Europas neue Werte und Wertigkeiten
Nach Russlands Angriff auf die Ukraine muss sich das militärisch und ökonomisch machtlose Europa neu erfinden: Welche Werte künftig dennoch eine Rolle spielen.
Europa scheint aufgewacht zu sein. Denn auf einmal spricht es Klartext: Unsere Werte entsprechen unseren Interessen – und umgekehrt. Werteorientierung und Interessenpolitik schließen sich also nicht aus, im Gegenteil. Hören kann man derlei Aussagen nahezu auf jedem Podium, in dem es um den Krieg in der Ukraine und die Zukunft Europas geht; nachlesen kann man es im Vorwort der kürzlich erschienenen Sicherheitsstrategie der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock, in der sie eine „wertebasierte und interessengeleitete“ Außen- und Sicherheitspolitik verspricht.
Mehr Grenzgänge
Das ist neu. Jahrzehntelang nämlich wurde diese Differenz hochgehalten. Unter eingefleischten Europäern galt in etwa die folgende Unterscheidung: Auf der einen Seite gibt es die kalte, herzlose, allein von den eigenen Interessen geleitete und vom Machtstreben getriebene Realpolitik. Und auf der anderen jene Außenpolitik, welche die EU für sich in Anspruch nahm. Eine, die sich an ihren Werten orientiert, wie sie auch im Vertrag von Lissabon verankert sind: demokratische Gleichheit, repräsentative Demokratie, partizipative Demokratie, Menschenrechte und das Prinzip des Rechts vor der Macht.
Zeit für ein wehrhaftes Europa
Stets hatte die Europäische Union die Ambition, diese Ideale nicht nur in ihrer eigenen Politik zu verwirklichen, sondern sie auch in die Welt hinauszutragen; in der Überzeugung, dass Demokratie und Menschenrechte universelle Werte sind, die möglichst allen Menschen zugutekommen sollten. Bezüglich ihres missionarischen Eifers unterschied sich die Europäische Union im Grunde genommen kaum von den USA, wobei jedoch nur Letztere über die Mittel verfügten, dieser Ambition entsprechend selbstbewusst und bestimmt aufzutreten. Nur deshalb konnte die EU den USA eine Realpolitik unterstellen, von der sie sich distanzierte. Militärische Macht zur Unterstützung einer globalen Verankerung der Demokratie war den Europäern genauso suspekt wie die Realpolitik an sich.
Gleichsetzung von Werten und Interessen
Diese in Europa dominante sozialdemokratische, linksliberale Sicht auf die internationalen Beziehungen, die sich für den Frieden einsetzt und den Krieg verurteilt – wer tut das nicht? – wurde durch den Überfall Russlands auf die Ukraine jäh in Frage gestellt. Plötzlich stellt die Unfähigkeit, sich selbst zu verteidigen, eine handfeste Bedrohung dar.
Werte sind weniger einfach zu exportieren als Autos.
Die Abhängigkeit von russischem Gas und dem Handel mit China entpuppte sich als existenzielle Gefährdung. Europa musste sich eingestehen, dass Werte weniger einfach zu exportieren sind als Autos.
Die Gründe für die nun formulierte „werteorientierte Interessenpolitik“ liegen auf der Hand. Zum Ersten ist da die nicht zu verkennende Tatsache, dass der Krieg in Europa wieder eine Realität darstellt – allen Idealen zum Trotz. Zum Zweiten sind die Widersprüche bezüglich der deklarierten Werte, beispielsweise in der Migrationspolitik – eine offene Gesellschaft bedeutet nicht automatisch offene Grenzen –, nicht so einfach zu begründen. Zum Dritten präsentiert die ökonomische Abhängigkeit eine einfache Rechnung: eigene Energie, eigene Produktion, eigene Verteidigungskosten. Das ist teuer, und ein Verzicht auf Handel mit autoritären Staaten bedeutet schlicht und einfach einen Wohlstandsverlust. Und damit musste Europa auf die vielleicht schwierigste – und bisher nie offen gestellte – Frage eine Antwort finden: Ist Wohlstand ein Wert oder ein Interesse?
Die Gleichsetzung von Werten und Interessen war der einzige Ausweg aus dem Dilemma, entweder auf das eine oder das andere zu setzen. Denn Europa allein ist schlicht machtlos: ökonomisch wie militärisch.
Ein gesichtswahrender Rückzug
Dieses neue europäische „Narrativ“ – ein Begriff, den ich ungern verwende, weil er für das Primat der Geschichten vor der Geschichte steht – kann man als Kapitulation vor der eigenen Ohnmacht interpretieren. Es ist der Versuch, die eigene Position zu halten, sie aber dennoch der Realität anzupassen. Man kann aber auch schlicht von politischer Vernunft sprechen: einem gesichtswahrenden Rückzug.
Wie auch immer man diese Diskursverschiebung benennt: Bewertet wird sie als Zeichen des Versagens. Die europäische Politik gilt als gescheitert, ihr Liberalismus als imperialistisch und ihr Universalismus als „westlich“.
Wie abhängig ist Europa?
Nur: Ist es wirklich so einfach? Besteht nicht die Gefahr, dass wir hier das Kind mit dem Bade ausschütten?
Meines Erachtens machen es sich jene, die unsere Werte – ein aufgeklärtes, säkulares, liberales Europa – als „westlich“ bezeichnen, zu einfach. Sie haben insofern recht, als diese Werte ihren Ursprung in der europäischen Philosophie und Geschichte haben. So zumindest haben wir es immer vermittelt und dabei vielleicht großzügig übersehen, dass auch andere Kulturen ihre Wege fanden, um beispielsweise mit Diversität oder der Spannung zwischen Individuum und Kollektiv umzugehen.
Europas eigene und universelle Werte
Vor allem aber – und dieses Argument halte ich für entscheidend – kann das Streben nach Freiheit, Rechtsgleichheit und Demokratie, nach Mitbestimmung und politischer Teilhabe allein schon deshalb als universell angesehen werden, weil es ja mittlerweile überall auf der ganzen Welt sichtbar wird.
Wie sonst ist die Vielzahl von Protesten gegen autoritäre Regimes in Asien, in Afrika, in Südamerika zu verstehen? Warum sonst müssen Autokratien derart viel Energie und Kosten – in ihren Polizeistaat, ihre Überwachungstechnologien, ihre Privatarmeen zum Schutz der Mächtigen – investieren, wenn nicht „ihr Volk“ nach Freiheit streben würde? Und wieso wehrt sich ein Staat wie die Ukraine gegen seine Einverleibung in ein Imperium?
Europa ist weit weniger naiv, als ihm oft unterstellt wird.
All diese Ereignisse sind ein deutliches Zeichen dafür, dass die sogenannten westlichen Werte durchaus einen universellen Charakter haben.
Europa ist weit weniger naiv, als ihm oft unterstellt wird. Die Überzeugung, Werteorientierung und Interessenpolitik zu kombinieren, meint – zumindest derzeit – vor allem zweierlei: den der Realität geschuldeten Verzicht darauf, die eigenen Werte missionarisch nach außen zu tragen, aber umgekehrt den Willen und die Entschlossenheit, sie auf dem eigenen Kontinent zu verteidigen. Und genau darauf muss sich sein Augenmerk jetzt richten.