Wie viel Mut ist Pflicht?
Widerstand kann ein totalitäres Regime schwächen oder sogar zu Fall bringen. Aber dürfen wir die dafür nötige Risikobereitschaft von anderen Menschen einfordern?
Wie sollen – ja können – sich ein ukrainischer Intellektueller und eine russische Dissidentin zueinander verhalten? Hat sie ein Anrecht auf Anerkennung? Darf er auf Distanz gehen? Anders gefragt: Kann eine gemeinsame Haltung die Kluft zwischen den Nationalitäten überwinden?
Diese Frage stellte sich mir anlässlich einer Podiumsdiskussion sehr konkret. Ich sollte ein Gespräch moderieren zwischen Kostjantyn Sihow, einem ukrainischen Philosophen, und Anastasia Schewtschenko, einer russischen Aktivistin und der ersten Person, die auf der Grundlage des Gesetzes gegen die Mitgliedschaft an einer „nicht erwünschten Organisation“ verurteilt wurde; dazu ein tschechischer Politiker und ein amerikanischer Stratege. Wie immer hielt ich nicht nur Fragen und einen Ablauf bereit, sondern auch eine Sitzordnung, zur Erleichterung der Orientierung im Gespräch – für das Publikum und für mich.
Mehr Grenzgänge
Meine Bitte, sich neben die Russin zu setzen, kostete Sihow sichtliche Überwindung. Ich ging von der Überlegung aus, dass die beiden aus erster Hand berichten können – und eine russische Regimekritikerin und ein ukrainischer Bürger grundsätzlich auf derselben Seite stünden. Es bedurfte seitens Sihow denn auch nur eines Augenblickes der Reflexion, um seinen spontanen und sehr wohl nachvollziehbaren Widerwillen zu überwinden, da Schewtschenkos Nationalität für sein Urteil über sie ja kein Kriterium sein darf. Dass sie nicht nur unschuldig ist am Verhalten des Kremls, sondern sich dagegen sogar auflehnte – und dafür mit zweijährigem Hausarrest bezahlte und ihre kranke Tochter erst besuchen durfte, als diese schon im Sterben lag –, ist selbst aus seiner Sicht ehrenwert. Dennoch steht ihr Risiko zum unverschuldeten Leid seines Volkes in keinem Verhältnis. Und dass sie sich nach ihrer Strafe aus Russland absetzte und „nur“ noch von außen weiterkämpft, könnte in seinen Augen gar ein wenig mutlos erscheinen.
Nicht der „Apparat“ ist schuld
Was darf man von Menschen in einem totalitären Regime verlangen? Nach Antworten auf diese Frage suchten alle jene, die um Erklärungen für die Gräuel des Nazi-Regimes rangen, besonders intensiv Hannah Arendt, die den Prozess gegen den hohen NS-Funktionär und sogenannten „Architekten des Holocaust“, Adolf Eichmann, in Jerusalem dokumentierte.
Es ist nicht jedermanns Sache, ein Heiliger oder ein Held zu sein.
Dass sich der hohe Funktionär nicht auf seine Unschuld berufen konnte mit der Begründung, er sei lediglich ein „Rädchen im Getriebe“ gewesen, machten bereits die Richter klar. Eine Funktion in einem Regime zu übernehmen bedeutete, ihm seine Fähigkeiten und seinen Leistungswillen zur Verfügung zu stellen – in vollem Wissen darum, dass das, was man tut, unrecht ist, selbst wenn das Regime das Gegenteil behauptet. Am Ende ist es, das arbeitete die Philosophin in ihren Reflexionen über die „persönliche Verantwortung in der Diktatur“ heraus, immer der einzelne Mensch, der die Anweisungen ausführt – auch wenn er „nur“ Teil eines Apparats ist.
