Machen Sie doch einmal Pause!
Die Muße ist seit der Industrialisierung in Verruf geraten. Aber wir brauchen sie, um der Welt und uns selbst wieder einen Sinn zu geben.
Gender, Woke, Autoritarismus, Krieg – die Nachrichten überschlagen sich, die Analysen dazu ebenfalls, und es scheint kein Ende in Sicht. Im Gegenteil, die Welt bewegt sich weiter, die Probleme werden nicht weniger und auch die Lösungsvorschläge nicht.
Selbst mir, die ich mich berufsmäßig mit der Welt und ihren Herausforderungen beschäftige, wird das manchmal zu viel – so zuletzt, als ich las, dass der deutsche, in Stanford lehrende Literaturwissenschaftler Adrian Daub erklärt, die Cancel Culture sei nur deshalb ein Problem, weil sie von den Medien aufgebauscht worden sei. Bei solchen Erklärungen gelange ich an die Grenzen meiner Aufnahmefähigkeit, vor allem aber auch meiner Aufnahmewilligkeit – und ich weiß: Ich brauche eine Pause. Eine Denkpause.
Denkpausen gibt es in zweierlei Hinsicht: die Pause vom Denken und die Pause zum Denken. Ersteres kannten die alten, aber in solch grundlegenden Dingen immer wieder bewährten Griechen. Sie nannten den Zustand der vollkommenen Zweckfreiheit scholē – Muße. Sie war es, die ihnen durch das schlichte Nichtstun den Geist öffnete und ihnen die Möglichkeit gab, auf die Welt, ihr Leben und auch sich selbst zu blicken. Diese Liebe zur Weisheit nannten sie philosophía, und für Platon war die Muße gar die Voraussetzung für das Philosophieren.
„Wandel, das mögen wir nicht“
Ein wichtiger Aspekt dieser Muße war auch die Selbsterkenntnis – als eigentlicher Schlüssel zur Freiheit, zur Selbstbestimmung, zur Entscheidung darüber, was für ein Leben man führen will. Auch in diesem Sinne galt die Muße, vor allem für Aristoteles, als die höherwertige Lebensform gegenüber der Erwerbsarbeit. Da sich der Mensch durch seine Sprache und seine Fähigkeiten zum Denken auszeichnet und in der Natur jedes Wesen seinem eigentlichen Zweck und also seiner Vollendung entgegenstrebt, sei der philosophierende Mensch das vollkommene Wesen überhaupt.
Müßiggang ist aller Laster Anfang
Nun sind derartige Pausen vom Denken auch eine Frage der Zeit und Möglichkeit. Die Notwendigkeit der Erwerbsarbeit war und ist für viele gegeben. Die antike Verachtung für selbige lässt sich mit der damaligen Sozialstruktur erklären: Die Muße war selbstredend der Elite der freien Bürger vorbehalten. Ebenso verhielt es sich mit der Politik: Politik, verstanden als der Austausch und das Verhandeln in einer pólis (= Stadt, Staat) als Voraussetzung für gemeinsame Entscheide, war ebenfalls alleinige Sache der freien Bürger.
Anhäufen, bis der Geist überquillt und uns irgendwann der Kragen platzt.
Diese Wertschätzung der Muße änderte sich schlagartig mit der einsetzenden Industrialisierung und dem Aufkommen des Bürgertums. Das neuzeitliche Arbeitsethos betrachtete das Nichtstun als Privileg des Erbadels und wertete es zum Müßiggang ab – und der ist bekanntlich aller Laster Anfang. Faulenzen galt als Unart und Provokation. Pausen waren also nicht mehr angesagt: nicht vom Arbeiten und auch nicht vom Denken, weil Denken im Zeitalter des Fortschritts ja Arbeiten war.
