieren.
Mimesis wird von der Forschung denn auch als stärkste Form der kulturellen Aneignung beschrieben.
In dieselbe Richtung zielend, allerdings ungleich radikaler, war der Hauka-Kult der westafrikanischen Arbeiter, die ihre kolonialen Machthaber imitierten und dadurch – dies war zumindest die Interpretation der Kolonialherren – lächerlich machten, weshalb der Kult verboten wurde.
Mimesis, also die möglichst identische Nachahmung, wird von der Forschung denn auch als stärkste Form der kulturellen Aneignung beschrieben. Die Imitation habe zersetzende Wirkung, denn sie führe dazu, dass Distinktionsmerkmale der Mächtigen nicht nur an Eindeutigkeit verlieren, sondern in ihrem Gebrauch auch nicht mehr kontrollierbar seien.
Sich die Kultur anderer anzueignen kann also von der (zumindest aus der Perspektive der Handelnden) fröhlichen Leihgabe über die Entstellung und den Missbrauch bis zum Diebstahl und damit der Enteignung gehen.
Privilegien ohne Last
Das also ist mein Unbehagen mit den immer häufiger anzutreffenden jungen (und auch erwachsenen und älteren) Männern, die sich als Frauen inszenieren. Es hat offenbar seine Berechtigung – wobei es mir genauso wenig behagt, einen Sachverhalt auf der Basis einer Emotion zu rechtfertigen.
Produktiver mag die Frage sein, was diese Männer mit ihrer Travestie bezwecken. Haben sie einfach Spaß daran? Machen sie sich lustig? Oder wollen sie die Sphären der Frauen erobern, die ihnen bisher verwehrt sind? Und überhaupt: Welche Art Frau mimen sie? Die Frau, die sie sein wollen? Die Frau, die ihrem Ideal entspricht? Die Frau, als die sie sich gerade fühlen?
Es wäre ein Leichtes, hierauf mit dem US-Kulturtheoretiker Greg Tate zu antworten. Er stellte anhand des „blackfacing“ – einer Bühnenmaskerade, in der Weiße ihr Gesicht schwarz anmalen, um Schwarze zu „spielen“ – die These auf, die Weißen würden damit „alles außer der Last“, die damit verbunden ist, schwarz zu sein, übernehmen. Das trifft auch auf die Travestie der heutigen Männer zu.
Frau sein mit allen Rechte, ohne Pflichten
In Erinnerung an meine weiblichen Vorfahren aber kann ich auch ganz andere Schlüsse ziehen: Diese Männer möchten das Frau-Sein ausprobieren – natürlich ohne die damit verbundenen Lasten, vielleicht aber inklusive der Privilegien? Ich denke dabei etwa an die Option, in erster Linie schön zu sein und dieses äußere Kapital zu nutzen, um ein gutes Leben zu führen. Oder an die Möglichkeit, auf die Unwirtlichkeit einer beruflichen Herausforderung zu verzichten und sich stattdessen der Familie und dem Haus zu widmen.
Vielleicht deutet dieser Karneval ja auch die beginnende Emanzipation des Mannes an.
Dass ich damit meine Geschlechtsgenossinnen provoziere, ist mir sehr wohl bewusst. Umgekehrt aber beneiden wir unsere männlichen Compagnons selten bis nie um die gesellschaftliche Erwartung, die Rolle des Ernährers zu übernehmen. Vielleicht deutet dieser Karneval ja auch die beginnende Emanzipation der Männer an: die Befreiung von der ihnen vorgegebenen Rolle? Wenn dem so ist, kann auch ich der Fluidität der Geschlechterrollen etwas abgewinnen.