Auch den Versuch der Nazi-Schergen, ihre Verantwortung zu relativieren mit dem Hinweis auf diejenigen, die sich still in ihr Privatleben zurückzogen und sich damit „auf billige Weise“ der Verantwortung entzogen hätten, „es sei denn, sie hätten ihre private Stellung als Deckung für eine aktive Opposition genutzt“, ließ Arendt nicht gelten. Denn es sei nicht jedermanns Sache, „ein Heiliger oder ein Held zu sein“. Was diese Menschen vielmehr auszeichne, sei ihr eigenständiges Urteil über die Geschehnisse und ihre Rolle darin. Jene, die beschlossen, im Hitler-Regime nicht mitzumachen, seien die Einzigen, die es gewagt hätten, ihrer eigenen Überzeugung treu zu bleiben. Sie entschieden sich, so beschrieb es Hannah Arendt, nicht Teil einer Tötungsmaschine zu werden, weil sie nicht bereit waren, für den Rest ihres Lebens mit einem Mörder – sich selbst – zusammenzuleben.
Warum wir durchhalten müssen
Dem Mut, in einem totalitären Regime in Opposition zu gehen und damit seine Freiheit, sein Leben und dasjenige seiner Familie zu riskieren, gebührt somit höchste Anerkennung – besonders von jenen Menschen, die das Glück haben, dass ihr Leben von ihnen keine derartige Entscheidung verlangt. Relativiert werden kann dieser Mut nur vom eigentlichen Kriegsopfer, das vom Schicksal gezwungen wird, aus nicht selbst verschuldeten Umständen um sein Leben und sein Land zu kämpfen.
Sihow hatte also jedes Recht, Schewtschenko nicht einfach mit wehenden Fahnen zu begrüßen. Zu groß ist das Leid seines Volkes und das Verbrechen des anderen.
Dennoch: Ein Pauschalurteil kam auch für ihn nicht infrage. Im Gegenteil: Der Mut eines Churchill kann jeden Menschen erfassen, wenn es eine historische Situation erfordert.
Dass der britische Premierminister das Idol der Stunde ist, für den ukrainischen Philosophen ebenso wie für dessen Präsident und zahlreiche Ukrainerinnen und Ukrainer, überrascht wenig. Churchill ist jener Mann, der – allen anders lautenden Einschätzungen zum Trotz – an den Sieg über Hitler glaubte, der sein Land und andere Verbündete dazu brachte, über sich selbst hinauszuwachsen und sich dem Tyrannen entgegenzustellen.
In bestimmten Situationen kann der Mensch über sich selbst hinauswachsen.
Auch damit halten die Ukrainerinnen und Ukrainer eine Lektion für uns bereit: Sie erinnern uns daran, dass es der Entschlossenheit, vereinter Kräfte und eines unbedingten Durchhaltewillens bedurfte, um Hitler in die Knie zu zwingen.
Hannah Arendt schreibt in ihrer Analyse, dass ein totalitäres Regime nur von innen gestürzt werden könne – es sei denn, es würde in einem Krieg besiegt. Heute wissen wir noch nicht, was mit dem Regime in Russland geschehen wird.
Am Ende der Podiumsdiskussion jedenfalls reichte der Ukrainer Sihow der Russin Schewtschenko die Hand. Mehr noch: Die beiden fassten einander an den Armen. Das direkte Gespräch hatte es den beiden möglich gemacht, sich einen Schritt näher zu kommen. Sie wussten nun, dass sie auf dasselbe Ziel hinarbeiten.
Eine solche Erfahrung ist wichtig – auch im Hinblick auf den Zeitpunkt, an dem die Waffen ruhen werden. Noch aber herrscht Krieg, auch das machte Sihow unmissverständlich klar. Und sandte damit einen Wink mit dem Zaunpfahl an all jene im Westen, die bereits wortreich mit Strategien und Konzepten für das Danach um sich werfen. Sie – und das heißt: wir – sollten nicht darauf vergessen, die Ukraine zu unterstützen, bis der Tyrann im Kreml besiegt ist.