Ähnlich verhält es sich heute in unserer Wissensgesellschaft. Pausenlos sind wir damit beschäftigt, Informationen entgegenzunehmen; mit dem Verarbeiten wird es schon schwierig. Nachrichten und Kommentare, Bilder und Videos über das tägliche Geschehen auf der Welt häufen wir einfach an – bis der Geist überquillt und uns irgendwann der Kragen platzt.
Dabei wären Denkpausen – und zwar sowohl im antiken wie im neuzeitlichen Sinne – von größter Notwendigkeit. Die neurobiologische Forschung hat längst bewiesen, worin der Wert von Pausen liegt. Nach zu viel geistiger Tätigkeit – dem gedanklichen Verfolgen von Zielen, der Kontrolle unserer Emotionen, dem ständigen Fällen von kleinen und großen Entscheidungen – ist der Mensch erschöpft.
Diesem Zustand der „Ego-Depletion“ oder Selbsterschöpfung können wir nur durch spürbare Produktivitätsunterbrüche entkommen. Ob Meditation, Nichtstun oder Schlaf: Sie sind für unser Gehirn ein fundamental wichtiger Vorgang, weil sie unser Arbeitsgedächtnis leeren und damit die Voraussetzung dafür schaffen, dass wir uns wieder neuen Eindrücken und zielgerichteten Aufgaben widmen können.
Zweckfrei, aber nicht sinnlos
Hannah Arendt (1906–1975) schlug aber noch einen weit wichtigeren Sinn von Denkpausen vor – einen, den wir gerade in der jetzigen Zeit beherzigen sollten. Die antike Vorstellung des Menschen vor Augen, wonach dessen Fähigkeit zum Denken die Voraussetzung für eine eigenständige, selbstbestimmte politische Organisation ist, bedauerte sie die vollkommene Vereinnahmung des Lebens durch Arbeit und Konsum (wobei für die Überlegungen in diesem Beitrag der Fokus auf Medienkonsum völlig ausreichend ist). Statt zu denken, zu sprechen und darauf basierend politisch zu handeln, würden die Menschen nur noch ihr Tagwerk verrichten und konsumieren.
Was Arendt forderte, waren demnach Pausen zum Denken: durch Abstandnehmen, ja Heraustreten aus dem vollgepackten Alltag und der routinierten Verrichtung der täglichen Arbeiten, um sich buchstäblich zu vergegenwärtigen, in welcher Welt man lebt, welche Stellung man dort einnehmen will und was dies vom Einzelnen und seinem politischen Verbund erfordert. Diese Form des zielgerichteten Denkens schien nach ihrer Sicht abhanden zukommen – mit fatalen Folgen.
Die Angst vor Veränderung
Mit ihrer Prognose lag sie nicht falsch. Die Verirrungen der Cancel Culture hatte ich bereits angesprochen. Betrachten wir, um ein anderes Beispiel zu nennen, etwa die russische Propaganda und ihre Wirkung, die sie selbst in unseren aufgeklärten, gebildeten und wohlhabenden Gesellschaften entfaltet hat: Anfang Juni überflutete das Wasser des Kachowka-Staudamms den Süden der Ukraine.
Seit Jahren schon überschwemmt der Kreml sein Land und andere mit Propaganda. Er erstickt damit das Denken von Millionen von Menschen – mit beängstigendem Erfolg. Wie anders wäre es möglich, dass es immer noch Leute gibt, die ernsthaft auch nur den Gedanken haben können, dass sich die Ukrainer in ihrer tapferen Entschlossenheit selbst einen solchen Schaden zufügen würden?
Denkpausen sind wertvoll. Jene vom Denken sind zweckfrei, jene zum Denken zweckgerichtet. Beide aber sind sinnvoll. Sie schaffen die Voraussetzung dafür, der Welt und sich selbst darin wieder einen Sinn und eine Bedeutung zu geben, die der Realität angemessen sind.
Ich wünsche Ihnen eine geruhsame sommerliche Denkpause! Ich bin gespannt, was sich in meinem Kopf entspinnt – und Sie dürfen es auch sein.